Fotostory At Heart ♦ abgeschlossen ♦

Dankeschön :) Das war auch kein Aufmersamkeeeeeeit-Post, nur schaffe ich es eher, mir in das Popöchen zu treten, wenn ich weiß, da ist noch jemand online auf der anderen Seite der Leitung ;)
 
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Hallo Psychodoll,
endlich komme ich mal dazu dir zu posten,wie toll ich deine Story finde!!!! Lese schon länger mit und will jetzt gerne:"Halte durch!" sagen. Ich finde die Dreieckskonstellation Judith Lilly Marc spannend: Wird Judith die Hinwendung ihres heiß geliebten Bruders zu Lilly verkraften?
 
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Folge 12 – Verschwinden

I need you to know, I'm not through the night.
Some days I'm still fighting to walk towards the light.
I need you to know, that we'll be OK.
Together we can make it through another day.


© Superchick - Courage

*

Wenn ich es mir nur lang genug einrede, glaube ich sicherlich irgendwann, dass es nur ein Traum war. All das. Marc scheint das auch zu glauben, denn er behandelt mich beim Frühstück ganz normal. Als wäre nichts passiert. Aber meine Lippen täuschen sich nicht. Und die kribbeln noch immer.
Marc beschließt nach dem Frühstück wieder in die Stadt zu fahren. Ich wunder mich, dass er überhaupt noch da ist. Er wollte eigentlich gestern Abend schon fahren. Ich möchte ihm nicht misstrauen, frage mich aber, ob er das geplant hat.
Ab kommender Woche gehen für ihn wieder die Wochenenddienste los, sagt er. Jetzt, wo Judy in der Klinik ist, muss er mal wieder etwas in Vorleistung bei seinem Chef treten. Er will sofort nach dem Frühstück gehen und tut es auch. Er verabschiedet sich nicht. Dass ich an diesem Abend wieder zu Hause schlafen muss, ist aus meinem Kopf gänzlich gelöscht. Ich bin einfach nur traurig. Traurig und durcheinander. Wortlos packe ich meinen Rucksack und radle in die Küche. Ich arbeite im Hotel Schwanenhof im Zentrum der Stadt. Es ist nett dort, man behandelt mich fair und ich lerne viel.

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Ich bin heute nicht bei der Sache. Verwechsle die Gewürze, schneide die Tomaten falsch. Dinge, die seit meinem zweiten Monat schon in Fleisch und Blut übergegangen sind. Mein Küchenchef, Tom, tadelt mich zwar, sucht aber das Gespräch mit mir. Ich erzähle ihm, dass eine gute Freundin im Krankenhaus liegt, was ja nicht gelogen ist. Er zeigt Verständnis und gibt mir andere Aufgaben. Wenn man sich nicht zu viele Freiheiten raus nimmt und immer pünktlich ist, kann man auch sehr viel von Tom erwarten. Mit seiner Methode und Art, erzielt er jedes Jahr die jahrgangsbesten Azubi und die meisten werden im Hotel angestellt.
Dass ich die ganze Zeit an den Kuss und Marcs Ignoranz danach denke, will ich nicht mal mir selbst eingestehen Ich versuche den gestrigen Abend aus meinem Gedächtnis zu löschen. Sicherlich war ich grade gut genug. Warum hätte er das sonst tun sollen? Es gab keine Anzeichen davor, dass er irgendwas mit mir anfangen möchte. Er sollte mir egal sein.

Montags genieße ich einen kurzen Tag und muss nur bis 14:00 arbeiten. Donnerstag und Freitag gehe ich in die Schule, natürlich außerhalb der Ferien. Für meinen kurzen Montag, gibt es einen langen Mittwoch. Bis 20:00. Bei Bedarf auch mal Samstag, aber dafür werde ich auch entsprechend entlohnt.
Anschließend fahre ich zu Judy in die Klinik. Ich kann ihr nichts erzählen von gestern Nacht. Es ist ihr Bruder und überhaupt… vielleicht wäre sie ja mega sauer? Mittlerweile weiß ich wirklich nicht mehr, ob ich es nicht nur geträumt habe…

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Sie ist nicht auf ihrem Zimmer. Vielleicht hat sie eine Therapie, oder ähnliches. „Entschuldigung“, ich halte einen Pfleger an, „ich suche das blonde Mädel hier aus dem Zimmer. Judith. Sie ist wegen ihrer Anorexie hier.“ Er verweist mich an den Empfang, doch es scheint keine Stunde eingeschrieben zu sein. „Miss Gallenger darf sich seit heute frei bewegen, solang sie im Gebäude bleibt. Sie wird schon irgendwo sein. Miss… äh.“
„Lilly Pierce.“
„Miss Pierce, ich bin sicher, Judy ist hier irgendwo. Wenn Sie möchten, kann ich sie suchen lassen?“ Ich schüttele vehement den Kopf. Judy hasst sowas. Ich fühle mich nicht wohl damit, hier einfach rum zu laufen, um sie zu suchen, sicher ist das auch nicht erlaubt.

Ich gehe also raus in den Park und beschließe ein Stündchen zu warten, bevor ich wieder nach Hause gehe. Doch das muss ich gar nicht. Am anderen Ende des Geländes, am großen, geschlossenen Ausfahrtstor, sehe ich ihre (diesmal) offene blonde Mähne in der Sonne funkeln. Als ich neben sie trete, sehe ich, wie unglücklich sie ist. „Du darfst nicht hier draußen sein, habe ich gehört“, schmunzle ich. Sie lächelt. „Es ist nur ein großes Tor, aber es versperrt mir den Weg zur Freiheit“, sagt sie gespielt dramatisch und sieht mich an. „Es hilft dir, überhaupt frei zu sein, Judy.“ Sie seufzt, lässt sich auf die Knie fallen und legt sich auf den Boden. So auf dem Rücken liegend zeichnen sich ihre Rippen sogar unter ihrem Shirt ab. Ich tu es ihr gleich. „Echt jetzt, was soll das? Bin ich so krank?“, ich strafe sie mit einem vernichtenden Blick, „ja ja, schon gut…“

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„Ich werde rund um die Uhr überwacht. Sie sagen, ich hätte meinen Körper schon schwer geschädigt und wenn ich so weitermache, brauche ich einen Schrittmacher. Mit 17. Möglich, dass mein Herz auch einfach stehen bleibt, wenn ich mich übergebe, so wie vor zwei Wochen.“ Sie schweigt. „Ich will das ja gar nicht. Natürlich sehe ich, wie traurig ihr seid und mir schmeckt ja auch vieles, nur ist dann irgendwie…“, sie sucht nach Worten, „… zu viel von mir da.“
„Und wenn ich möchte, dass ganz viel von dir da ist?“ Sie lacht. Ich finde das gar nicht zum Lachen.

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„Ernsthaft, Judy. Ich dachte wirklich, diesmal hätten wir dich verloren. Seit du angefangen hast mit dem ganzen, habe ich sicher fünf Anrufe vom Krankenhaus erhalten und dich gut drei Mal selbst eingeliefert, weil du ohnmächtig geworden bist. Jedes Mal ist es ein bisschen schlimmer. Du weißt, ich möchte dich zu nichts zwingen, aber du hattest mir zumindest versprochen, dich nicht mehr zu übergeben. Wir wissen doch beide, wie furchtbar das für deinen Körper ist. Stimmt das Gewicht, was du mir schreibst?“ Sie nickt energisch. „Dann bedeutet das, dass du mit einem BMI von 15.4 eingeliefert worden bist. Wenn ich mich recht erinnere, warst du nur einmal tiefer. Du hast mir versprochen, nie wieder unter 45 kg.“ Ich will nicht, dass sie weint, was sie nun tut. Still und leise. Aber sie muss sich darüber klar werden.

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Ich rutsche zu ihr und nehme ihre Hand. „Du weißt, dass diese Krankheit dein wahres Gefängnis ist, oder?“ Sie nickt. „Noch 6 kg dann darf ich raus“, schluchzt sie. Und dann: „ich will nicht sterben.“ Ich streichle ihr über das Haar. „Marc und ich versuchen alles, dich am Leben zu erhalten, aber du musst mitarbeiten.“ Meine ganze Haut beginnt zu kribbeln und ich befürchte, mir steigt die Röte ins Gesicht. Marc. Judy umarmt mich liegend. „Es ist das einzige, was ich kontrollieren kann. Dad ist tot, Marc ist nur da, wenn ich abstürze und Mutter schweigt alles tot. Ich bin gut in der Schule, aber… ich komme mir sonst so verloren vor.“ Ich denke nicht, dass es nötig ist, etwas zu sagen. Wir liegen noch eine ganze Weile schweigend so da. Irgendwann steht sie auf. „Wir haben gleich Gruppensitzung“, sagt sie schniefend. „Am Freitag ist Familientag zur Therapie. Ich weiß nicht, ob das auch für Freunde gilt, aber ich denke, es sind die Leute gemeint, die Einfluss auf mich haben. Wenn du möchtest, kannst du sicher auch teilnehmen.“
„Das würde mich sehr freuen“, ich lächle. Sie lächelt zurück.

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*

Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich bin die Nacht nicht zu Hause gewesen und auf sehr unsanftem Wege abgehauen. Wenn Lydia jetzt zu Hause ist, weiß ich nicht, was passiert. Maria wollte mich da behalten, aber ich will wieder zurück. Irgendwo in mir kommt ein Verpflichtungsgefühl hoch. Vielleicht ist es aber auch einfach nur Angst. Ich kann mit 17 ja nicht einfach irgendwo hin ziehen. Ohne ihre Erlaubnis. Bis zu meinem Geburtstag ist es auch noch ein paar Monate hin.
Es ist niemand zu Hause. Ich bin erleichtert. Als ich die Tür öffne, höre ich nichts, außer Stille. Nirgendwo ist ein Zettel, oder dergleichen. Ich versuche zu intervenieren und zaubere Lydia etwas zu Essen. Sie sollte bald nach Hause kommen und wird den Zettel an der Mikrowelle sicherlich sehen.

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Ich schnappe meinen Rucksack und betrete mein Zimmer. Alles sieht aus wie immer. Nur, dass etwas fehlt. Nein, eigentlich fehlt es nicht. Es liegt auf meinem Bett. Opa’s Bild. Der Rahmen ist gebrochen, die Leinwand angesengt. Ich brauche ein paar Sekunden, um das zu realisieren. Ich kann nicht mal weinen, setze mich einfach stumm auf den Boden. Es geht nicht mehr um Opa. Es geht um meinen letzte Trost. Hätte sie mich doch lieber tot geschlagen.

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huhu, nun schaff ichs auch endlich zu schreiben. ich hatte deine Kapitel gelesen, nur irgendwie kaum Zeit und dann sogar vergessen zu liken :( *schäm*

ich mag das Kapitel, indem sie über ihre Gefühle zu Marc nachdenkt. Lilly finde ich sowieso ganz toll. Sie ist so erfrischend anders, so ... so gar nicht kitschig oder voller klischees udn das mag ich :) Ich bin gespannt, was Lydia sagt, wenn sie nach Hause kommt. Lilly packt ja schon :S ohoh... ich warte voller Vorfreude auf das nächste Kapitel und hab auch doch irgendwie angst davor, weil ich nicht weiß, was als nächstes passiert :S
Schön, dass du noch weiter machst, ich gelobe Besserung :3
 
Hallo Vany :)

Kein Problem. Ist ja keiner verpflichtet, was zu schreiben.
Aber die Antwort auf deine Frage findest du schon in Kapitel 12, was ich gestern online gestellt habe.

