*FS* (one-shot) Media Vita in Morte Sumus

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Ein kleiner Beitrag zum heutigen Tage...

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Media Vita in Morte Sumus


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Der Spätsommer nach der Jahrtausendwende war der unbeschwerteste, den wir je erlebt hatten. Eure Firma schrieb zum ersten Mal schwarze Zahlen, Laura hatte ihr erstes Jahr an der Realschule erfolgreich hinter sich gebracht, und mir wurde ein zweijähriger Sponsorenvertrag von unserer Sportjugend angeboten, sodass die finanzielle Belastung des Eiskunstlaufes zum ersten Mal komplett von euren Schultern genommen war.
Ich war darüber so glücklich gewesen, dass ich sogar angeboten hatte, den Transporter für euch zu waschen – es war natürlich schnell abzusehen, dass daraus nichts mehr werden würde, nachdem Laura sich dazugesellt hatte. Aber ich glaube, das konnte euch an diesem sonnigen Tag nicht die Laune trüben.



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Unser fröhliches Kinderlachen hatte auch euch zum Schmunzeln gebracht, und irgendwann habt ihr lieber mit uns gespielt, als euch um den Wagen zu kümmern. Papa war ganz neugierig geworden und hatte die arme Laura ausgefragt, ob es denn einen Jungen gäbe, den sie nett fände. Mir wäre das schrecklich peinlich gewesen, aber Laura hatte doch tatsächlich genickt und war dann sogar rot geworden!
Obwohl sie gerade mal vierzehn war, kam mir meine Schwester plötzlich schrecklich erwachsen vor. Dabei gab es eigentlich auch einen Jungen, den ich furchtbar nett fand – meinen besten Freund Fabian nämlich. Danach hatte mich allerdings nie jemand gefragt, und damals dachte ich wohl noch, ich wäre einfach zu jung für solche Fragen.


***​


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Der Herbst des folgenden Jahres war dann von einer dunklen Wolke überschattet. Die Welt hatte den Atem angehalten, nachdem in Amerika schreckliche Dinge geschehen waren. Obwohl ich zu jung war, um das wirklich alles zu verstehen, hatte ich in diesem Herbst fast jeden Tag Albträume.
Ich war oft weinend aufgewacht, und du warst fast immer schon da, als hättest du gewusst, dass etwas nicht stimmte.
Du hast mich in die Arme genommen, meine Haare gestreichelt – sie erinnerten dich immer an deine Oma Florentina aus Spanien, sagtest du – und versucht, die Welt extra für mich schönzureden.



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Natürlich habe ich dir nicht mehr alles glauben können, denn in der Schule sprach man schon lange nicht mehr von einer schönen Welt. Aber in deiner Nähe klang das alles doch nicht mehr so bedrohlich, wie alleine hoch oben auf dem Bett, von wo aus man den kalten Mond durchs Fenster scheinen sehen konnte.
Während Laura friedlich schlief, hast du geflüstert, dass ich dir immer alles sagen könnte, was mich bedrückt. Natürlich nickte ich; du warst schließlich meine Mama. Aber ich glaube, es war dieser Herbst, in dem ich aufhörte, dir wirklich alles zu erzählen, was mich bedrückte – nur merkte ich es lange Zeit selbst nicht.


***​


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Es vergingen drei Jahre voller Geheimnisse, bis du eines Abends von selbst entdeckt hast, was ich mir selbst gerade erst eingestanden hatte: es gab nicht nur für Laura, sondern auch für mich Jungs, die ich nett fand. Ich glaube, das hatte sich seit der Grundschule nicht geändert, und ich hatte angefangen, mir heimlich Magazine zu kaufen, in denen mehr darüber stand.
Als ich endlich soweit war, es meinem noch immer besten Freund Fabian zu gestehen – er war zudem derjenige, für den mein Herz am heftigsten schlug – und es unbedachterweise gleich durch einen spontanen Kuss zeigte, kamst du mit Papa zur Tür herein... ich glaube, ich war der einzige im Raum, der nicht schockiert war.



