Kapitel 26 - Trost auf vier Pfoten
Kapitel 26 – Trost auf vier Pfoten
Irgendwann wurde ich unruhig. Zu langes Liegen laugte noch mehr aus, mein Körper verlangte nach Bewegung. So entschied ich mich zu einem abendlichen Spaziergang und verbat mir jeglichen Protest seitens meiner Mitbewohnerin, so gut sie es auch meinte. Ich verließ das Haus und lief zuerst ziellos die einsamen Straßen der Insel entlang, bis ich an den Friedhof der Kirche kam, der mich wie magisch anzog. Hier hatte ich Adam vor einiger Zeit nach der Trennung wieder getroffen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen …
... so konnte ich ungestört meinen Kummer beweinen.
Doch irgendwann begann ich zu frieren, kehrte dem Friedhof den Rücken und kam auf dem Rückweg an der kleinen Taverne vorbei. Sie war noch geöffnet war, aber es wurden bereits die Stühle reingeholt. Auch hier war ich noch vor kurzem mit Adam gewesen. Eigentlich war ich überall mit ihm gewesen, es gab auf der Insel fast keinen Platz ohne Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit.
Kein fröhliches Karaoke tönte mehr durch die Räumlichkeiten. Überall herrschte, bis auf ein bisschen Tellerklappern und leise Unterhaltungen des Personals, nur noch Stille und gähnende Leere.
Als mir im Toilettenbereich vor Müdigkeit schwindelte, wurde mir klar, dass ich wieder ins Bett gehörte. Noch war alles einfach nur zuviel. Ich hoffte auf einen traumlosen Schlaf und bekam ihn auch, der frischen Luft zuvor sei Dank.
Doch am nächsten Morgen fühlte ich mich noch immer nicht richtig ausgeschlafen und war sehr blass, was auch Jessica gleich auffiel.
"Naike, soll ich Dr. Blythe holen?", fragte sie sichtlich beunruhigt, doch ich selbst hatte kein Interesse an mir.
"Nein. Hast du was von Adam gehört? Ich traue mich nicht, im Krankenhaus anzurufen", fragte ich stattdessen mit von Angst umklammertem Herzen.
"Sein Zustand ist unverändert", berichtete mir meine Freundin, was mir ein wenig Anspannung nahm. "Willst du heute zu ihm?"
"Ja, Joe nimmt mich nachher wieder mit. Du, ich habe eine Bitte an dich. Schau für mich in die Karten, ja?" Jessica schüttelte den Kopf.
"Nein, Süße, das wäre nicht gut. Ich lege nie auf Leben oder Tod, und du machst das auch nicht, wie du mir noch vor kurzem erzählt hast." Mit diesen Worten ging sie ins Arbeitszimmer, doch ich war mit dieser Antwort gar nicht einverstanden und lief ihr hinterher.
"Ja schon. Normalerweise. Aber bitte mach mal eine Ausnahme, ich
muss es wissen!", versuchte ich meine Kollegin zu überzeugen. Aber Jess blieb hart.
"Nein und nochmals nein, Nai, das will ich nicht. Bin außerdem müde und muss noch ein bisschen an meinem Roman schreiben, bitte lass mich jetzt allein. Ich habe dir übrigens ein Chili in die Küche gestellt."
"Ich will nichts essen! Nie wieder!", rief ich aufgebracht, obwohl mir klar war, dass ich genau das nötig hatte. "Lieber verhungere ich, als dass ich weiter hier lebe!" Jessi taxierte mich mit sorgenvollem Blick.
"So kann das nicht weitergehen, meine Liebe. Wir müssen dir Hilfe holen." Ich winkte ab und trollte mich aufs Sofa.
Aber ich verstand selbst, dass es so nicht weitergehen konnte, fühlte mich jedoch nicht in der Lage, mich um mein Wohlergehen zu kümmern.
Eine Stunde später kam Besuch. "Naike, schau mal wer hier ist!", rief Jessica aufmunternd. Aber wieder brauchte ich nicht mehr als bloß ein mageres, abwesendes Hallo vom Sofa zustande, obwohl ich mich sonst immer freute, sie zu treffen. Jessica zog Voodoo Mom beiseite und meinte offenbar damit verhindern zu können, dass ich zuhörte, was sie ihr zu sagen hatte.
"Da siehst du es, so kann es doch nicht weitergehen! Ich verstehe ja ihren Kummer. So wenig ich den Typ leiden konnte, aber es ist einfach schrecklich, was passiert ist. Aber sie richtet sich doch selbst zugrunde, wenn sie so weitermacht. Bitte sprich du mit ihr, auf dich hat sie doch bisher gehört!", bat sie ihre Freundin hoffnungsvoll, was mich doch sehr rührte.
"Natürlich, ich werde es versuchen", versprach Voodoo Mom.
Sie setzte sich prompt zu mir aufs Sofa und fragte in ihrer typisch direkten Art: "Magst du dich aussprechen?"