Ja, ich mag Lilly auch sehr gerne <3
 
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Folge 13 – Eingesperrt

Gitter zerteilen jeden Blick.

© Martin Herdard Reisenberg


*

Ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen. Dieses Bild war alles, was mir heilig ist. Wenn dieses verdammte Haus brennen würde, hätte ich nur dieses Bild gerettet. In mir kocht Wut und Enttäuschung. Ich will in ihr Zimmer geht, ihre Fotos und Briefe zerreißen, ihren Spiegel zerstören. Und als ich mich aufrichte, entschlossen vor Wut, geht unten die Tür. Ich erstarre im Flur. Ich höre ihre Schuhe erst in die Küche gehen, wie selbstverständlich die Mikrowelle anstellen, dann kommt sie die Treppe hoch.

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Sie sieht mich an, mein errötetes Gesicht, meine offene Zimmertür. „Du solltest langsam gelernt haben, dass du gegen mich nichts ausrichten kannst“, sie lächelt süßlich, „ich finde immer einen Weg, dir weh zu tun, Lilly. Und du solltest wissen, dass ich noch nicht an meinen Grenzen angekommen bin. Wenn du so eine Nummer nochmal abziehst, wirst du das bereuen. Du hast keine Ahnung, zu was ich noch alles im Stande bin. Hast du mich verstanden?“ Ich kann nicht antworten. Ich halte die Luft an. Wie soll ich darauf jetzt reagieren? Mein erster Impuls ist, sie zu erwürgen. Wahrscheinlich würde jeder Richter das sogar verstehen. Sie kommt auf mich zu, verpasst mir eine. Ich bleibe reglos stehen und nicke bestimmt. „Gut“, wieder diese süßliche Stimme, wie Professor Umbridge in Harry Potter. Sie macht kehrt und geht die Treppe hinunter. Mein Hirn rast. Jede Pore in mir schreit nach Rache.

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*
„Ich hasse sie so sehr! Ich hasse sie mehr, als alles andere, wie kann sie mir das nur antun?!“, schreie ich weinend ins Telefon. Judy bestärkt mich. „Bitte bewahre dir dieses Gefühl, Lilly. Du MUSST endlich ausbrechen.“ Ich weine nur noch. Weine und weine und weine. „Aber wo soll ich denn hin? Ich brauche ihr Einverständnis.“
„Geh zum Jugendamt.“
„Das geht nicht, dann werfen sie deine Mutter raus und dich aus der Klinik!“, ob es gut war, ihr das zu sagen? Nach einer kurzen Stille: „Lil, du musst jetzt auf dich hören, okay? Du musst da raus. Wir finden schon eine Lösung.“

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„Nein. Nein, das geht nicht. Du schaffst es nicht alleine“, ich putze mir die Nase und höre plötzlich nichts mehr. „Wie meinst du das?“, fragt Judy, „glaubst du denn nicht an mich?“
„Doch, natürlich!“, nicht auch noch sie. Nicht jetzt. „Aber du brauchst doch Hilfe!“
„Nein, Lil, du glaubst nicht, dass ich es schaffe. Du glaubst, ich komme hier raus und es geht wieder von vorne los, stimmt‘s?“ Ich möchte schreien. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Ich habe Angst davor, das heißt nicht, dass ich nicht an dich glaube.“
„Doch, genau das heißt es. Entschuldige Lil, ich muss jetzt zum Abendessen runter. Wir sprechen uns morgen.“ Und ich höre nur das Besetztzeichen am Telefon. Reglos starre ich mein Handy an.

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Das ist jetzt nicht wirklich passiert? Wie ein Zombie gehe ich ins Badezimmer, entledige mich so schnell als möglich meiner Klamotten und stelle mich unter die Dusche.

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Das ist nicht passiert. Das geht einfach nicht. Hasst sie mich jetzt? Ich brauche sie! Bin ich jetzt Schuld? Hätte sie mehr Unterstützung gebraucht? Warum versteht sie nicht, dass ich nur Angst habe?! Wir haben doch schon so viel verloren in unserem Leben, warum müssen wir uns jetzt so anfauchen?
Ich lasse das Wasser über meinen Körper laufen und versuche, die Gedanken weg zu spülen, aber es will nicht klappen. Neben mir im Zimmer sitzt meine Schwester, die mir alles nimmt, was ich habe. Meine beste Freundin ist in einer Klinik und kämpft gegen das verhungern. Niemand ist mir sonst geblieben. Was soll ich mit Oma schon besprechen? Nichts davon. Ich weiß, wen und was ich brauche. Aber warum sollte ich mir das eingestehen? Es wird sowieso nichts daraus und das sollte es auch nicht. Je mehr Menschen in meinem Leben sind, desto mehr können mich verletzen und ich sie.
Ich steige aus der Dusche und merke, dass das Brennen auf meinem Gesicht nicht vom Wasser, sondern von den Tränen kommt. Ich fühle mich einsam und verlassen. In mir ist nichts mehr, außer diesem Gefühl. Und für eine kleine Sekunde, wünsche ich mir, dass einfach alles vorbei ist. Ich wickle mich in ein Handtuch ein, trockne mir die Haare und stecke sie hoch.

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Funktionieren kann ich. Vielleicht sollte ich mich einfach abschalten. Ich setze mich auf mein Bett und kann mich nicht mehr bewegen. Es kommt mir vor, als säße Lydia immer hinter mir. Jeden Tag, in jeder Sekunde und hielte mein Leben fester im Griff, als ich es je könnte.

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Herz steh still…

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Folge 14 – Einsam

Raben fliegen scharenweise -
der Adler fliegt allein ins Licht.

Einsam will ich untergehen.
Eines Tages auferstehen.
Einsam will ich untergehen,
wie ein Schiff in wüsten Meeren,
eines Tages wiederkehren.

Subway to Sally – Einsam
Lyrics: Michael Boden


*

So viel Leben hier. So viele Gefühle. Es regnet und ist kalt. Ein eisiger Wind weht. Die Steigung ist schwierig zu erklimmen, doch ich bin nicht schwach. Ich ziehe mir die Ärmel über die Handgelenke.

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Wie kann es im Juli nur so kalt sein? Am 14. Juli. An Mutters Geburtstag. Mutter war mein Anker, mein Held. Warum hast du sie zu dir geholt? Ich schaue in den dsHimmel. Eigentlich glaube ich ja nicht an Gott. Doch sie fehlt mir so sehr. Sie war schon bei mir ein Engel. Als ich verstand, dass sie tot ist, war es schon Jahre vorbei.

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Meine Schuhe sind nass. Chucks sind einfach schei*e. Gleich bin ich oben, halte mich an einem Geländer fest. Die Lichter reflektieren im Regen und blenden, wenn man hin schaut. Wie konnte alles nur so werden, wie es ist? Wie konnte Lydia so verbittert werden? Ein so böser Mensch? Oder war sie schon immer so und ich habe es nur nie bemerkt? Wie konnte Mum so krank werden, obschon wir außer ihr sowieso niemanden hatten? Wie konnte Judys Vater sterben und sie so krank werden? Warum ist uns das alles nur passiert? Verteilt sich nicht so viel Leid irgendwie sonst auf viel mehr Menschen?

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Heute bin ich einsam. Früher war ich das nie. Doch heute scheint alles vorbei. Ein großes schwarzes Nichts verschlingt mich. Der höchste Punkt. Ich bleibe stehen. Unter mir rasen Autos vorbei. Ich setze mich auf das Geländer und schwinge die Beine darüber. Nichts tut mehr weh. Der Wind bläst mir durch die Haare. Ich zögere nicht. Ich falle.

*

Plötzlich bin ich hellwach. Doch bewegen kann ich mich nicht. Es scheint mitten in der Nacht zu sein, doch wo bin ich? Zuhause…Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe mein Lied gehört, was ich immer höre, wenn ich heule (Linkin Park – MyDecember) und mich einfach in den Schlaf geweint.

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Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet. Der nächste Blick auf mein Handy. Keine SMS, kein Anruf. Nun fällt mir auch wieder ein, was passiert ist. Ich kann und will nicht mehr schlafen. Ich friere. Ich ziehe mir eine bequeme Hose und einen Pullover an. Meine Augen sind aufgequollen und ich sehe aus, als hätte ich drei Tage nicht geschlafen. Ich greife unter mein Bett und hole eine Kiste hervor. Fotos.

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Einfach ganz viele Fotos von meiner Mutter. Heute wäre Sie vierzig Jahre alt geworden. Es ist Schwachsinn, was Lydia geschrien hatte. Mutter hat als Krankenschwester gearbeitet, viele Nachtschichte geschoben und uns vor allem versucht, viel Zeit mit sich zu schenken. Soweit es eben ging. Ein altes Foto von ihr und mir fällt mir in die Hände, beim Vorlesen. Sie hat mir das Lesen beigebracht und mich infiziert.

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Catherine (meine Mum) wurde mit 16 schwanger von einem Schulkamerad. Sie waren wohl nicht lang zusammen und er verließ sie. Sie behielt das Kind aber. Was, wenn sie es nicht getan hätte? Ich schäme mich für den Gedanken.
Sie zog Lydia ganz alleine groß und das während Ihrer Ausbildung. Unterstützung von meinen Großeltern erfuhr sie keine. Dann kam mein Vater. Sie sagte einmal, er sei ihre große Liebe gewesen. Was mit ihm passiert ist, weiß ich nicht. Damals war ich zwei und nach Mutters Tod war mein Bedarf an elterlichen Dramen gestillt. Niemand hat je über ihn gesprochen. Ich habe nie gefragt.
Danach hat sie sich voll um uns gekümmert. Bis es anfing, dass ihr so oft schwindelig wurde. Das letzte Bild, an das ich mich erinnern kann, ist sie, wie sie ohne Haare im Bett liegt und versucht, sich an mich zu drücken. Lydia hat damals schon nicht geweint. Und mich dann aus dem Zimmer geschickt.
Ich habe nur gute Erinnerungen an meine Mutter. Aber manchmal bin ich auch wütend. Ich könnte sie jetzt wirklich gut gebrauchen. Und es ist nichts hier, was ich gegen den Schmerz tun kann. Es gibt nur noch einen Menschen, der mich an sie erinnert. Einen Menschen, der neben mir ein bisschen von ihr in sich trägt. Einen Menschen, der mit mir über sie gesprochen hat und mir das Gefühl gibt, dass sie ihr ebenso fehlt. Und das ist Lydia.

Mein Handy piepst. Ich habe eine SMS. „Was ist denn bei euch los?“, sie ist von Marc. Ich antworte nicht, bleibe reglos sitzen und beobachte den Regen.