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Wenn ich mich richtig erinnere, hatte mein Herz in diesem Moment kurz aufgehört zu schlagen. Fabian hatte mich schweigend und ohne eine Miene zu verziehen angeschaut, und ihr hattet beide in der Tür verharrt. Ich dachte, ich müsse sterben, bis du plötzlich auf mich zu kamst und mich zögerlich in den Arm nahmst. Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass ich wieder weinte.
Während ich mir im Bad das Gesicht wusch, saß Fabian auf dem Klodeckel und blickte mich nachdenklich an. Dann gestand er mir, dass er nicht schwul war – das war mir eigentlich klar gewesen – und dass er mich zwar lieben würde, aber auf brüderliche Art. Ich nickte und fing erneut an zu heulen, doch von diesem Tag an hatten wir keinerlei Geheimnisse mehr voneinander.
Als wir wieder ins Wohnzimmer kam, hattet auch ihr euch wieder gefasst. Ich weiß nur noch, dass wir danach alle am Tisch gesessen und bis tief in die Nacht geredet haben...


***​


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Danach folgte wieder eine unbeschwerte Zeit, auch wenn durch meinen immer intensiver werdenden Sport keine Zeit hatte, auszugehen und endlich einen Freund zu finden. Doch als das fünfte Jahr des neuen Jahrtausends anbrach, brachtest du uns die Nachricht, die unser Weltbild für immer in sich zusammenstürzen ließ.
Dabei warst du eigentlich nur auf den Rat einer Freundin hin überhaupt zum Arzt gegangen. Du hattest deine ständigen Kopfschmerzen einfach auf die Arbeit oder Migräne geschoben und dich lange damit abgefunden. Am Morgen vor dem Arztbesuch hattest du sogar noch Witze über diese unsägliche Zeitverschwendung gemacht – doch als du an diesem kalten Wintertag zurückkamst, konnten wir schon von Weitem erkennen, dass etwas nicht stimmte.



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Sie hatten etwas in deinem Kopf gefunden; etwas, das so schnell wie möglich untersucht werden musste. Du solltest bereits am nächsten Tag ins Krankenhaus, so schnell musste alles gehen. Jedes deiner Worte war wie eine Faust, die sich in Lauras und meinen Magen rammte.
Bereits bei deinen ersten Worten waren Laura Tränen in die Augen gestiegen, als hätte sie so etwas kommen sehen. Du musstest ebenfalls weinen, und als auch ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, nahmst du mich so liebevoll in den Arm wie zu jenen Zeiten, als ich von Albträumen geplagt worden war. Doch dein Streicheln konnte den Schmerz diesmal nicht lindern.


***​


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Die Woche vor und nach der Operation war die schrecklichste meines Lebens gewesen. Tag und Nacht hatten wir entweder vorm Telefon oder in deinem Krankenzimmer gesessen, immer voller Furcht, eine zerschmetternde Nachricht zu bekommen.
Doch der Tumor war schließlich besiegt, herausgeschnitten, weg aus deinem Kopf, aber nicht aus unseren Köpfen. Egal, was wir taten, die Angst lebte fortan immer mit uns. Dabei warst du nach deinen eigenen Worten "nicht so leicht totzukriegen" und wärst am liebsten bereits am ersten Tag deiner Rückkehr wieder voll ins Geschäft eingestiegen.



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Papa ließ dich jedoch nur ganz leichte Aufgaben erledigen, und immer wieder hielt er inne, um sich zu vergewissern, dass es dir gut ging oder dir zu sagen, wie sehr er dich liebte. So makaber es klingen mag, ich glaube, deine Krankheit ließ eure Ehe wieder aufblühen. Papa war ein völlig anderer Mensch geworden und sorgte sich so rührend um dich, dass einem manchmal Angst wurde, was gewesen wäre, wenn...
Doch darüber wollten wir alle nicht nachdenken, und nie sprach es jemand laut aus. Wozu auch, wo es dir doch wieder gut ging? Wir ahnten ja nicht, dass es so schnell zum Rezidiv kommen würde, und dass diesmal nur noch eine Strahlentherapie möglicherweise helfen konnte.


