Millefiori
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Kapitel 034 – Das Ding auf dem Boden
„Spürst du es?“ Nadine drückte meine Hand aufgeregt an ihren runden Babybauch. „Spürst du seine Tritte?“ Sie strahlte übers ganze Gesicht und da spürte ich es. Einen sanften Stoss gegen meine Handfläche.
„Ja!“
Nadine jauchzte freudig auf und streckte ihren Bauch Jana hin, damit sie ihr Ohr daran halten und lauschen konnte.
„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was für ein tolles Gefühl das ist, zu wissen, dass da etwas heranwächst. In mir drinnen!“, schwärmte Nadine und sah dabei sehr stolz aus.
„Wie schön, sie so glücklich zu sehen, nicht wahr?“, bemerkte Jana, als ich mit ihr in den oberen Stock ging. Ich nickte. Nadine war gar nicht wiederzuerkennen. Dieses Häufchen Elend, das ich damals im Krankenhaus vor dem Aufzug getröstet hatte, war das genaue Gegenteil von dieser voller Lebenslust und Freude strotzenden Person.
„Sie ist wieder ganz die alte Nadine. So, wie ich sie in der Schule kennengelernt habe und wie sie bis auf die letzten paar Wochen stets war“, erzählte Jana lächelnd. Man sah ihr an, wie sehr sie sich für ihre Mitbewohnerin freute. Ich hoffte, dass Nadine ihr Glück behalten würde. Ich würde es ihr so sehr gönnen.
Jana und ich traten in den Raum, in dem auch die letzte Yogastunde stattgefunden hatte.
Wir rollten zwei Matten auf dem Boden aus und nahmen Platz.
„Bereit?“, fragte Jana.
Ja, ich war bereit. Ich war bereit dazu, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Ich war bereit, zu erfahren, wer ich wirklich war. Ich war so bereit, wie man eben bereit sein kann, für etwas, von dem man gar nicht weiss, was es mit sich bringen wird.
„Ich hoffe, ich kann dir helfen“, sagte Jana und begann mich zu instruieren.
Tief einatmen, langsam ausatmen. Pause. Tief einatmen, langsam ausatmen. Pause.
Diesmal dauerte es nicht lange, bis es mir gelang, abzutauchen. Alles um mich herum zu vergessen und mich auf die Reise in mein Inneres zu begeben.
Wie Wolken schwebten sie an mir vorbei. Verschwommene Bilder, Gerüche und Geräusche. Sie tanzten um mich herum, kamen nahe und entfernten sich wieder. Sie waren alle da und doch nicht da. Immer, wenn ich nach einem von ihnen greifen wollte, ihn aus dem unüberschaubaren Gemisch absondern wollte, um ihn einzeln wahrzunehmen, entwischte er mir wieder.
Da war ein Schattenumriss. Er verschwand, als wäre es ein Geist gewesen. Das Ticken der Kuckucksuhr. Nur ganz kurz und leise, es hätte auch mein Herzschlag sein können. Ein bitterer Geschmack auf meiner Zunge. Oder war er scharf? Ein unverständliches Gemurmel. Ein eckiger Gegenstand. Freude. Ein kalter Hauch. Ein Licht. Ein Kitzeln in meiner Nase. Wut. Wärme. Nicht viel mehr, als die Ahnung einer Berührung an meiner Schulter. Der Umriss eines Hauses. Ein süsser Duft, der sich gleich wieder verflüchtigte.
Eine Melodie. Ich riss meine Augen auf. Jana erschien vor mir. Diese Melodie! Es war diejenige aus meinem Traum. Ich begann sie vor mich hinzusummen, um sie nicht wieder zu verlieren.
„Kennst du diese Melodie?“, fragte ich Jana.
„Nein. Was ist mit ihr?“
„Ich spielte sie auf einem weissen Flügel in einem Zimmer mit marmornen Wänden.“
„Du meinst vor dem Unfall?“
Ich nickte.
„Krass! Dann warst du wohl ganz schön reich..“
„Das weiss ich nicht.“
„Natürlich, tut mir leid.“ Sie dachte einen Moment nach, dann erhob sie sich ruckartig und bedeutete mir, ebenfalls aufzustehen. „Ich kann dir zwar keinen weissen Flügel bieten, aber mein Klavier müsste es auch tun.“
Sie zog mich in ihr Zimmer und deutete auf ein Keyboard.
Ich schaute sie etwas verunsichert an.
„Naja ich dachte, vielleicht hilft es, wenn du dieses Lied spielst“, erklärte sie.
Ich zögerte. Konnte ich das?
Jana sprach mir Mut zu und so setzte ich mich schliesslich vor die Tastatur. Meine Hände zitterten, als ich sie auf die Tasten legte.