*

In der Küche brennt eine Kerze. Wie jeden 14. Juli in jedem Jahr. Ich bin überzeugt, dass Lydia dies nicht nur aus Pflichtgefühl tut. Sie sieht ihr wirklich ähnlich. Das tun wir beide. Ich zwänge mir nach dieser Nacht ein Müsli rein. Wieder piept mein Handy. „Sag schon, was los ist. Judy war gestern total aufgelöst.“ Was geht dich das an?, denke ich. Kein Wort zum Kuss. Kein Wort zu mir. Mir ist schon wieder nach Weinen.

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Ich schreibe ihm, dass Freundinnen nun mal nicht immer der gleichen Meinung sind und fahre auf die Arbeit.

*

Ich habe das Gefühl vor lauter Schwäche zusammen zu brechen, doch ich gebe mein bestes. Ich darf heute das Dessert kreieren und erhasche ein großes Lob von meinem Chef. Er betont noch einmal, wie sehr er hofft, dass mein Zeugnis nach den Ferien besser ausfällt, als das letzte. Anschließend dürfte ich bereits meinen Vertrag für die Übernahme unterschreiben. Nach der Arbeit schaue ich bei Maria vorbei, um dort zu essen und mit ihr zu reden. Sie ist grade noch in der Tankstelle und beendet ihre Schicht in einer Stunde. Sie arbeitet wirklich jede Minute und das, obwohl sie in ihrem eigentlichen Beruf schon nicht schlecht verdient. Sie arbeitet als Gehilfin in einer Anwaltskanzlei. Die Behandlung von Judy scheint nun alles Übrige zu verschlingen.
Das Essen steht im Ofen. Ich packe mir heimlich für Lydia was ein, damit ich nicht kochen muss und lasse etwas für Maria stehen. Dann erwärme ich mir etwas vom Auflauf und setze mich vor den Fernseher. Wenig Gutes läuft in der Kiste. Ich bleibe an Big Bang Theory hängen, als mir eine Kiste mit Papier vor dem Wohnzimmertisch auffällt. Simon, steht darauf geschrieben. Simon war Judy’s Vater.

***

 
Puh das ist aber wirklich dramatisch. Ich bin ja mal gespannt ob du irgendwann auch mal Lydias Sicht der Dinge beleuchtest oder generell die Hintergründe. Mit der Schachtel das klingt ja zumindest stark danach. Und natürlich frage ich mich welche Wendungen noch auf uns zukommen. :read: Auf jeden Fall sehr spannend zu lesen.
 
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Bin gespannt wie es zwischen Lilly und Judy weitergeht. Eigentlich wollen beide ja nur das Beste für den anderen und treffen dabei leider den falschen Nerv.
Ist aber auch eine schwierige Situation adäquat reagieren zu können, wenn man sich mit seinen eigenen Problemen arrangieren muss.
Aber eine gute Freundschaft kann nichts so schnell erschüttern, daher hoff ich schwer, dass sie sich zusammenraufen :)
 
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Folge 15 – Maria’s Geheimnis


Das eigentliche Mysterium der Welt, ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.

© Oscar Wilde


*

Ich rolle die Augen ob mir selbst. Wie kann ich nur so neugierig sein? Ich habe schon lang keine Bilder mehr von Simon gesehen. Ich lernte die Familie erst nach seinem Tod kennen. Ich stelle das Essen bei Seite, um nichts kaputt zu machen und nehme einen Schwung Fotos heraus. Süß, wie er klein Judy auf dem Schoß hält. Marc beim Fußball spielen und Simon im Tor. Ein Hochzeitsbild von Maria und Simon. Sie sah wirklich hübsch aus. Und er wirkt nicht wirklich, wie ein Junkie. Als ich zu den Briefen komme, will ich nicht weiter in ihre Privatsphäre eindringen und lege die Papiere bei Seite. Mit einem letzten Blick fällt mir das Datum des Briefes ins Auge. Er ist eine Woche alt.

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Ich gebe mir große Mühe, zu denken, dass ich mich irre. Ich lese Unterschrift und Datum fünf Mal nach, aber ein Zweifel besteht leider nicht. Ich muss die Gedanken verwerfen, dass dies ein schlechter Scherz ist. Was soll ich nun tun? Soll ich sie darauf ansprechen? Wie wird Judy darauf reagieren? Und Marc? Mir wird ganz heiß im Gesicht. Ich kann sie doch nicht einfach im Dunkeln lassen. Und wenn es doch ein Missverständnis ist und Maria dann mega sauer auf mich ist? Eigentlich habe ich auch gar kein Recht, in diese Kiste zu schauen. Sie hat wohl nicht mit mir gerechnet und sie hier stehen lassen. Ein Schlüssel geht im Schloss. Schnell packe ich alles in den Karton. Maria kommt zur Tür rein. „Lilly! Wie schön, dich zu sehen!“, wir umarmen uns statisch und sie entledigt sich ihrer Jacke. „Wie das runter gekühlt hat, oder?“

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Das erinnert mich an meinen Traum. „J-ja“, antworte ich. Hatte diese Frau ihre Kinder Jahre lang belogen? Wäre Judy krank geworden, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Vater noch lebt? Maria nimmt sich die Portion aus dem Ofen. „Hat dir das Essen geschmeckt, kleine Köchin?“, sie lacht. Ich nicke. „Ich fahre nachher nochmal zu Judy, muss mich aber beeilen. So lang ist die Besuchszeit nicht. Kommst du am Freitag zum Gruppengespräch?“ Ich brauche eine Weile, bis ich verstanden habe, dass sie mit mir spricht. „Judy wollte mir Bescheid sagen, ob ich teilnehmen darf.“
„Aber sicher darfst du, sie hat mir schon geschrieben.“

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Oh… bei mir hat sie sich nicht gemeldet. Geistesabwesend starre ich Maria an. Ich kann nicht anders. Warum hat sie nie einen Ton gesagt? Es platzt fast aus mir heraus. „Maria, sorry, aber ich muss schon wieder los. Vielen Dank für den leckeren Auflauf.“ Sie sieht enttäuscht aus. „Oh, schade. Naja, vielleicht bleibst du nächstes Mal wieder länger?“

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„Ganz sicher!“Sie tut mir Leid, wie sie da nun so traurig sitzt, aber wenn ich bleibe, platzt es aus mir raus und ich habe heute keine Lust auf ein weiteres Drama. Und die Kraft dafür auch nicht.

*

Dass Judy’s Vater noch lebt ist eine Nachricht, die niemand leicht verdauen würde. Ich möchte gerne auf jemanden wütend sein, doch ich kenne die Geschichte nicht. Was, wenn Judy glücklich mit einem Vater hätte aufwachsen können? War er wirklich drogensüchtig gewesen? Wenn ja, ist es vielleicht besser, dass Maria ihre Kinder belogen hatte?
Judy hat sich noch nicht gemeldet. Wie enttäuscht wird sie von mir sein, wenn sie diese Sache mit ihrem Vater raus findet und merkt, dass ich es wusste? Ich muss es ihr sagen. Aber nicht jetzt. Ich sitze in meinem Zimmer und meine Gedanken überschlagen sich. Es gibt nur eine Sache, die jetzt helfen kann. Bevor ich wirklich nicht mehr weiter machen kann.
Ich schleiche mich in Opa’s Galerie.

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Die Wahrheit ist: ich habe das Malen nicht schleifen lassen. Ich habe nur einfach nicht mehr gemalt, seit Opa gestorben ist. Er hat stets mit mir gemeinsam gemalt und mein Talent gelobt. Dass mich Judy zu dem Kurs überreden will, verstehe ich – sie sieht großes Potential in mir. Ich nicht.
In mir ist eine solche Leere… Ich muss an meinen Traum denken. Was, wenn ich irgendwann wirklich auf dieser Brücke stehe und springe? Will ich sterben? Es macht mir Angst, dass ich diese Frage nicht klar verneinen kann. Ich habe das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben.
Ich ziehe mir etwas über, stelle eine leere Leinwand vor mich und mische die ersten Farben. Aquarell soll es heute sein. Das wichtigste ist, sich nicht zu fragen, wie man anfangen soll. Als Lydia nach Hause kommt, ignoriert sie mich, macht sich ihr Essen warm und isst. Ich höre sie hoch ins Badezimmer gehen.

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Ich weiß nicht, wann ich begonnen habe zu weinen. Aufhören kann ich jetzt jedenfalls nicht mehr.Mum starb an Krebs, Opa an einem Herzinfarkt, Oma lebt im Heim, meinen Vater gibt es in diesem Leben nicht. Alles, was mir geblieben ist, ist Lydia. Sie ist die letzte Familie, die ich habe. Das letzte bisschen meiner Mutter, doch Mum hätte mich nie geschlagen und sie hat es auch bei Lydia nicht getan. Ein Teil von mir will fliehen, ein anderer will Lydia nicht verlieren. Sie ist doch meine Schwester und Schwestern stehen zueinander, oder? Sie muss ihre Gründe haben, dass sie ist, wie sie ist. Ich möchte daran glauben. Ich möchte ihr helfen.

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Mit jedem Pinselstrich mehr vergesse ich alles und mich. Ich will nicht sterben. Ich will nur alles vergessen, alles begraben. Als ich eine Pause mache, fühle ich mich besser, aber nicht weniger leer. Mein Handy piepst. „Ich denke an dich.“ Die SMS ist nicht von Judy. Ich bin enttäuscht und freudig erregt zugleich. Doch auch er kann mich jetzt nicht erreichen.

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Anmerkung des Autors: Das ist jetzt das letzte relativ kurze und "unspektakuläre" Kapitel. Ab jetzt passiert wieder etwas mehr ;)
 
Unspektakulär? Es passiert noch mehr?
Nen mich zart besaitet oder übersensibel, aber für mich ist wirklich genug passiert. Es wird ja immer nur noch komplizierter... Da haste dir aber echt n Stöffchen ausgedacht. Meine Herren. Aber wie dem auch sei: Ich bin immer noch gespannt wie's weiter geht. :D
 
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Haha, ja, ich empfinde sie als etwas ruhiger, als die Folgen davor. Lilly ist nicht viel unterwegs, oft daheim, oft depressiv. Es gibt nicht viele Gespräche und soziale Kontakte, etc.
Das wird sich jetzt aber wieder ändern ;) Die Therapie-Sitzung wird sehr aufregend ;)
 
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Haha, ja, ich empfinde sie als etwas ruhiger, als die Folgen davor. Lilly ist nicht viel unterwegs, oft daheim, oft depressiv. Es gibt nicht viele Gespräche und soziale Kontakte, etc.
Das wird sich jetzt aber wieder ändern ;) Die Therapie-Sitzung wird sehr aufregend ;)

Ja gut das kann ich nachvollziehen. Besonders wenn man das schreibt und bebildert geht es einem vermutlich so.
Auf die Therapiesitzung bin ich auch schon gespannt. Momentan denk ich das es ja eh nur eine Frage der Zeit bis es zum großen Knall kommt. Gerade mit der Entwicklung im letzten Kapitel.
 
