Chapter Three
Immer schneller ging ich. Immer weiter weg wollte ich. Ich konnte nicht glaube, was ich gehört hatte. Es gab also jemanden, der von meiner Existenz wusste und der zusätzlich noch meine Vergangenheit kannte.
Ich hatte immer gedacht, ich wäre alleine, könnte mich an niemanden wenden, der uns hätte helfen können. Aber es war nicht so. Es gab jemanden, der wusste, dass es uns schlecht ging, dass wir geschlagen wurden, aber dieser jemand half uns nicht. Betty hatte uns nicht geholfen.
Meine Wut verwandelte sich langsam in tiefe Trauer. Ich wollte nicht weinen, aber ich konnte es nicht mehr zurückhalten, sackte zusammen und weinte ohne Unterbrechungen. Viele Passanten, die vorbei gingen, sahen mich entweder bemitleidend an oder kopfschüttelnd, als dachten sie, hier sitzt ein Irrer, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle bekam.
Nach einigen Minuten konnte ich mich wieder fassen und ließ alles noch mal, wie ein Kinofilm, Revue passieren. Betty wusste also wer ich war, dann kannte sie also die ganze Wahrheit, aber immer wieder kam mir eine einzige Frage in den Sinn.
Warum hatte sie uns nicht geholfen? Wieso hatte sie nicht versucht, meine Mutter und mich aus diesem Elend rauszuholen? Aber dann fiel mir was ein. Hatte sie nicht gesagt, dass es ihr nicht gelungen sei, mich da rauszuholen? Mein Interesse war geweckt. Auch wenn ich Angst vor der Wahrheit hatte, wollte ich doch die Wahrheit wissen. Ich wollte einfach alles wissen und nur Betty konnte es mir erzählen.
Eilig ging ich wieder zurück, doch vor Bettys Haus blieb ich abrupt stehen. Ich hatte auf einmal ein Gefühl zwischen Wut und Angst in mir, was immer stärker wurde. Ich musste es aber unterdrücken, um nicht auszurasten. Ich wollte ja den alten Ethan hinter mir lassen, auch wenn es in diesem Moment ziemlich schwer war.
„Ich will, dass du mir sofort alles erzählt und keine Lügen!“, sagte ich forsch, als ich die Tür aufmachte. Zuerst war sie erschrocken, aber als sie mich sah, strahlte und weinte sie zugleich und fiel mir um den Hals.
„Ich hatte so Angst, dass du nicht zurück kommst, Ethan.“, erwiderte sie, aber ich schob sie von mir weg.
„Ich will die Wahrheit und zwar sofort.“, setze ich mit dem gleichen Ton fort.
„Okay Ethan. Setzen wir uns doch in den Garten, dann kann ich dir alles in Ruhe erzählen.“, sagte sie. Ich schwieg darauf und folgte ihr. Wir setzten uns auf zwei Decken, die wir hier ausgebreitet hatten. Noch einmal atmete ich tief ein und versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
„Warum hattest du Mama und mir nicht geholfen?“, fragte ich sie nun endlich und war auch total froh, dass diese Frage nun endlich raus war.
„Ich habe versucht euch da rauszuholen, Ethan. Das musst du mir glauben.“, antwortete sie darauf und fügte schnell hinzu: „Mir ist es aber nicht gelungen. Lass mich aber bitte von Anfang an erzählen.“ Ich nickte nur und wartete, bis sie anfing.
„Zuerst muss du wissen, dass dein Vater mein Halbbruder ist Ethan. Wir hatten von Anfang an kein gutes Verhältnis. Seine Eltern ließen sich scheiden, kurze Zeit später lernte sein Vater meine Mutter kennen, die fünfzehn Jahre älter war, als sein Vater selbst. Mit der Scheidung kam er nicht klar und als sein Vater, also dein Opa, sich auch noch meine Mutter verliebte und sie heiratete, kam er noch weniger damit zurecht. Die Zeit danach war einfach nur die Hölle. Er hatte uns immer das Leben schwer gemacht, war kriminell und fing mit dem Alkohol an. Irgendwann hat sein Vater ihn rausgeschmissen und den Kontakt abgebrochen. Dein Vater stürzte immer tiefer in den Alkohol, bis er deine Mutter kennenlernte. Auf dem ersten Blick war er in sie verliebt und sie auch in ihn. Das einzige Problem war aber der Alkohol und somit stellte deine Mutter ihm ein Ultimatum. Er musste eine Therapie machen um sein Alkoholproblem in den Griff zu bekommen, erst dann hatte die Beziehung eine Chance.“
„Was geschah dann?“, fragte ich mit einem neugierigen Unterton, den ich mir in dem Moment nicht verkneifen konnte.