Noch einmal schaute ich zu Jana. Sie nickte mir aufmunternd zu. Ich hatte keine Ahnung, wie ich beginnen sollte und so atmete ich tief durch und schloss meine Augen. Ich stellte mir vor, wieder in dem Raum zu sein. Die marmornen Wände, die blauen Vorhänge, der Parkettboden, der weisse Flügel und ich begann zu spielen.
Diese schöne, traurige Melodie.
Ich schaute bewundernd auf meine Hände, wie sie sich so selbstverständlich über die Tasten bewegten, als ich plötzlich das Blut sah, das an ihnen klebte. Dunkelrot tropfte es davon herunter. Die weissen und schwarzen Tasten waren schon davon besudelt.
Ich unterdrückte einen Schrei und sprang auf meine Füsse. Fassungslos betrachtete ich meine Hände. Da war keine Wunde. Aber wenn das Blut nicht meines war, wessen war es dann?
Panisch schaute ich mich um und da sah ich ihn. Der leblose Körper lag zu meinen Füssen. Auf seinem weissen Hemd ein roter Blutfleck. Genau da, wo sich das Herz befindet. Ich fiel auf meine Knie und tastete nach seinem Puls. Da war keiner mehr. Er war tot.
Jemand klatschte in die Hände und ich kehrte langsam zurück in Janas Zimmer. Chris lehnte im Türrahmen.
„Bravo, wunderschön gespielt!“, lobte er.
Ich schenkte ihm ein gekünsteltes Lächeln, während ich innerlich kurz vor dem Zusammenbruch stand. Da war ein Toter in meiner Vergangenheit! Wer war er gewesen? Was war mit ihm passiert? Und was hatte sein Blut an meinen Händen zu suchen gehabt?
„Es ist von dieser französischen Komponistin, nicht wahr?“, fragte Chris.
„Ja. Cheyenne Chevalier“, antwortete ich automatisch. Cheyenne Chevalier. Ich erinnerte mich. „Sie ist meine Lieblingskomponistin.“
Jana starrte mich mit grossen Augen an und fragte: „Erinnerst du dich daran?“
„Scheint so“, antwortete ich völlig perplex.
„Erinnerst du dich noch an mehr?“
„Nein.“ Ich konnte ihnen nichts von dem Toten erzählen. Nicht ihnen, nicht Nadine, nicht Linh und noch nicht einmal Diego, wenn er mir zuhören würde. Ich konnte einfach nicht.
„Aber das ist doch schon 'mal ein Fortschritt!“ Jana klopfte mir auf die Schulter. „Du wirst sehen, bald weisst du wieder alles.“
„Spürst du es?“ Nadine drückte meine Hand aufgeregt an ihren runden Babybauch. „Spürst du seine Tritte?“ Sie strahlte übers ganze Gesicht und da spürte ich es. Einen sanften Stoss gegen meine Handfläche.
„Ja!“
Nadine jauchzte freudig auf und streckte ihren Bauch Jana hin, damit sie ihr Ohr daran halten und lauschen konnte.
„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was für ein tolles Gefühl das ist, zu wissen, dass da etwas heranwächst. In mir drinnen!“, schwärmte Nadine und sah dabei sehr stolz aus.
„Wie schön, sie so glücklich zu sehen, nicht wahr?“, bemerkte Jana, als ich mit ihr in den oberen Stock ging. Ich nickte. Nadine war gar nicht wiederzuerkennen. Dieses Häufchen Elend, das ich damals im Krankenhaus vor dem Aufzug getröstet hatte, war das genaue Gegenteil von dieser voller Lebenslust und Freude strotzenden Person.
„Sie ist wieder ganz die alte Nadine. So, wie ich sie in der Schule kennengelernt habe und wie sie bis auf die letzten paar Wochen stets war“, erzählte Jana lächelnd. Man sah ihr an, wie sehr sie sich für ihre Mitbewohnerin freute. Ich hoffte, dass Nadine ihr Glück behalten würde. Ich würde es ihr so sehr gönnen.
Jana und ich traten in den Raum, in dem auch die letzte Yogastunde stattgefunden hatte.
Wir rollten zwei Matten auf dem Boden aus und nahmen Platz.
„Bereit?“, fragte Jana.
Ja, ich war bereit. Ich war bereit dazu, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Ich war bereit, zu erfahren, wer ich wirklich war. Ich war so bereit, wie man eben bereit sein kann, für etwas, von dem man gar nicht weiss, was es mit sich bringen wird.
„Ich hoffe, ich kann dir helfen“, sagte Jana und begann mich zu instruieren.
Tief einatmen, langsam ausatmen. Pause. Tief einatmen, langsam ausatmen. Pause.
Diesmal dauerte es nicht lange, bis es mir gelang, abzutauchen. Alles um mich herum zu vergessen und mich auf die Reise in mein Inneres zu begeben.