Folge 16 – Aussprache

Jede Ehrlichkeit beginnt mit der Ehrlichkeit zu sich selbst.

© Dieter Gropp

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Ich bin viel erwachsener, als ich sein dürfte. Aber hier bin ich wohl ein typischer Teenager. Was soll ich antworten? Er kann nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert und mir jetzt sowas schreiben. Ohne weitere Worte. Was er wohl gerade tut? Ob er genauso da sitzt, auf sein Handy starrt und auf eine Antwort hofft? Ich lege es bei Seite und male das Bild zu Ende. Zumindest den ersten Entwurf. Als ich fertig bin, ist es bereits dunkel. Ich wasche die Pinsel aus und räume das Malzimmer auf.Mein Handy klingelt. Offensichtlich ist er nicht der Typ, der lange wartet. Ich nehme nicht ab, schließe die Tür zur Galerie hinter mir und lasse das Bild trocknen. Meine Bilder bedeuten mir nichts. Ich weiß nie, ob sie es schaffen zu trocknen, obschon Lydia dieses Zimmer nicht häufig betritt. Aber wenn, macht sie „sauber“. In der Küche duftet es noch. Ich nehme mir einen Saft und setze mich. Meine Augen sind verquollen und ich muss schrecklich aussehen, aber ich fühle mich nicht mehr ganz so verloren.
Vor mir liegt die Stadtzeitung aufgeschlagen auf dem Tisch. Lydia Pierce (22) übernimmt Leitung der City-Bank, steht da. Deswegen hat sie mich nicht getadelt. Sie ist gut drauf!

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Hätte ich nicht so gemischte Gefühle für sie, würde ich mich sicherlich freuen. Dennoch hole ich einen Post-It, schreibe „Herzlichen Glückwunsch“ darauf und poste es auf den Artikel. Mein Handy klingelt erneut. „Marc?“, melde ich mich. Ich versuche ganz cool zu klingen, doch mein Herz schlägt wie wild. „Hast du meine SMS bekommen?“
„Natürlich“, ich kann seine Enttäuschung darüber, dass eine Antwort ausblieb, förmlich hören, ohne dass er was sagen muss. Er holt Luft, doch bevor er was sagen kann: „Sehen wir uns am Freitag zum Gruppengespräch in der Klinik?“. Er räuspert sich und versucht zu überspielen, dass er etwas sagen wollte.

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Leise sagt er: „Ja… klar.“ Es wird still am Telefon. Jetzt tut er mir leid. „Danach können wir ja reden, wenn du willst.“ Oh Gott. Habe ich das gesagt? Was um Himmels Willen soll ich denn bereden? Ich weiß nicht, was mich mehr erstaunt, dass ich mich benehme, wie ein Teenager, oder, dass er es tut. „Erstmal möchte ich gerne wissen, wie es dir geht“, seine gewohnte Seriosität ist zurück und er wirkt wie ein distanzierter Cop, der eine Pflicht-Frage stellt. Ich werde noch kühler, als ich sowieso schon klinge. „Gut“, lüge ich, „ich muss nun ein paar Dinge für die Arbeit vorbereiten. Ideen und so."
Er fragt gar nicht nach Judy? Aber er glaubt mir offensichtlich, dass es mir gut zu gehen scheint. „Okay, dann will ich dich mal nicht weiter stören.“ Er verabschiedet sich und legt auf. Ich möchte mich am liebsten übergeben, oder jemanden schlagen. Wahlweise auch beides.

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„Danke, dass du mich abholst“, Maria sitzt am Steuer. „Kein Problem! Marc kommt nachher nach. Er ist erst vor ein paar Minuten los gefahren.“ Ich bin erleichtert, dass wir nicht in einem Auto sitzen werden. Die letzten Tage habe ich weder etwas von ihm, noch von Judy gehört. Ich hatte viel Zeit über den Brief und die Fotos nach zu denken. Doch ich traue mich nicht, sie zu fragen. Sie hatte sicherlich ihre Gründe. Ich muss Judy davon erzählen, das steht außer Frage. Also, wenn sie jemals wieder mit mir spricht. Oder Marc. Oder irgendwer überhaupt.

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Ich fühle mich von allen verlassen. Am besten bleibe ich einfach gleich in der Klinik, wo ich schon mal da bin.

Alles wirkt trostloser als letztes Mal. Der Aufenthaltsraum ist voller Familien. Manche der Patienten sitzen aber auch alleine in einer Ecke. Einige von Ihnen sehen nicht aus, als ob sie warten würden – wie schrecklich muss es sein, in einer Abteilung für Psychiatrie zu sitzen und niemanden zu haben, der einen sehen will? Als Judy uns empfängt, umarmt sie mich herzlich.

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Ich merke, dass sie etwas sagen möchte, doch nicht vor ihrer Mutter. Wir setzen uns in den Aufenthaltsraum und warten auf Marc. Eine peinliche Stille folgt auf die nächste. Als Marc kommt, umarmt er Judy lang, seine Mutter reserviert und hebt mir die Hand zum Gruße. Ich fühle mich wie gekaut und ausgespuckt. Als wäre ich ein Niemand.
Wir betreten den Raum zur Gruppensitzung. Die Therapeutin begrüßt alle mit einem Lächeln und schüttelt uns die Hände. Wir setzen uns auf verschiedene Sessel. Die Therapeutin hat einen Block auf dem Schoß und lächelt uns freundlich an. „Mein Name ist Dearing. Ich möchte Sie bitten, sich kurz vor zu stellen. Natürlich hat mir Judy von Ihnen allen bereits erzählt, aber gerne würde ich Ihre Worte dazu hören.“ Sie sieht nett aus. Vertrauenswürdig und seriös. Man möchte ihr am liebsten alles erzählen. Ob man das haben muss in diesem Beruf? „Ich heiße Lilly und bin Judy’s beste Freundin“, sage ich, als ich dran bin. „Judy? Ist das Ihr Spitzname für Judith?“ Ich nicke und sehe Judy an. Sie lächelt warm, was mich erleichtert aufatmen lässt.

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„Nun Judy“, betont Ms Dearing und deutet auf sie, „hat mir sehr viel von Ihnen erzählt Lilly. Sie scheinen das Zentrum Ihres Lebens zu sein, möchte man meinen.“ Die Stille ist greifbar. Die einzige, die mit dieser Situation nicht überfordert ist, scheint die Therapeutin zu sein. „Die beiden sind unzertrennlich, seit sie sich an Judy’s siebten Geburtstag kennengelernt haben“, wirft Maria ein. Ms Dearing nickt verständnisvoll. „Eine so lange Freundschaft ist nicht jedem vergönnt. Viele suchen viele Jahre, oder ihr ganzes Leben erfolglos danach“, beschämt fällt mein Blick auf Judy. Ich sehe sie entschuldigend an und versuche ihr irgendwie zu sagen, was ich sagen will.
„Hör auf. Ich hab mich total bescheuert verhalten. War echt ein beschissener Tag“, sagt sie. Maria und Marc haben ein riesengroßes Fragezeichen auf der Stirn, während sich Ms Dearing etwas notiert. Offensichtlich hatte Judy ihr von Montagabend erzählt. Ich lächle Judy herzlich an. Ich bin erleichtert, weiß aber nicht, wie ich all das einordnen soll. Meine Gedanken sind überall, nur nicht hier und ich schäme mich dafür. „Nun“, setzt die Therapeutin an, „wir sind heute hier, um dem Ursprung von Judy’s Anorexie etwas mehr auf den Grund zu gehen. Sie sind hier, weil Sie in Judy’s Leben eine entscheidende Rolle spielen und ihr entweder geholfen, oder die Krankheit unbeabsichtigt gefördert haben. Dies wird kein Verhör. Wir möchten Sie einfach an den bisherigen Erfolgen Teil haben lassen und uns über die Situation unterhalten. Wie es nach der stationären Therapie weiter geht, Mrs Gallenger, besprechen wir in einem separaten Gespräch gegen Ende der Therapie.“ Maria nickt.

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„Ich möchte, dass wir damit beginnen, Judy zu sagen, was Sie denken. Aber wir starten immer damit, Ihr etwas Gutes zu sagen. Wie wäre es mit Ihnen Marc? Judith spricht sehr viel von Ihnen. Möchten Sie beginnen?“ Er fühlt sich sichtlich überrumpelt. Als ich ihn ansehe, möchte ich nichts anderes, als ihn umarmen, doch die Enttäuschung unterdrückt jedes gute Gefühl. Er räuspert sich, richtet sich auf und wendet sich Judy zu. Sie lächeln sich an. Die Wärme die im Raum liegt, könnte einen sofort zum Weinen bringen. Wie könnte ich mich zwischen die beiden drängen? Niemals. „Judy“, beginnt er und es klingt wie der Anfang einer Liebeserklärung, doch entsetzlich unbeholfen und irgendwie ist es auch ein Fremd-Schäm-Moment, „Du... Ich werde dich niemals im Stich lassen. Ich habe Angst, dass ich dich nicht beschützen kann, so wie ich dich vor… all diesem Mist nicht beschützen konnte. Ich war nicht für dich da.“ Er möchte mehr sagen, das merke ich. Aber sein Herz in dieser Situation aus zu schütten erscheint ihm ebenso unüberwindbar, wie mir. Judy lächelt immer breiter. Marc wirkt, als fühle er sich in seiner Haut nicht wohl. „Judith, was fühlst du, wenn du das hörst?“, fragt Ms Dearing kühl.

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„Ich möchte nicht, dass du Schuldgefühle hast. Du hast so viel für mich getan.“
„Ich habe dich im Stich gelassen.“ Die Wärme im Raum wird kühler – plötzlich klingt es nicht mehr einstudiert, was er sagt. Es kommt spontan und ehrlich. „Nein, nein. Du warst immer irgendwie präsent.“ Judy ist nicht ehrlich, das weiß ich. Sie kämpft schon immer mit allen Mitteln um die Liebe ihres Bruders. Ihn enttäuscht ob sich selbst zu sehen (wegen ihr!), muss für sie der absolute Super-Gau sein. Sie will ihn nicht zurückweisen und tut alles, um die Harmonie zwischen ihnen beiden zu wahren. Ich habe lange Zeit mit zu gesehen und das Verhalten verinnerlicht. Dieser Mann kann sie verletzen, wie niemand sonst. Die Parallele zwischen uns beiden, Judy und mir, möchte ich gerade nicht herstellen.
Sie blickt ihren Bruder hoffnungsvoll an und betet stumm für seine Zuneigung.
Judy nimmt seine Hand. „Wir werden jedem von Ihnen genug Zeit zukommen lassen, keine Sorge. Aber ich möchte gerne erst alles in diesen Raum bringen, bevor wir mit der wirklichen Arbeit anfangen, denn oft decken sich viele Ängste und wir kommen so einem gemeinsamen Ziel näher“, Ms Dearing kichert, was sich irgendwie unpassend anfühlt., „Lilly. Möchten Sie fortfahren?“

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Alle schauen mich an. Ich komme mir entsetzlich klein vor. „Nun“, stottere ich, „naja, wir sagen uns eigentlich immer alles.“ Ms Dearing schaut mich weiterhin erwartungsvoll an. Was soll ich sagen? Wir erzählen uns wirklich alles. Ich nestle nervös an meiner Hose. „Du bist meine beste Freundin, das weißt du. Wie eine Schwester. Ich versuche dir echt zu helfen, aber ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch tun soll. Wie ich dich unterstützen kann.“

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Meine Stimme klingt hoffnungsloser, als es beabsichtigt war. Als Judy nichts sagen kann und für mehrere Minuten Stille im Raum herrscht, ergreift Ms Dearing das Wort: „Danke, Lilly. Wir werden über deine Ängste gerne sprechen. Mrs Gallenger, möchten Sie noch Ihren Beitrag leisten? Dann werden wir Ihre Stichpunkte zu Papier bringen.“

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Maria blickt Judy ernst an. Ich habe sie nie darüber sprechen hören. Ich habe sie auch nie weinen sehen. Maria ist immer der verzweifelte Fels, der stets kocht und an dem alles abzuprallen scheint. Aber jetzt wirkt sie anders. Irgendwie stärker und bestimmt. Und sie sagt: „Judy, dein Vater ist am Leben.“

***

Anmerkung des Autors: So, nun ein etwas längeres Kapitel. Hier zu unterbrechen, wäre ja sinnfrei gewesen. Ich hoffe, es hat euch gefallen.
Wir feiern Bergfest. Die erste Staffel rund um Lilly fasst 30 Kapitel.


