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Folge 12 – Verschwinden
I need you to know, I'm not through the night.
Some days I'm still fighting to walk towards the light.
I need you to know, that we'll be OK.
Together we can make it through another day.
© Superchick - Courage
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Wenn ich es mir nur lang genug einrede, glaube ich sicherlich irgendwann, dass es nur ein Traum war. All das. Marc scheint das auch zu glauben, denn er behandelt mich beim Frühstück ganz normal. Als wäre nichts passiert. Aber meine Lippen täuschen sich nicht. Und die kribbeln noch immer.
Marc beschließt nach dem Frühstück wieder in die Stadt zu fahren. Ich wunder mich, dass er überhaupt noch da ist. Er wollte eigentlich gestern Abend schon fahren. Ich möchte ihm nicht misstrauen, frage mich aber, ob er das geplant hat.
Ab kommender Woche gehen für ihn wieder die Wochenenddienste los, sagt er. Jetzt, wo Judy in der Klinik ist, muss er mal wieder etwas in Vorleistung bei seinem Chef treten. Er will sofort nach dem Frühstück gehen und tut es auch. Er verabschiedet sich nicht. Dass ich an diesem Abend wieder zu Hause schlafen muss, ist aus meinem Kopf gänzlich gelöscht. Ich bin einfach nur traurig. Traurig und durcheinander. Wortlos packe ich meinen Rucksack und radle in die Küche. Ich arbeite im Hotel Schwanenhof im Zentrum der Stadt. Es ist nett dort, man behandelt mich fair und ich lerne viel.
Ich bin heute nicht bei der Sache. Verwechsle die Gewürze, schneide die Tomaten falsch. Dinge, die seit meinem zweiten Monat schon in Fleisch und Blut übergegangen sind. Mein Küchenchef, Tom, tadelt mich zwar, sucht aber das Gespräch mit mir. Ich erzähle ihm, dass eine gute Freundin im Krankenhaus liegt, was ja nicht gelogen ist. Er zeigt Verständnis und gibt mir andere Aufgaben. Wenn man sich nicht zu viele Freiheiten raus nimmt und immer pünktlich ist, kann man auch sehr viel von Tom erwarten. Mit seiner Methode und Art, erzielt er jedes Jahr die jahrgangsbesten Azubi und die meisten werden im Hotel angestellt.
Dass ich die ganze Zeit an den Kuss und Marcs Ignoranz danach denke, will ich nicht mal mir selbst eingestehen Ich versuche den gestrigen Abend aus meinem Gedächtnis zu löschen. Sicherlich war ich grade gut genug. Warum hätte er das sonst tun sollen? Es gab keine Anzeichen davor, dass er irgendwas mit mir anfangen möchte. Er sollte mir egal sein.
Montags genieße ich einen kurzen Tag und muss nur bis 14:00 arbeiten. Donnerstag und Freitag gehe ich in die Schule, natürlich außerhalb der Ferien. Für meinen kurzen Montag, gibt es einen langen Mittwoch. Bis 20:00. Bei Bedarf auch mal Samstag, aber dafür werde ich auch entsprechend entlohnt.
Anschließend fahre ich zu Judy in die Klinik. Ich kann ihr nichts erzählen von gestern Nacht. Es ist ihr Bruder und überhaupt… vielleicht wäre sie ja mega sauer? Mittlerweile weiß ich wirklich nicht mehr, ob ich es nicht nur geträumt habe…
Sie ist nicht auf ihrem Zimmer. Vielleicht hat sie eine Therapie, oder ähnliches. „Entschuldigung“, ich halte einen Pfleger an, „ich suche das blonde Mädel hier aus dem Zimmer. Judith. Sie ist wegen ihrer Anorexie hier.“ Er verweist mich an den Empfang, doch es scheint keine Stunde eingeschrieben zu sein. „Miss Gallenger darf sich seit heute frei bewegen, solang sie im Gebäude bleibt. Sie wird schon irgendwo sein. Miss… äh.“
„Lilly Pierce.“
„Miss Pierce, ich bin sicher, Judy ist hier irgendwo. Wenn Sie möchten, kann ich sie suchen lassen?“ Ich schüttele vehement den Kopf. Judy hasst sowas. Ich fühle mich nicht wohl damit, hier einfach rum zu laufen, um sie zu suchen, sicher ist das auch nicht erlaubt.