Wie Wolken schwebten sie an mir vorbei. Verschwommene Bilder, Gerüche und Geräusche. Sie tanzten um mich herum, kamen nahe und entfernten sich wieder. Sie waren alle da und doch nicht da. Immer, wenn ich nach einem von ihnen greifen wollte, ihn aus dem unüberschaubaren Gemisch absondern wollte, um ihn einzeln wahrzunehmen, entwischte er mir wieder.
Da war ein Schattenumriss. Er verschwand, als wäre es ein Geist gewesen. Das Ticken der Kuckucksuhr. Nur ganz kurz und leise, es hätte auch mein Herzschlag sein können. Ein bitterer Geschmack auf meiner Zunge. Oder war er scharf? Ein unverständliches Gemurmel. Ein eckiger Gegenstand. Freude. Ein kalter Hauch. Ein Licht. Ein Kitzeln in meiner Nase. Wut. Wärme. Nicht viel mehr, als die Ahnung einer Berührung an meiner Schulter. Der Umriss eines Hauses. Ein süsser Duft, der sich gleich wieder verflüchtigte.
Eine Melodie. Ich riss meine Augen auf. Jana erschien vor mir. Diese Melodie! Es war diejenige aus meinem Traum. Ich begann sie vor mich hinzusummen, um sie nicht wieder zu verlieren.
„Kennst du diese Melodie?“, fragte ich Jana.
„Nein. Was ist mit ihr?“
„Ich spielte sie auf einem weissen Flügel in einem Zimmer mit marmornen Wänden.“
„Du meinst vor dem Unfall?“
Ich nickte.
„Krass! Dann warst du wohl ganz schön reich..“
„Das weiss ich nicht.“
„Natürlich, tut mir leid.“ Sie dachte einen Moment nach, dann erhob sie sich ruckartig und bedeutete mir, ebenfalls aufzustehen. „Ich kann dir zwar keinen weissen Flügel bieten, aber mein Klavier müsste es auch tun.“
Sie zog mich in ihr Zimmer und deutete auf ein Keyboard.
Ich schaute sie etwas verunsichert an.
„Naja ich dachte, vielleicht hilft es, wenn du dieses Lied spielst“, erklärte sie.
Ich zögerte. Konnte ich das?
Jana sprach mir Mut zu und so setzte ich mich schliesslich vor die Tastatur. Meine Hände zitterten, als ich sie auf die Tasten legte.
Noch einmal schaute ich zu Jana. Sie nickte mir aufmunternd zu. Ich hatte keine Ahnung, wie ich beginnen sollte und so atmete ich tief durch und schloss meine Augen. Ich stellte mir vor, wieder in dem Raum zu sein. Die marmornen Wände, die blauen Vorhänge, der Parkettboden, der weisse Flügel und ich begann zu spielen.
Diese schöne, traurige Melodie.
Ich schaute bewundernd auf meine Hände, wie sie sich so selbstverständlich über die Tasten bewegten, als ich plötzlich das Blut sah, das an ihnen klebte. Dunkelrot tropfte es davon herunter. Die weissen und schwarzen Tasten waren schon davon besudelt.
Ich unterdrückte einen Schrei und sprang auf meine Füsse. Fassungslos betrachtete ich meine Hände. Da war keine Wunde. Aber wenn das Blut nicht meines war, wessen war es dann?
Panisch schaute ich mich um und da sah ich ihn. Der leblose Körper lag zu meinen Füssen. Auf seinem weissen Hemd ein roter Blutfleck. Genau da, wo sich das Herz befindet. Ich fiel auf meine Knie und tastete nach seinem Puls. Da war keiner mehr. Er war tot.
Jemand klatschte in die Hände und ich kehrte langsam zurück in Janas Zimmer. Chris lehnte im Türrahmen.
„Bravo, wunderschön gespielt!“, lobte er.
Ich schenkte ihm ein gekünsteltes Lächeln, während ich innerlich kurz vor dem Zusammenbruch stand. Da war ein Toter in meiner Vergangenheit! Wer war er gewesen? Was war mit ihm passiert? Und was hatte sein Blut an meinen Händen zu suchen gehabt?
„Es ist von dieser französischen Komponistin, nicht wahr?“, fragte Chris.
„Ja. Cheyenne Chevalier“, antwortete ich automatisch. Cheyenne Chevalier. Ich erinnerte mich. „Sie ist meine Lieblingskomponistin.“
Jana starrte mich mit grossen Augen an und fragte: „Erinnerst du dich daran?“
„Scheint so“, antwortete ich völlig perplex.
„Erinnerst du dich noch an mehr?“
„Nein.“ Ich konnte ihnen nichts von dem Toten erzählen. Nicht ihnen, nicht Nadine, nicht Linh und noch nicht einmal Diego, wenn er mir zuhören würde. Ich konnte einfach nicht.
„Aber das ist doch schon 'mal ein Fortschritt!“ Jana klopfte mir auf die Schulter. „Du wirst sehen, bald weisst du wieder alles.“
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