 
Bah ist das ein fieser Cliffhanger...
Und das ist echt schon der 30. Teil gewesen? Wenn man das so liest kommt es einem überhaupt nicht so vor. :eek:
 
Aso :lol:
Da stand ich wohl etwas auf dem Schlauch. (Und hab nicht auf die Kapitelzahl geachtet wie mir gerade auffällt *HandvordieStirnklatsch*)

Übrigens sehr interessant was da so abläuft. Diese ganzen Emotionen und Schuldkomplexe hast du sehr gut eingefangen. Mich kribbelts schon Judys Reaktion zu lesen und was die Therapeutin noch an- bzw. auspackt. Die finde ich bisher noch etwas schwer einzuordnen.
 
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Hallo Psychodoll
Jetzt komme ich auch endlich noch dazu dir etwas zu schreiben. Leider habe ich noch nicht rausgefunden, wie man zu einem Post danke sagen kann. :schäm:

Dass Maria von sich aus und so plötzlich mit der Wahrheit rausrückt, hat mich überrascht. Somit muss sich Lilly immerhin nicht mehr überlegen, wie sie es Judy sagen soll. Auf die Reaktion zu dieser Nachricht bin ich ja schon sehr neugierig. =)

Eine kleine Anmerkung kann ich mir aber nicht verkneifen, es stimmt nicht, dass Lilly Maria nie weinen sah, in Folge 4 sitzt sie weinend am Bett von Judy :cool:
Aber ansonsten find ich die Charakter sehr stimmig aufgebaut.

Ich hoffe du lässt uns nicht zu lange auf die Fortsetzung warten. :)
 
***

Folge 17 – (Über)Leben

Ein Licht, der Nebel und meine Angst.
Halt mich, doch zerbrich mich nicht.

© Psychodoll1991


*

Mit einem Mal herrscht die absolute Stille im Raum. „Was?“, sagt Judy fassungslos. Die gesamte Farbe ist ihr aus dem Gesicht gewichen, „was redest du da?“
„Er hat mir vergangene Woche einen Brief geschrieben.“ Marc sieht nicht so überrascht aus wie Judy. Er drängt sich zwischen Judy und seine Mutter. Er will sich auf das Sofa stützen, doch nach kurzem Besinnen setzt er sich. „Hast du es gewusst?!“ Maria wirkt ob dieser scharfen Ansprache überrumpelt. Für einen Moment ringt sie mit sich. „OB DU ES GEWUSST HAST?!“ schreit er laut. Ich verstehe nicht, warum ich mich gerade jetzt zu ihm so hingezogen fühle.

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„Marc, ich habe vollstes Verständnis für Ihre Situation-“
„Ja, das habe ich.“ Sogar Ms Dearing wirkt nun überrumpelt. Doch Sie behält professionell die Fassung. Maria versucht ihn am Arm zu packen und zu beruhigen, doch er steht mit einem solchen Schwung auf, dass Mari sich die Hand verdreht. Er verlässt das Zimmer und knallt die Tür zu. Alle Anwesenden sitzen schweigend auf Ihren Stühlen. Niemand wagt es zu atmen. Judy sucht meinen Blick. Sie stürzt weinend zur Tür hinaus und ich hinterher. Ich schließe die Tür hinter mir und wir verharren im Flur. Judy starrt mich fassungslos an. Sie sucht nach Worten, findet sie nicht. Als wollen sich die Wörter nicht zu einem Satz zusammenfügen.
„Ich fasse es einfach nicht!“, schreit Judy auf dem Gang dann endlich, „wie konnte sie mir das verschweigen?! Was soll ich denn jetzt tun?“ In ihrem Blick liegt so viel Schmerz und Hilflosigkeit, dass er greifbar wird. Nach diesem kurzen Ausbruch herrscht wieder Stille. Als gäbe es nichts mehr zu sagen. Sie hat Jahre lang in Marc einen Ersatzvater gesucht und ihn nie bekommen. Eine Mutter, die sich nicht zu helfen wusste, ein schweigender Bruder und ein toter Vater. Der einzige Mensch in ihrem Leben war und bin ich. Alles wäre anders gewesen, wäre Simon bei seiner Familie geblieben.

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Schwestern kommen herbei geeilt. „Nein!“, sage ich und hebe die Hand, „sie braucht keine Medikamente, ehrlich! Wir kommen klar!“ Ich packe Judy an der Hand und führe sie in ihr Zimmer. Ich halte den Kopf gesenkt, damit mich niemand bemerkt. „Wie kannst du so ruhig bleiben?“, fragt sie, als ich ihr ein Glas Wasser bringe. „Ich wusste es. Ich habe den Brief am Dienstag bei euch zu Hause gefunden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“
„Was stand drin?“, fragt sie begierig und starrt mich mit großen Augen an. „Nur, dass sie ihm nie auf seine Briefe geantwortet hat und er mit ihr reden möchte.“ Sie nippt an ihrem Wasser und zittert.

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Ich gehe vor ihr in die Hocke und halte ihre Hände. „Bitte, lass dich davon nicht zurückwerfen. Du bist schlau und stark, Judy. Besprich es mit Ms Dearing. Sie wird dir sicher helfen können. Du hast schon so viel geschafft.“ Judy nickt zaghaft. Plötzlich sieht sie mich verweint an. „Es tut mir so leid, dass ich dir am Dienstag nicht wegen deiner Mum geschrieben habe!“
„Das macht nichts, es geht mir gut“, lüge ich. Nun ist eben sie dran. Die Prioritäten liegen klar bei ihrer Genesung. Dass sie überhaupt daran denkt überrascht mich.

*

Ich lasse Maria und Judy bei Ihrer Therapeutin. Marc ist nicht auffindbar und Judy hat mir versichert, sie würde allein zu Recht kommen. Sie möchte mich nachher noch einmal anrufen, aber ich bin ihr nicht böse, wenn sie nach dem heutigen Tag einfach nur noch ins Bett möchte. Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz nach sieben. Lydia dürfte schon zu Hause sein. Die „Überstunden“-Ausrede kauft sie mir hoffentlich ab. Sie ist nicht blöd, weiß genau, wann ich Schule und wann Ferien habe. Aber Überstunden in einem Hotel sind durchaus möglich. Ich nehme die Beine in die Hand und renne zum Bus. Auf dem Parkplatz sehe ich Marc in seinem Auto sitzen. Er telefoniert. Muss mich, wer auch immer, vor diese Entscheidung stellen? Bevor ich mich entscheiden kann, ob ich mich ihm zeigen will, oder nicht, treffen sich unsere Blicke und er winkt mich zu sich heran. Ich zögere lang, steige aber schlussendlich ein. „Nein, ich will in spätestens einer Stunde die Ergebnisse haben. Möglich, dass er nun einen anderen Nachnamen hat, ich weiß es nicht… Ja … Danke.“ Er legt auf, umfasst das Lenkrad und starrt ins Leere. Nach einer quälenden Ewigkeit atmet er tief ein und aus. „Ich kann es nicht fassen, dass sie uns belogen hat. Vielleicht hätte das alles geändert.“ Es steht mir nicht zu, darauf etwas zu antworten. „Es tut mir leid, dass ich mich grade nicht mit dir befassen kann“, es klingt, als müsse er einem Mädchen bei den Hausaufgaben helfen – kühl und reserviert. Da ist kein Verständnis und keine Wärme in seiner Stimme und es verletzt mich zutiefst. Ich habe heute das Gefühl immer tiefer zu fallen. Er startet das Auto. Wir sagen kein Wort, auch weil ich vor ihm nicht weinen möchte.

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Ich fühle mich wie ein trotziger Teenager und bin kurz davor, die Arme zu verschränken, als ich unser Haus sehe. Der Himmel verdunkelt sich. Es riecht nach Regen. Ich will wortlos aussteigen, als ich höre, dass er sich ebenfalls erhebt. Ohne ihn an zu sehen, gehe ich Richtung Haustür. Er holt mich ein, hält mich am Arm und zieht mich an sich, um mich zu umarmen.
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„Es tut mir Leid mit deiner Mutter. Judy hat es mir erzählt. Aber ich wusste nicht, ob ich dir schreiben kann. Also dazu, meine ich. Ich wusste nicht, ob es mir zusteht.“ Ich möchte so gern weinen. Die Zeit steht still und mein Herz tut es auch. Alles tut so unendlich weh.

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Er lässt mich los. „Ich bleibe über Nacht. Also bei meiner Mutter. Wir sollten morgen miteinander sprechen. Aber ich muss… ich muss das alles verdauen.“ Ich nicke. Na wenn das so ist, dass ich ihm nicht dabei helfen kann… dann war ich wohl doch nur die Nächstbeste. Der Teenager-Trotz kocht in mir hoch. Eigentlich sollte ich Verständnis für ihn haben. Oder einfach mal aufhören, die Gefühle anderer, über meine zu stellen. Es scheint, als wollte er nicht gehen. „Wenn sie etwas tut“, er nickt zur Haustür, „bitte melde dich sofort bei mir.“
„Ich versuch‘s.“ Wir lösen uns voneinander. Er steigt in sein Auto und sieht mich nicht mehr an. Ich sehe ihm nach, bis er um die Kurve gebogen ist. Er lässt mich hier alleine. Alle lassen mich allein. Obwohl sie wissen, was los ist. Jetzt erst beginne ich zu weinen. Es regnet. Langsam sinke ich auf die Knie in das nasse Gras.