"Lieb von dir, aber ich habe nichts zu sagen", antwortete ich ohne jede Motivation und ließ die Schultern hängen.
"Schau mal, Kleines, du hilfst doch Adam nicht damit, wenn du dich so hängen lässt. Du bist ja kaum in der Lage, ihn zu besuchen. Wäre es nicht sinnvoller, dich aufzuraffen und ihm mit ganzer Kraft zur Seite zu stehen? Ich bin sicher, er würde das wollen." Ich sah sie an und dachte nach, doch mich beschäftigte etwas ganz anderes.
"Du? Ich habe ihm mal heimlich ein Haar ausgerupft. Hatte gedacht, ich könnte es vielleicht eines Tages noch brauchen. Kann man damit etwas erreichen?"
Voodoo Mom blickte mich überrascht an und zog dann die Brauen kraus. "Meinst du etwa auf magische Weise?"
"Natürlich, was sonst."
"Nein, Liebes, für so etwas ist das nicht zu gebrauchen. Binden wird in diesem Fall nichts nützen, vergiss das ganz schnell wieder. Sei lieber für ihn da, ganz normal wie jede andere Frau auch für ihren Liebsten da ist, wenn er in irgendeine Not geraten ist. Manchmal geschieht dann ein Wunder und alles wendet sich zum Guten", seufzte die erfahrene Hexe. Ich sank wieder in mir zusammen.
Auch mit Julia ging es weiterhin bergab, sie aß ebenfalls kaum etwas von dem, was Joe ihr kochte, obwohl er es wirklich gut konnte und ihr nur vom Feinsten servierte. Niemand hatte ihr gesagt, dass man ihre Tante Nastassja in eine psychiatrische Klinik eingeliefert hatte, nachdem man sie nach langem Suchen völlig verwirrt am Strand gefunden hatte. Julia hätte das auch nicht verstanden, deshalb war die Unfall-Version im Moment besser für sie gewesen. Allerdings glaubte sie nun, die Schwester ihres Vaters sei verreist, was ihr sehr unlogisch vorkam, wo es ihrem Papa doch so schlecht ging. Joe bekam nun also handfeste Probleme mit seiner Nichte und ihre Mutter war – ihm unerklärlich – noch immer nicht erreichbar gewesen.
Deshalb bat er Jessica um Hilfe. "Die Situation gleitet uns aus den Händen."
"Ja, Joe, wir müssen uns etwas ausdenken. Ich hätte da auch schon eine Idee: Was hältst du davon, wenn du mit Julia bei uns in die Simlane 10 ziehst, wenigstens vorübergehend? Naike und Julia können sich vielleicht gegenseitig ein bisschen aufbauen, und ich kann anstelle des Kindermädchens auf sie aufpassen, wenn du bei der Arbeit bist. Das wäre doch ideal!"
Joseph Tallis war sofort Feuer und Flamme für dieses großzügige Angebot und nahm es ohne Umschweife an. Jessica nickte ihm erfreut zu.
"Na, dann packt eure Sachen", forderte sie ihren zukünftigen neuen Mitbewohner auf, und ging dann nach oben zu Julia, um ihr von dem Beschluss zu berichten. An Naike Einverständnis hatte sie natürlich bei der ganzen Sache bisher nicht gedacht.
Auch Julchen war deutlich blasser um die Nase als sonst. "Na du, wie geht es dir?", erkundigte sich Jessica.
"Ich wäre lieber tot“, antwortete Adams kleine Tochter und Jessica hielt den Atem an, ließ sich aber so gut wie möglich nichts von ihrem Schrecken anmerken.
"Julia, so etwas darfst du nicht sagen", versuchte sie zu trösten, "denk an deine Mama und Onkel Joe, sie würden dich schrecklich vermissen, wenn du nicht mehr bei ihnen wärst."
"Mama ist doch eh weg, sie hat mich bestimmt nicht mehr lieb. Der Papa hat mich lieb, das hat er gesagt, aber der ist jetzt krank und wird vielleicht nie wieder gesund", schluchzte sie plötzlich los.
Jessica fühlte sich völlig hilflos. "Hab Vertrauen. Bitte! Deine Mama hat dich ganz sicher schrecklich lieb. Dass wir sie gerade nicht erreichen können, hat bloß eine technische Ursache, sicher ist ihr Telefon kaputt. Onkel Joe hat dich auch sehr lieb, er würde dich nicht im Stich lassen, egal was passiert. Und Naike und ich sind auch für dich da. Es wird alles wieder gut, ja? Deine Mama wird sich ganz bestimmt bald melden."
Jessicas Stimme zitterte leicht, und sie hoffte, dass es Julia nicht bemerkt hatte. Die Kleine tat ihr unendlich leid.
In der Nacht fand Joe seine kleine Nichte weinend neben Adams leerem Bett vor. "Komm mit, Engelchen, ich bringe dich wieder ins Bett. Papa ist nicht hier, er ist doch im Krankenhaus."