***​


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Du ließt dir in den kommenden Wochen nicht anmerken, wie sehr dich die Therapie belastete. Wenn ich aus der Schule kam, wolltest du am liebsten jedes Mal etwas mit mir und Laura unternehmen, auch wenn dein Körper dafür gar nicht stark genug war. Dafür schauten wir all das im Fernsehen, was du schon immer hattest sehen wollen – aber auch Dinge, die du ohne mich vielleicht nie geschaut hättest, wie "Get Real" oder "A Beautyful Thing".
Nie zuvor hatten wir so viel miteinander gesprochen, und ich hatte das Gefühl, dich erst jetzt richtig kennenzulernen. Schon irgendwie komisch, dass wir unsere Eltern nie als Menschen sehen, die auch mal jung waren und dieselben Träume hatten wie wir.



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Natürlich warst du auch immer sehr schnell müde, und wir nahmen große Rücksicht auf dich. Da es in unserer kleinen Wohnung außer Lauras und meinem gemeinsamen Zimmer keinen Raum für dich zum Zurückziehen gab, und du das auch nie wolltest, hielten wir uns viel unten in der Werkstatt auf, um dir die nötige Ruhe zu gönnen.
Zusammen mit Papa hatte ich dort auch eine Arbeitsecke für Laura und mich eingerichtet, wo wir unsere Hausaufgaben machen konnten, ohne dich zu stören. Seit deiner Krankheit stritten wir uns auch nicht mehr wie früher; es war eher so, dass jeder versuchte, aus der Kraft des Anderen zu schöpfen.


***​


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Anfang Oktober kam plötzlich die Nacht, in der Papa zu uns ins Zimmer kam, ohne ein einziges Wort hervorzubringen. Wir verstanden ihn auch so.
Du lagst im Bett, reglos und friedlich, als würdest du einfach schlafen. Meine Gedanken rasten, und heute kann ich mich an keinen einzigen mehr erinnern. Ich weiß, dass ich mich vorm Bett übergeben musste, aber zu Worten oder Tränen war ich nicht imstande. Alles, das mir im Leben etwas bedeutet hatte, schien wie ein Film an mir vorbeizuziehen, ohne dass ich es verstand.



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Ich weiß nicht, wie lange ich neben deinem Bett saß, als Papa plötzlich weinend zusammenbrach und Laura ihn nicht mehr halten konnte. Er schrie wie ein Tier, und sein Schluchzen brachte meinen Kopf fast zum Platzen. Noch immer konnte ich nicht weinen, doch ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war,
Für Papa hingegen war es das erste und letzte Mal, dass er seine Gefühle zeigte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich das natürlich nicht, aber an dem Tag, an dem du starbst, ist auch Papa gestorben – nicht äußerlich, aber im Inneren. Nichts würde mehr so sein, wie es gewesen war...


***​


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In den zwei Jahren seit deinem Tod ist so vieles passiert, was ich dir gern sagen und zeigen würde, doch du kannst mir nicht mehr zuhören. Papa hat lange gebraucht, um mit dem Trinken wieder aufzuhören, und die Firma stand viele Monate lang kurz vor dem Ruin. Ohne Lauras und Andrés Hilfe hätten wir alles verloren, so wie die Werkstatt, die wir einfach nicht mehr bezahlen konnten.
Wir wohnen jetzt in einem Wohnblock in der Nähe der Altstadt, weit weg von unserem Park, aber auch weit weg von allen schmerzhaften Erinnerungen. Laura wird aber bestimmt bald wieder ausziehen – sie erwartet ein Baby von André!
Ich wünschte, du könntest jetzt hier sein, bei ihr, bei uns – bei mir.



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Aber ich weiß ja, dass du in meinem Herzen immer bei mir bist!
So lahm diese Aussage für mich immer geklungen hat, inzwischen ist mir klar geworden, dass es stimmt. Ich spüre dich, wenn ich bei einem Wettbewerb den ersten Fuß aufs Eis setze, wenn ich Laura umarme, wenn ich in den blauen Himmel schaue, einfach immer. Und ich weiß, dass auch Papa das eines Tages spüren wird. Wenn es soweit ist, dann werden wir alle gemeinsam herkommen, um dich zu besuchen. Du musst ihm nur noch ein wenig Zeit geben, Mama – er hat dich auf keinen Fall vergessen!
Niemand von uns wird dich je vergessen...