***​
 
***

Folge 18.1 – Kraftlos

Völlig macht- und kraftlos knie ich auf nassen Untergrund, als es beginnt, zu gewittern. Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen. Ich kann nicht aufstehen. Meine Schultern beben, mein ganzer Körper zittert. Ich bin unfähig irgendwas zu tun. Erst jetzt merke ich, wie sehr ich ihn nun gebraucht hätte. Ich fühle mich so unendlich allein gelassen. Die Erinnerungen an seine Umarmung verblassen bereits und werden mit dem Regen weg gespült. Alles nur geträumt?

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Hinter mir geht die Haustür auf. Jemand läuft zu mir, packt mich an meinem Pullover und richtet mich auf. Lydia schleift mich ins Haus, drückt mich an die Wand und schließt die Tür. Ihre Hand trifft meine Wange. Regungslos stehe ich da, weine nur weiter. „Warum war dieser Mann schon wieder hier?“, fragt sie scharf. Doch es liegt auch Angst in ihrer Stimme. Ich kann nicht sprechen. Meine Stimme bebt.

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Noch einmal ohrfeigt sie mich. Schwächer als zuvor. Es ist mir so egal. „Er – hat– mich – nach“, ich schluchze zwischen jedem Wort, „Hause.“ Bringe ich noch raus, als die Hand erneut hebt, um mich zu tadeln. „NEIN!“, kreische ich ihr entgegen, so laut, dass ich selbst erschrecke. Ich halte ihre Hand fest. Sie löst sich nicht. „Irgendwann bringe ich mich wegen dir noch um! Du bist schrecklich! Du bist ein Monster! Ich hasse dich so unendlich!“ Ich winde mich an ihr vorbei, renne die Treppe hoch und knalle die Tür hinter mir zu.


Folge 18.2 – Lydia

Es kann nicht angehen, dass Lilly ein derartiges Widerwort gibt. Aber heute ist ihr nicht nach erneuten Schlägen, nach noch mehr Tadel, nach noch mehr gespielter Wut. Sie streicht sich räuspernd über ihr Kleid, entfernt die Fussel davon. Sie geht in die Küche und betrachtet erneut die Zeitung, die unangerührt auf dem Tisch liegt. Noch immer mit dem Post-It darauf. Lilly ist Mutter so unglaublich ähnlich, denkt sie und setzt sich.

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Stets den richtigen Fokus, immer zuvorkommend. Ein kleines bisschen schreibt sie es ihrer eigenen Erziehung zu. Lydia ist stolz auf den Menschen, der sie ist. Auf das, was sie erreicht hat. So jung. Und das trotz allem. Trotz der Diagnosen und dem Gewäsch der Ärzte. Sie nimmt es in Kauf, dass niemand lange bei ihr bleibt. Dass sie niemals in den Genuss einer lang währenden Liebe kommen wird. Niemals Kinder haben wird. Obwohl sie bereits zwei Mal schwanger gewesen ist. Von ihrem Ex-Chef. Nun sitzt er ohne Frau und ohne Job in irgendeiner Wohnung in der Stadt. Ein totaler Vollversager.
Warum auch sollte sie mit Lilly sorgsamer umgehen, wenn man mit der gleichen Weise bei ihr zum Erfolg gelangt ist? Lydia ist erfolgreich. Mit Liebenswürdigkeit verdient man sich keinen Respekt und auch kein Geld. Lilly braucht eine gute Ausbildung, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Beinahe zerbricht sie die Kaffeetasse. Wenn die Kleine zu diesem Polizist geht und ihm alles erzählt… ihre Kollegen wissen nicht mal, dass sie eine Schwester hat. Aber sie weiß nicht alles. Sie kennt nicht die ganze Wahrheit.

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Oh ja, alles für Lilly. Die liebe, süße Lilly, die ihrer Mutter so unglaublich ähnlich sieht. Lydia ist nichts als das Produkt der Jugendliebe, dieses Versagers, der heute in einem 1-Zimmer Saustall irgendwo in Spanien hockt und sich das Futter mit seinen drei Hunden teilt. Wie jetzt ihr Chef. Ein totaler Versager eben. Lydia hat es allen gezeigt. Und keiner hat es gesehen. Weil Lilly ja so hübsch malen kann. Sie würde nie verstehen, was alle an ihr finden. Sie seufzt. Nach Mutters Tod ist alles anders geworden.

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Keine Liebe mehr, keine Zuneigung. Lilly hier, Lilly da. Lydia bekam für alles eine geschossen. Wurde für alles bestraft. Und keiner hat’s gesehen. Sie konnte nicht anders, als dieses Gör zu hassen. Ihr ein kleines bisschen dessen zurück zu geben, was sie mit Lydias Leben gemacht hat. Wenn ich breche, wirst du auch brechen, denkt sie. „Du bist ein Monster!“, hört sie Lilly in Gedanken schreien und schluckt ihre Tränen mit dem Orangensaft.

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Tränen gibt es nicht in diesem Leben. Wie Menschen weinen können? Lydia zeigt keine Gefühle. Lydia hat keine. Schon lange nicht mehr.

***
 
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Wenn ich schon mal eingeloggt bin, hier noch ein Danke für das Kapitel.

Zu Lydia kann ich leider irgendwie so gar nichts sagen. Auch wenn man hier nun ansatzweise etwas mehr über sie erfährt. Sie ist und bleibt mir aber weiterhin unsympatisch.

Lilly habe ich mir mal spasseshalber als ungespielten Sim in die Welt geholt. Sie hat sich von sich aus für eine Karriere bei der Polizei entschieden. :)
 
  • Danke
Reaktionen: Psychodoll1991
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Folge 19 – Liebe

Ich liebe dich im freien Fall,
wenn du dich immer mehr entfernst.
Ich seh‘ dich kaum und hör dich nicht,
bis du mich wirklich lieben lernst.


© Psychodoll1991

*

Mein Telefon vibriert. „Ich hätte dich jetzt gerne bei mir“, schreibt er. Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Ich will es auch nicht wissen. „Ich dich auch“, antworte ich dennoch. Etwas Gutes muss es geben. Etwas, an das ich mich klammern kann. Er antwortet nicht mehr. Ich überlege, zur Brücke zu gehen. Einfach hinunter zu sehen. Ich überlege, wie ich es schaffe, dieses Leben zu ertragen. Lydia hat nicht darauf reagiert, dass ich mich gewehrt habe. Vielleicht war sie aber auch nur geschockt. Vielleicht ist das jetzt aber auch eines der guten Dinge, die in den letzten drei Woche passiert sind.

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Ob meine Schwester mich liebt? Und wenn nicht, warum nicht? Ich würde so gerne wissen, was für ein Mensch sie ist, wenn sie nicht bei mir ist. Kann sie auch nett sein? Oder vielleicht sogar liebevoll? Wie oft sie mich wohl noch schlagen wird, bis ich hier ausziehe?
Ich richte mich auf. Die Schwerkraft zieht mich mit aller Kraft zurück auf das Bett, doch ich kann hier nicht bleiben. Ich ertrage dieses Haus nicht. Nicht die Leere, die Gewalt, nicht Lydia und auch nicht dieses Leben. Ich ziehe mir eine frische, wärmere Hose an, ein neues Shirt und eine wasserfeste Jacke. Ich stecke mein Handy ein und klettere langsam aus dem Fenster, hänge mich mit den Händen an den Efeu und hangle mich langsam hinunter. Ich habe das schon hundert Mal gemacht und noch nie ist es mir so schwer gefallen, wie heute. Ich habe das Gefühl, als wäre ich schwer wie Blei. Ich hätte nicht gedacht, dass es doch so stark regnet. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding. Ich fasse nach der nächsten Ranke und muss pausieren. Ich höre ein Auto und will mich umdrehen. Dann verliere ich den Halt. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Marc aus einem Auto aussteigt. Ich schlage auf. Es ist nicht hoch bis zu meinem Fenster, denke ich noch. Die schei* Rosen hängen jetzt in meiner Jacke. Ich spüre eine Hand an meiner. Höre jemanden, der meinen Namen sagt. Dann wird alles schwarz.

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*

Um mich rum ist es still und dunkel. Mir ist kalt und meine Haare sind nass. Ich könnte hundert Jahre schlafen. Jemand öffnet eine Tür und stellt etwas neben mich. Gott, ich habe so einen Durst. Ich versuche mich zu bewegen, doch ich fühle mich wie geknetet. „Schhh“, flüstert eine Frauenstimme, „Liebes, bleib einfach liegen, wir kümmern uns um dich.“ Ich versuche die Augen zu öffnen. Sie fühlen sich aufgequollen an vom vielen Weinen. Es ist so dunkel. Mein Kopf tut weh.

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Ich versuche es immer wieder, bis ich es schaffe und die Augen öffne. Maria rutscht einen Stuhl ans Bett. „Wo bin ich? Bei euch zu Hause?“
„Marc hat dich her gebracht. Er ist grade bei dir zu Hause und holt deine Sachen.“ Mit einem Mal bin ich hellwach. Starr vor Schock. Ich möchte mir die Konsequenzen nicht ausmalen, die es hat, wenn Marc mit Lydia spricht. Ich will mich aufsetzen, doch die Kraft verlässt mich .

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„Schhh“, sagt sie wieder und gibt mir etwas zu trinken. Ich trinke das Glas in einem Zug leer. „Aber-“
„Du wirst jetzt erstmal hier bleiben. Da gibt es keine Widerrede. Wenn du dich selbst gefährdest, um dort raus zu kommen, dann ist es höchste Eisenbahn“, sie sieht verlegen auf den Boden. Ich weiß, was sie sagen will. Dass es ihr Leid tut. Dass sie es nicht gesehen, oder gemerkt hat. Dass sie nichts getan hat. Ich höre, wie die Tür geht und horche auf. Maria hechtet sogleich die Treppe hinunter und eine Tür wird geöffnet. Ich höre den Regen. Langsam schaue ich zum Fenster. Verschwimmen sehe ich den Regen an die Scheibe schlagen. Es donnert. „Ich musste mir gewaltsam Zutritt verschaffen“, höre ich Marc sagen, „aber sie blieb sehr ruhig und reserviert. Ich habe einfach gepackt, was ich mir schnappen konnte. Und ihren Schulkram.“
„Ich hätte nie gedacht, dass ihre Schwester ein solches Biest ist“, ich muss schmunzeln. Da kennst du sie aber schlecht. Ich lausche den schweren Schritten, die sich zur Treppe bewegen. Marc kommt zur Tür herein und sieht mich an. In seinem Blick liegt so viel. So viel Wärme und Trauer, Liebe und Wut. Alles zusammen. „Ich hatte dir doch gesagt, du sollst mich anrufen“, er setzt sich neben mich auf einen pinken Stuhl. Nun bemerke ich erst, wo ich bin. Ich liege in Judy’s Bett. In seiner Stimme liegt mehr Wut, als Sorge. „Wir bringen dich jetzt doch ins Krankenhaus. Sicher ist sicher.“
„Ich weiß, wie sich eine Gehirnerschütterung anfühlt. Mir fehlt nichts. Ich brauche nur Schlaf. Am besten ein Jahr lang.“ Er lächelt mich an und mir wird ganz warm. "Du bist eine echte Kämpferin, nicht wahr?"