Ich gehe also raus in den Park und beschließe ein Stündchen zu warten, bevor ich wieder nach Hause gehe. Doch das muss ich gar nicht. Am anderen Ende des Geländes, am großen, geschlossenen Ausfahrtstor, sehe ich ihre (diesmal) offene blonde Mähne in der Sonne funkeln. Als ich neben sie trete, sehe ich, wie unglücklich sie ist. „Du darfst nicht hier draußen sein, habe ich gehört“, schmunzle ich. Sie lächelt. „Es ist nur ein großes Tor, aber es versperrt mir den Weg zur Freiheit“, sagt sie gespielt dramatisch und sieht mich an. „Es hilft dir, überhaupt frei zu sein, Judy.“ Sie seufzt, lässt sich auf die Knie fallen und legt sich auf den Boden. So auf dem Rücken liegend zeichnen sich ihre Rippen sogar unter ihrem Shirt ab. Ich tu es ihr gleich. „Echt jetzt, was soll das? Bin ich so krank?“, ich strafe sie mit einem vernichtenden Blick, „ja ja, schon gut…“
„Ich werde rund um die Uhr überwacht. Sie sagen, ich hätte meinen Körper schon schwer geschädigt und wenn ich so weitermache, brauche ich einen Schrittmacher. Mit 17. Möglich, dass mein Herz auch einfach stehen bleibt, wenn ich mich übergebe, so wie vor zwei Wochen.“ Sie schweigt. „Ich will das ja gar nicht. Natürlich sehe ich, wie traurig ihr seid und mir schmeckt ja auch vieles, nur ist dann irgendwie…“, sie sucht nach Worten, „… zu viel von mir da.“
„Und wenn ich möchte, dass ganz viel von dir da ist?“ Sie lacht. Ich finde das gar nicht zum Lachen.
„Ernsthaft, Judy. Ich dachte wirklich, diesmal hätten wir dich verloren. Seit du angefangen hast mit dem ganzen, habe ich sicher fünf Anrufe vom Krankenhaus erhalten und dich gut drei Mal selbst eingeliefert, weil du ohnmächtig geworden bist. Jedes Mal ist es ein bisschen schlimmer. Du weißt, ich möchte dich zu nichts zwingen, aber du hattest mir zumindest versprochen, dich nicht mehr zu übergeben. Wir wissen doch beide, wie furchtbar das für deinen Körper ist. Stimmt das Gewicht, was du mir schreibst?“ Sie nickt energisch. „Dann bedeutet das, dass du mit einem BMI von 15.4 eingeliefert worden bist. Wenn ich mich recht erinnere, warst du nur einmal tiefer. Du hast mir versprochen, nie wieder unter 45 kg.“ Ich will nicht, dass sie weint, was sie nun tut. Still und leise. Aber sie muss sich darüber klar werden.
Ich rutsche zu ihr und nehme ihre Hand. „Du weißt, dass diese Krankheit dein wahres Gefängnis ist, oder?“ Sie nickt. „Noch 6 kg dann darf ich raus“, schluchzt sie. Und dann: „ich will nicht sterben.“ Ich streichle ihr über das Haar. „Marc und ich versuchen alles, dich am Leben zu erhalten, aber du musst mitarbeiten.“ Meine ganze Haut beginnt zu kribbeln und ich befürchte, mir steigt die Röte ins Gesicht. Marc. Judy umarmt mich liegend. „Es ist das einzige, was ich kontrollieren kann. Dad ist tot, Marc ist nur da, wenn ich abstürze und Mutter schweigt alles tot. Ich bin gut in der Schule, aber… ich komme mir sonst so verloren vor.“ Ich denke nicht, dass es nötig ist, etwas zu sagen. Wir liegen noch eine ganze Weile schweigend so da. Irgendwann steht sie auf. „Wir haben gleich Gruppensitzung“, sagt sie schniefend. „Am Freitag ist Familientag zur Therapie. Ich weiß nicht, ob das auch für Freunde gilt, aber ich denke, es sind die Leute gemeint, die Einfluss auf mich haben. Wenn du möchtest, kannst du sicher auch teilnehmen.“
„Das würde mich sehr freuen“, ich lächle. Sie lächelt zurück.
*
Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich bin die Nacht nicht zu Hause gewesen und auf sehr unsanftem Wege abgehauen. Wenn Lydia jetzt zu Hause ist, weiß ich nicht, was passiert. Maria wollte mich da behalten, aber ich will wieder zurück. Irgendwo in mir kommt ein Verpflichtungsgefühl hoch. Vielleicht ist es aber auch einfach nur Angst. Ich kann mit 17 ja nicht einfach irgendwo hin ziehen. Ohne ihre Erlaubnis. Bis zu meinem Geburtstag ist es auch noch ein paar Monate hin.
Es ist niemand zu Hause. Ich bin erleichtert. Als ich die Tür öffne, höre ich nichts, außer Stille. Nirgendwo ist ein Zettel, oder dergleichen. Ich versuche zu intervenieren und zaubere Lydia etwas zu Essen. Sie sollte bald nach Hause kommen und wird den Zettel an der Mikrowelle sicherlich sehen.
Ich schnappe meinen Rucksack und betrete mein Zimmer. Alles sieht aus wie immer. Nur, dass etwas fehlt. Nein, eigentlich fehlt es nicht. Es liegt auf meinem Bett. Opa’s Bild. Der Rahmen ist gebrochen, die Leinwand angesengt. Ich brauche ein paar Sekunden, um das zu realisieren. Ich kann nicht mal weinen, setze mich einfach stumm auf den Boden. Es geht nicht mehr um Opa. Es geht um meinen letzte Trost. Hätte sie mich doch lieber tot geschlagen.
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