Julia wirkte völlig abwesend und ließ sich schlaff in ihres Onkels starke Arme fallen. Joseph dachte noch einmal über das Einzugsangebot von Jessica nach. Es würde alles erleichtern. Vielleicht ein bisschen eng werden, aber alleine konnte er Julia in ihrer Lage nicht weiter gerecht werden. Eigentlich war die Idee also sehr gut. Wenn da nicht Naike gewesen wäre ...
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"Meinen Sie, das wird was bringen, Doc?", fragte Jessica zurück in der Simlane 10 zweifelnd.
"Ich denke ja, so etwas hilft oft besser als Antidepressiva. Die lehnt sie ja eh ab, obwohl ich ihr verschiedene Sorten verschrieben habe. Jessica nickte, denn sie hatte jüngst sämtlich Packungen davon unbenutzt im Müll gefunden.
"Hast du ihn denn dabei, Quacksalber?", fragte Voodoo Mom frech.
"Mensch, nenn mich nicht immer so, alte Voodoo-Tante!", lachte Gilbert Blythe, und Jessica wunderte sich, dass die beiden sich duzten. "Ich hab ihn im Auto und gehe ihn jetzt holen. Kommen Sie, Jessica!"
Zügigen Schrittes verließ er das Haus, ging zu seinem Auto ....
... und übergab Jessica ein kleines Bündel, das ihr einen entzückten Schrei entlockte. Behutsam stapfte sie damit durch den Sand zu Naike.
*
"Hey, Jessi. Weißt du was? Ich dachte mir gerade, es wäre schön, ein Aquarium zu besitzen. Das wäre irre entspannend. Man wird immer so schön duselig, wenn man zu lange vor die Scheiben guckt."
Jessica lächelte. "Keine schlechte Idee. Aber um duselig zu werden kannst du dir auch gleich 'ne Tüte anstecken."
"Würde ich ja gerne, aber ich kann keinen Rauch inhalieren, das kratzt so ekelhaft."
"Du, ich glaube, der Doc hat da eine bessere Idee als ein Aquarium oder Tüten. Schau mal, wen ich hier habe!"
Überrascht starrte ich auf den kleinen weißen Welpen, der sein Näschen aus einer Lücke in dem Stofftuch steckte, in das er eingewickelt war.
"O Mann, der ist ja ... och, ist der süß!" Ich sprang mit einem Satz auf, ignorierte diesmal den dabei aufkommenden leichten Schwindel und ließ mir den Kleinen in meine Arme legen. Ungläubig sah ich immer wieder zwischen dem Babyhund und Jessica hin und her. Sie lächelte voller Wärme mit Voodoo Mum um die Wette, die just zu uns gestoßen war.
"Und, Voodoo-Tante, alles gut?", hörte ich Dr. Blythe hinter uns feixen.
"Alles klar, Doc, sie ist eindeutig begeistert", entgegnete Frau Jones, und damit hatte sie absolut recht.
"Ist er nicht wundervoll?"
"Ja, das ist er. Magst du ihm einen Namen geben?"
Ich grinste. "Hat er schon. Er heißt Shakespeare."
"Shakespeare?“, lachte Gilbert. "Das ist aber ein großer Name für so einen kleinen Hund."
"Na, er wächst doch noch! War das Ihre Idee, Doc?" Er nickte verlegen.
"Sie sind wunderbar, vielen vielen Dank!"
Ein paar Minuten später stellte ich den von Dr. Blythe ebenfalls mitgebrachten Napf im Haus auf und füllte ihn mit Hundefutter allerbester Qualität. Und dann geschah ein kleines Wunder: Als der Kleine zu fressen begann, breitete sich auch bei mir zum ersten Mal seit Tagen ein Hungergefühl im Magen aus. Ich kochte mir eine Schüssel heiße Haferflockensuppe, und sie schmeckte mir sogar wieder richtig gut.
Am nächsten Morgen klingelte Joseph schon vor sieben Uhr an der Tür der Simlane 10 und wurde von der gerade erst erwachten Jessica empfangen.
"Guten Morgen, Joe! Mensch, bist du früh. Ihr wolltet doch erst heute Nachmittag einziehen. Ich bin ja noch im Hemd!", schämte sie sich ein bisschen. "Naike ist aber wohl schon wach, ich habe Geräusche aus ihrem Zimmer gehört.
Sie wollte sich umdrehen, doch Joseph griff sanft nach ihrem Arm und hielt sie zurück. Für einen Moment sah er zu Boden, ließ sie wieder los. Dann blickte er sie mit verquollenen, verstört wirkenden Augen an.
"Was ist? Was guckst du so komisch? Du machst mir Angst!", bemerkte Jessica erst jetzt seinen besorgniserregenden Zustand.
Seine Augen füllten sich mit frischen Tränen. "Jessica ... Adam ist tot."