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Er rückt näher und nimmt meine Hand in die seine. „Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, als ich gefahren bin. Es tut mir sehr leid, dass ich dich dort gelassen habe.“
„Marc, ich kann nicht hier bleiben. Sie wird dafür sorgen, dass Judy ihren Therapieplatz verliert und du deinen Job-“
„Du bist sicherlich wichtiger, als mein Job.“ Er sieht aus, als wolle er sich auf den Mund schlagen. War das irgendwie grade sowas, wie ein Geständnis? Ich lächle verhalten. Und er lächelt zurück.

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„Als du mir schriebst, bin ich sofort ins Auto gestiegen. Ich musste dich einfach sehen. Und als ich dich dann fallen sah, blieb mir fast das Herz stehen. Als ich bei dir war, warst du schon ohnmächtig.“ Alles, was bei mir hängen bleibt, ist Ich musste dich einfach sehen. Mein Herz schlägt so schnell. Er ist so nahe. Jetzt gerade. Ist das brüderlicher Schutz? Ist das Kribbeln im Bauch, wie das, was ich grade fühle? Was geht in ihm vor? „Warum hast du mich nach unserem Kuss ignoriert?“ Er wirkt nicht überrascht, doch er hält kurz den Atem an. „Na, was glaubst du denn“, lacht er auf, „du bist 17, Lilly. Und die beste Freundin von meiner kleinen Schwester. Ich fühlte mich schon fast erwachsen, als ich dich kennenlernte. Du hast mit Puppen gespielt und ohne Badeanzug in unserem Planschbecken geplantscht. Weißt du, wie befremdlich es ist… Gefühle für so jemanden zu haben? Und das noch so plötzlich?“

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Er lässt mich los und lehnt sich zurück. „Und es ist… auch jetzt noch merkwürdig. Vielleicht sollten wir einfach beobachten wie sich alles entwickelt. Ich habe meinen Job und du deine Ausbildung. Du hast sicherlich genug Probleme gerade.“ Eigentlich habe ich grade nur das Problem, dass er so sinnlos daher labert. Er bemerkt offensichtlich, wie ich mich fühle. Vielleicht sehe ich auch genauso aus. Er nimmt sogleich wieder meine Hand. „Das ist kein ja und kein nein. Aber ich muss mich an diesen Gedanken gewöhnen. Es gibt grade so viel zu regeln. Judy…“ Dinge sind manchmal so viel einfacher als Teenager. Wenn du Gefühle hast, bist du so impulsiv, dass du einfach nach ihnen handelst. Du überlegst nicht. Du tust es einfach. Es gibt kein falsch und kein richtig, keine Konsequenz. Grade will ich so vieles einfach tun. Alles außer meine Hand zurückziehen. Doch ich tu es. „Okay, sehen wir mal, wie das weitergeht.“ Wie soll das schon weitergehen? Irgendeiner wird irgendwann den ersten Schritt machen, oder wir verabschieden uns in ein paar Jahren in die Friendzone, wenn er eine erfolgreiche Frau aus seinem Team heiratet. Er lächelt mich an. Irgendwie bricht etwas in mir.

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Das war kein nein, Lilly, sage ich mir. Aber er kommt mir grade so entsetzlich weit weg vor…

***
 
Deine Geschichte ist echt fesselnd. Ich kann es kaum erwarten, dass es weiter geht.
Ich habe so eine Wut auf Lydia... ich ... argh... da möchte man wirklich eingreifen und Lilly helfen.

Ich würde mich freuen, wenn du mich benachrichtigen würdest. :)
 
und Marc weiss wohl auch nicht was er will. :what:
Rast zu Lilly weil er Sie unbedingt sehen musste und krebst dann zurück, wenn sie sich gegenüber stehen (bzw. sitzen).

Bin echt gespannt, wie das alles weiter geht.
Auch interessiert mich, wie es Judy geht nach der Hiobsbotschaft.
 
Vielen Dank für eure Antworten :) Ja, Marc ist merkwürdig und ich möchte das auch. Ich bin gespannt, wenn wir am Ende der FS darüber diskutieren können.

Judy ist hart im Nehmen, auch wenn sie nicht so wirkt :)

Habe hier ein etwas Befremdliches Outtake-Bild für euch ;)

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Folge 20

***

Folge 20.1 – Diagnose

„Hast du denn öfter Kopfschmerzen in letzter Zeit?“, fragt Dr. Benz. „Nunja, ich bin vor gar nicht allzu langer Zeit auf den Kopf und gestern aus dem Fenster gefallen.“
„Beantworte einfach die Frage.“ Ich seufze. „Ja, schon.“
„Andere Beschwerden, außer der Müdigkeit? Psychische Beschwerden?“ Nicht, dass ich nicht damit gerechnet hätte. Aber sowas kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Gespielt überrascht, mit einem süßlichen Augenrollen, sehe ich ihn an.

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„Lilly, du erzählst mir, du bist gereizt, ständig müde, dir wird oft schwindlig, du hast Schwächemomente. Eine Reihe von Krankheiten passen auf diese Symptome. Auch psychische.“ Ich möchte brechen. „Nein. Sicherlich bin ich nicht psychisch krank.“
„Ist dir ein Hirntumor lieber?“ Es würde in der Familie liegen, möchte ich sagen. Ein bitterer Gedanke. Doch ich sage nichts, zu perplex für Worte. Er lehnt sich nach vorn. „Lilly, ist es wegen Judy? Da steckt doch mehr dahinter?“, warum wollen mir jetzt plötzlich alle helfen?! Es nervt mich, so bemuttert zu werden. Ich kann selbst auf mich aufpassen, habe es Jahre lang und keine Sau hat sich dafür interessiert. Mit Ausnahme von Judy natürlich. Nicht, dass mich das je gestört hätte. Jetzt so gelöchert zu werden, tut es allerding. Mir wird schwindlig, doch ich bewahre die Fassung und lächle unnahbar.

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„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung mit mir. Ich fühle mich nur zu schlapp, um arbeiten zu gehen. Vermutlich kommt eine Grippe, oder sowas.“ Er will etwas sagen, doch er lässt es. „Schön. Ich schreibe dich eine Woche krank. Weil ich denke, dass du es brauchst, weil ich dich schon lange kenne und denke, dass du es brauchst. Bitte komm jederzeit, wenn du ein Anliegen hast. Und wir nehmen dir Blut ab. Ich will wissen, was los ist. Es könnte das pfeiffrische Drüsenfieber sein, eine Stoffwechselkrankheit, oder eben etwas Psychisches“, sagt er, während er schreibt, „persönliche Verordnung von mir: du tust dir nur Gutes, versuchst an der frischen Luft zu sein, genug schlafen, genug trinken. Wie ist deine Ernährung?“
„Ich bin Vegetarierin. Esse viel Gemüse und Nudeln.“

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„Gut. Nimm ausreichend Kohlenhydrate zu dir, aber langkettige und nicht zu viel. Tofu. Keine Weizenprodukte, lieber Vollkorn. Viel Gemüse. Stell dich am besten dauerhaft darauf um.“ Das sollte kein Problem sein. Das tu ich sowieso schon. Ich nicke. „Ich werde dich anrufen, wenn die Ergebnisse da sind. Bereite dich darauf vor, dass es einige Tage dauern kann. Wenn es dir am Freitag noch immer nicht gut geht, komm bitte nochmal her. Die Wunde an deiner Wange sieht nicht tief aus – lasse sie, wenn möglich, an der Luft.“ Ich nehme die Krankmeldung entgegen. Schon wieder eine Krankmeldung… ich hoffe, mein Chef macht keine große Sache daraus. Bis ich ihn anrufen muss, habe ich noch zwei Tage Zeit. Es ist ja erst Samstag.

*

Als ich wieder in Marias Haus trete ist Marc bereits fort. Ich bin bitterlich enttäuscht. Mir ist nach weinen zu Mute und langsam nervt mich das ganz enorm. Es wird Zeit, dass Judy wieder nach Hause kommt, doch darauf müssen wir ganz sicher noch vier, vielleicht sogar sechs Wochen warten. Niemand ist zu Hause. Dieses Haus ist dennoch um ein vielfaches tröstlicher, als mein eigentliches Zuhause. Was auch immer "Zuhause" bedeuten mag.

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Was Lydia wohl macht? Ob sie doch irgendwie traurig ist? Oder wütend? Oder ist sie nur erleichtert? Hoffentlich ruft sie Oma nicht an. Ich nehme mir einen Apfel und lege mich auf Judy’s Bett. Ich beschließe, sie anzurufen und tatsächlich geht sie sogar ran. „Hallihallo“, flötet sie mir entgegen. „Hey Judy“, ich klinge müder, als beabsichtigt und könnte mit einem Mal einschlafen. „Und, wie schläft es sich so in meinem Prinzessinnenbett?“ Ich muss lachen. „Wirklich gut, danke. Aber, es ist so pink, ich sehe in meinen Träumen schon Einhörner.“

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Wir lachen kurz und selig. „Erzähl! Was ist passiert? Hast du es ihr richtig gegeben?“, ich muss kichern. „Eher dein Bruder. Ich habe nur den sterbenden Schwan gemimt und bin aus dem Fenster gefallen.“
„Wie bitte? Warum das denn?“ Ich kann ihr schlecht erzählen, dass ich unterwegs zu einer Brücke war mit der eventuellen Aussicht, dort runter zu springen. Zumindest nicht jetzt und eigentlich war das Ganze so impulsiv, dass ich mir das generell sparen kann. Ich bin erschöpft und glücklich, wie es nun gekommen ist. „Ich wollte abhauen und bin aus dem Fenster geklettert. Ich verlor den Halt und fiel. Marc hat mich eingesammelt und zu euch gebracht.“

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„Und was hat er da gemacht?“ Ich schweige. „Ääh“, sage ich, „so genau weiß ich das auch nicht. Frag ihn.“ Bescheuerter geht’s nicht, aber was Besseres fällt mir grade wirklich nicht ein. „Ich habe langsam das Gefühl, er kümmert sich besser um dich, als um mich!“, lacht sie. Oh nein!, will ich sagen, doch ich lasse es lieber. Meine Hand prickelt und ich muss an gestern denken. Ich musste mir gewaltsam Zutritt verschaffen, hatte er gesagt. Hätte er das auch für jemand anderen getan? Mein Herz schlägt unheimlich schnell. Ich möchte ihn so gern wieder sehen. Doch in meinem Zustand wäre eine Stunde Zug fahren wohl keine besonders gute Idee. Und sicherlich wäre das unserer Abmachung auch nicht zuträglich. Ich glaube nicht, dass das viel Sinn hat… mal wieder beschließe ich, ihn zu vergessen. Sicherlich ist es auch dieses Mal hoffnungslos. „Lil‘?“
„Ja, was?“
„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie störe Miss Pierce, aber ich spreche mit Ihnen! Ich sagte gerade, dass deine Schwester hier war! Sie ist auf einem Foto im Aufenthaltsraum!“


Folge 20.2 – Lydia II

„Sie wissen, was ich für Sie getan habe. Ich verlange, dass ihre Behandlung sofort eingestellt wird!“ Das gibt es doch nicht. Ohne Lydia hätte diese schei* Station letzten Herbst dicht machen müssen und nun streitet sie sich mit einem Befehlsempfänger. „Es tut mir wirklich leid, Miss Pierce, wir sind Ihnen sehr dankbar. Aber wir können kein schwer krankes Kind entlassen, wenn es dazu keine Veranlassung gibt.“ Lydia legt auf. Seit zwei Wochen versucht sie nun dieses Gör aus dem Krankenhaus zu bekommen. Und niemand will ihr helfen. Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Kaffee und geht in ihr Zimmer.