„Er hatte eine Therapie gemacht, die erfolgreich war. Deine Mutter ist mit ihm zusammen gekommen, sie haben geheiratet und dich bekommen. Aber eines Tages verlor er seinen Job und seitdem ist er wieder rückfällig geworden.“
„Und seine Aggressionen und Wutanfälle hatte er an Mama und mir ausgelassen.“, ergänzte ich traurig.
„Leider ja, Ethan. Eines Tages kam ich an seinem Haus vorbei, ohne zu wissen, dass er da überhaupt wohnte. Wir hatten ja keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Ich habe dann mitbekommen, wie er deine Mutter und dich misshandelte. In dem Moment blickte deine Mutter zu mir mit einem wehleidigen Blick und ich sah in ihre Augen, die du jetzt hast. Ihr Blick sagte mir, dass sie wollte, dass ihr Hilfe brauchtet. Und da ich meinen Neffen und meine Schwägerin da rausholen wollte, habe ich angefangen zu recherchieren. Ich hatte dann das Jugendamt und die Polizei eingeschaltet, die dann bei euch vorbeikamen. Aber er war darauf vorbereitet und spielte dann die heile Welt. Deine Mutter war zu eingeschüchtert, um etwas zu sagen und du warst einfach zu klein, um dich zu wehren. Ich hatte so eine Wut, als das Jugendamt und die Polizei nichts unternommen hatten und hatte immer wieder aufs Neue versucht die beiden Ämter einzuschalten, aber die hatten einfach nichts unternommen. Die Polizei sagte nur, dass sie Beweise bräuchten, um einzugreifen und die hatte ich nicht.“
Traurig blickte sie zu Boden. Ich sah ihr an, dass sie Schuldgefühle hatte, obwohl es ja nicht ihre Schuld war.
„Ethan, ich kann die Vergangenheit so wenig, wie du ändern. Aber ich möchte dir gerne helfen. Du solltest dir dein eigenes Leben aufbauen und so gestalten, wie du es möchtest. Aber alleine schaffst du das nicht und darum biete ich dir meine Hilfe an. Du kannst vorerst solange hier bleiben, wie du willst. Natürlich nur, wenn du es selber möchtest. Ich will dich nämlich zu nichts zwingen und zudem würde ich mich sehr freuen, wenn du bei mir bleibst. Dann bin ich auch nicht mehr so alleine.“, sagte sie zu mir und lächelte mich hoffnungsvoll an.
„Ich muss mir das erst mal durch den Kopf gehen lassen.“, meinte ich nur darauf.
„Kein Problem. Lass dir so viel Zeit, wie du willst.“, antwortete sie darauf und ging wieder ins Haus rein.
Ich blieb noch einige Zeit im Garten sitzen. Ich wusste, dass ich viel Zeit brauchte, um alles zu begreifen und zu verstehen. Es war in den letzten Tagen viel passiert. Meine Entlassung, Betty und nun die Geschichte über meinen Vater. Ich musste mir Zeit lassen, um mir klar zu werden, was ich nun wollte.
Natürlich hatte sie recht. Keiner konnte die Vergangenheit ändern, nicht ich, noch sie, noch sonst wer. Aber ich konnte meine Zukunft ändern und diese zu einem besseren Leben machen, als ich bisher kannte. Ich wollte richtige Freunde haben, mich irgendwann verlieben und vielleicht sogar heiraten und Kinder bekommen. Zudem wollte ich arbeiten gehen und später mal eine eigene Wohnung beziehen. Und was sprach dagegen, solange bei Betty zu wohnen und mich unterstützen zu lassen? Natürlich kannte ich sie nicht gut. Ich lernte sie ja schließlich kennen. Zudem war sie ja auch meine Tante.
Sie sah mir lieb und verständnisvoll aus. Ich konnte mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie etwas Bösartiges wollte und ihre Worte entsprachen für mich der Wahrheit. Also warum es nicht einfach versuchen? Was hatte ich denn zu verlieren?
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