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Lilly wird ihre gerechte Strafe irgendwann schon bekommen. Aber jetzt, wo sie weg ist, gibt es keinerlei Anspruch mehr auf Lydias Hilfe. Sie hat Catherine versprochen, für Lilly zu sorgen, solang sie unter einem Dach wohnen. Erledigt. Finite. Geldmittel eingestellt. Einmal im Jahr Paris kann kommen, Lydia. Auf dem Bett liegt die Box mit all den Briefen der letzten Jahren. Sie hat sie alle noch einmal durchgelesen, versucht zu weinen, doch versagt. Mit dem letzten Brief ihres Vaters wird sie anfangen. Sie nimmt die Papiere und geht ins Badezimmer. Sie nimmt ihr Feuerzeug aus der Tasche und verbrennt einen Brief nach dem anderen. Danach die Fotos.

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Niemand wird es je erfahren. Wenn dieses kleine Miststück jemals erfährt, dass Lydia in der Klinik war, dauert es nicht lang, bis sie erfährt, warum. Und wenn es nur einer weiß, muss er mundtot gemacht werden, so schnell es geht. Jetzt wo Lilly weg ist, kann sie endlich so leben, wie Lydia es will. Und das wird ihr niemand kaputt machen.

***
 
Ach, die Lydia war also in Behandlung? Hat wohl tatsächlich nicht alle Latten am Zaun, die Gute. Na da bin ich ja gespannt, was auf die gute Miss Pierce noch zukommt. =)
 
Ich bin begeistert von deiner Story...bei meinen Storys schreibe ich einfach ziehmlich nah an der "echten" Simstory im Spiel. Ich bin aber noch nicht auf die Idee gekommen einfach Bilder aus dem Spiel zu einer völlig anderen Story zu verknüpfen.Ich muss jetzt gleich weiter lesen...und freue mich auf den Moment in dem ich endlich auch den Danke-Button nutzen kann (dieser Post hilft mir wohl dabei)...Danke Danke für die tollen Ideen!!!
 
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Vielen Dank für dein Tolles Feedback <3 Ja, diese Szene mag ich auch sehr, danke! :) Morgen folgt ein neues Kapitel. Muss nur noch bearbeiten :)
 
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Folge 21 – Bis ins Detail

Schattenspiel der Nacht.
Aus den Tiefen der Seele
drängt Wahrheit ans Licht.


© Helga Schäferling

*

„Möchtest du mir vielleicht mitteilen, warum du das Gespräch nicht DAMIT angefangen hast?“ Lydia ist in der Klinik gewesen? Wann? Warum habe ich das nicht mit bekommen und seit wann ist sie so unvorsichtig und lässt Bilder mit sich in einer solchen Einrichtung aufhängen? Vielleicht hat sie sich nichts dabei gedacht und ihr Einverständnis gegeben… vielleicht ist sie auch gar keine Patientin gewesen. „Ich will Details“, sage ich bestimmt, aber freundlich.

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„Es kann noch nicht lange her sein. Etwa um die Zeit, als dein Opa gestorben ist, aber ganz sicher, bevor deine Oma in das Heim kam. Sie sieht aus, als wäre sie in deinem Alter“, ich seufze enttäuscht. Dass sie nach Opa’s Tod in eine psychiatrische Klinik gegangen ist, erscheint mir jetzt nicht als eine totale Überraschung. Ich erinnere mich an ihre angebliche Lehrabschlussreise. Oma’s Antrag auf einen Platz im Heim war zu dem Zeitpunkt noch nicht genehmigt (das ganze zog sich fast ein Jahr und wir lebten von Lydia’s Ausbildungsgehalt und Oma’s Rente) und ich konnte mich um mich selbst kümmern. Wenn ich mich recht erinnere, war Lydia auch die treibende Kraft hinter Oma’s „Abschiebung“ ins Heim… frisch volljährig.Und sie war auch nicht auf der Beerdigung von Opa. „Ich muss irgendwie rausfinden, warum sie dort war.“

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„Ich würde dir ja gerne helfen, aber die unterliegen alle ihrer schei* Schweigepflicht. Aber wenn ich mich nicht irre, ist eine Patientin auf dem Bild in meiner Kunsttherapie. Sie scheint nicht wirklich gesprächig…“
„Es wäre toll, wenn du es probieren könntest, Judy“, ich kann förmlich hören, wie sie lächelt. „Eine Aufgabe! Wir sind Lil und Judy! Furchtlose Detektivinnen!“ Es fühlt sich so unendlich gut an, sie lachen zu hören. Sie zu verlieren, wäre mein Ende. Plötzlich gerät Marc in Vergessenheit. Wenn ich sie habe, habe ich alles, was ich brauche. Ich mache meine Ausbildung zu Ende, suche mir eine Wohnung und kaufe mir endlich eine Katze. Und irgendwann läuft mir jemand über den Weg, in meinem Alter, mit meinen Interessen. Oder ich ziehe mit Judy in eine WG. Plötzlich fühlt sich die Welt besser an.

*

Ich habe mich auf der Couch zusammen gekauert und stochere in Marias Nudelauflauf herum. Mir ist nicht wirklich nach Essen, obschon ich Hunger habe. Maria sitzt neben mir und wir schauen eine Castingshow mit singenden Menschen. Eigentlich interessiert mich sowas nicht, aber die haben wenigstens was drauf. „Ich weiß, dass du den Brief gefunden hast Lilly.“ Ich stelle sofort das Essen ein.

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„Der Brief lag ganz oben in der Kiste“, sie lächelt mich an. „Es ist schon okay. Vielleicht war es so ganz gut. Du konntest sie trösten. Ich hatte geplant, es ihr in diesem Gespräch zu sagen. Oder in einem Einzelgespräch“, fügt sie hinzu und wirkt traurig, „ich wollte auch eigentlich nicht, dass Marc dabei ist. Ich wusste, er würde so reagieren. Er spricht auch nicht mehr wirklich viel mit mir und ist jetzt irgendwie seltener da.“

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„Ich hätte es ihr nicht gesagt. Bis auf weiteres jedenfalls“, antworte ich und stelle meinen Teller bei Seite. „Sei nicht albern. Ihr seid beste Freundinnen. Ich wäre enttäuscht, wenn du es ihr nicht gesagt hättest. Aber ihr müsst mich verstehen. Der Mann hat sich regelmäßig den Kopf weg geschossen und die Dealer mit in unser Haus gebracht. Als Judy mit vier Jahren in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste, weil sie die Päckchen mit weißen Pulver in seiner Nachttischschublade für Brause hielt und eins auf geleckt hat, musste ich ihn einfach loswerden. Er war so oft ausgezogen, Lilly. Doch er kam immer wieder zurück und ich habe ihn immer wieder rein gelassen, weil er mir versprochen hatte, sich zu ändern.“

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„Aber jedes Mal ging es wieder von vorne los. Bis wir Judy fast verloren“, ihr Augen werden glasig und sie wendet den Blick von mir ab, „wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass es nicht das letzte Mal sein würde… und dass all das dazu führt, dass sie sich zu Tode hungert…“ Jetzt will ich auch weinen. Der Gedanke daran, dass sie sterben könnte, bricht mir mein Herz. Keiner von uns würde sich davon je erholen.

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Eisige Stille scheint Raum und Zeit einzufrieren. „Und wie geht es nun weiter?“ Sie lacht verbittert auf. „Marc forscht, weil er sich weigert, mich zu fragen. Judy will ihn kennenlernen. Ich konnte mich bis jetzt noch nicht dazu durchringen, ihr seine Adresse zu geben.“ Mir fällt ein, dass Judy nicht mit mir darüber spricht. Und ich habe sie nicht gefragt. Ich habe so viel mit mir zu tun, dass ich vergessen habe, meine beste Freundin nach ihrem toten und nun doch wieder lebendigen Vater zu fragen. Das schlechte Gewissen übermannt mich, wie eine Abrissbirne. Maria steht auf und trägt unsere Teller in die Küche. Sie räumt sie in die Spülmaschine und wendet sich wieder mir zu.

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„Ich gehe ins Bett, Lilly. Du kannst gerne noch fernsehen.“ Ich nicke und sie verlässt den Raum. Ich drehe mein Handy in der Hand hin und her. Er hat sich nicht mal verabschiedet – soviel zu sehen, wie es sich entwickelt. Ich beschließe, ihm zu schreiben. Ich hätte dir gerne auf Wiedersehen gesagt, tippe ich. Vielleicht ist es aber besser so. Vielleicht wollte er mich nur hinhalten und eine Ausrede finden, um zu gehen und hofft nun, es verläuft sich im Sand. Aber was hätte das für einen Sinn? Warum hätte er mich küssen wollen, wenn er mich nicht zumindest so viel begehrt, dass er mit mir ins Bett will? Wenige Minuten später, erhalte ich eine Antwort. Ich wäre nicht gegangen, hätte ich dich nochmal gesehen. Eine Gänsehaut bedeckt meinen ganzen Körper mit einem wohligen Schauer. Ich weiß einfach nicht, was ich von all dem halten soll und doch macht es mich so glücklich, das zu lesen.

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Bevor ich mich mit meinem ganzen Leben wieder völlig allein auseinandersetzen muss, hilft es vielleicht, einfach kurz selbiges zu genießen. Ungeachtet dessen, wie es weitergeht. Es gibt also auch Tage, die vielleicht sowas wie gut enden können.

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Hi...danke für den neuen Post...(hab den Button noch nicht deshalb so)
Bin gespannt wann das mit der Katze klappt!!Ich hoffe sehr das Lillys Geschichte jetzt langsam und stetig bergauf geht und nicht so oft zurück. Ihrer Schwester dagegen.......!!!! Bin trotzdem gespannt wie es mit Ihrer Geschichte weitergeht....vorallem die Hintergründe die Lydia zu dem macht was Sie ist. Deine Andeutung das auch sie geschlagen wurde? Mal schauen von wem!
 
Eigentlich ist das Kapitel, ja eher unspektakulär, aber enthält einige spannende Informationen.
Ich denke Judy könnte sogar dankbar sein, dass sie nicht über ihren Vater reden musste, und etwas Normalität und Ablenkung durch Lilly gewinnt.

Zu Marc... wetten, dass er beim nächsten Zusammentreffen mit Lilly wieder reservierter ist? Hach ja, Männer! :D

Auf jedenfall machst du es sehr spannend. Freue mich somit schon auf das nächste Kapitel.
 

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