*****

Ich hoffe, es hat euch trotz des Themas ein wenig gefallen.

Dies ist zwar nur ein One-Shot zum heutigen Totensonntag, doch gleichzeitig eine Art "Auftakt" zu meiner neuen (fröhlicheren) Geschichte, an der ich gerade schreibe. :) Die gibt's dann ab nächstem Samstag, und ich hoffe, der ein oder andere schaut dann mal rein.

Es gibt allerdings noch zwei kleine Mini-Stories mit dieser Familie (meine Lieblingsfamilie *g*), die sich hinter den ersten beiden Wettbewerb-Links meiner Signatur verbergen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Boah...mir kamen fast die Tränen. Ich fand ja schon deine 1. FS toll....

Das ist ja echt total tragisch :( Ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll, aber es hat mich berührt.
Die Bilder, vor allem das vor dem Grab, waren total emotional.

Ein toller Beitrag für den heutigen Tag...ich werde auf jeden Fall deine neue Story auch wieder mitverfolgen. :)

Ganz große klasse!

LG deine Katzen-Kollegin =)

Edit: Ach, ich sehe grade, du denkst ja, ich hätte mich noch nie in andere Menschen hineinversetzt...na gut, ich sag dazu mal nichts, ich muss mich hier nicht so angreifen lassen, denn das stimmt vorne und hinten nicht, aber schön....
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich wollte dich auf keinen Fall angreifen, tut mir Leid (hab noch nicht wieder in den Thread geschaut, mach ich aber gleich). Wahrscheinlich ist mir den dem Moment nur die Hutschnur etwas geplatzt, weil es eines der Themen ist, von dem inzwischen zwei Menschen in meinem Umfeld betroffen sind - es ist mir einfach nur wichtig, dass dieses Problem von so vielen Menschen wie möglich verstanden wird. Ich hab mich da wohl zu etwas krass ausgedrückt, aber editieren wäre auch arschig. Sorry. :(

edit: Jetzt hab ich vergessen, auf den Rest einzugehen. *röchel* Danke für das Lob, und sorry, wenn's zu traurig war. Ich denke mal, einige von uns haben schon mal geliebte Menschen verloren, und manchmal tut es einem einfach gut, so etwas auch mal in Worte zu fassen (meine Mama lebt aber noch, also bitte nicht falsch interpretieren ;)).
 
Zuletzt bearbeitet:
Ist ja jetzt geklärt :) Sorry nochmals. *knuff*

Es tut bestimmt gut, sich gewisse Dinge von der Seele zu schreiben. Und was heißt, zu traurig - ich mag es, wenn es tragisch ist. :lol: Ich muss oft weinen bei Storys und Filmen. :ohoh: *hust*
 
Ich bin auch wirklich sehr berührt. Ich kann das garnicht so richtig in Worte fassen.
Das alles ist so echt.
Und es hat mich die ganze Zeit an meine Familie erinnert.
So viele mussten schon mit einer schweren Krankheit kämpfen.
Jetzt hab ich mich wieder daran erinnert was wäre wenn sie doch nicht mehr bei uns wären.

Lg Pati
 
wow ich bin beeindruckt! ich finde die Art und weise wie du die Geschichte geschrieben hast wirklich gut, sehr lebhaft und gut vorzustellen. Noch mehr beeindruckt mich aber, wie du ein heikles Thema so gut in Wörter verfasst hast! Ehrlich, das hast du großartig gemacht!
Liebe grüße mignon
 
@Litttle Cat: Vielen Dank! :) Ich fürchte, diese Geschichte war nur ein Einteiler, aber ich benachrichtige dich gerne, wenn es mit dieser Familie weitergeht.

@mignon: Wow, danke für diese tollen Worte. Es freut mich, dass es gut rübergekommen ist, obwohl man die Charaktere in einer so kurzen Geschichte ja eigentlich nicht kennenlernen kann.
 
oh eine sehr schöne traurige sache hast du da gemacht, hat mich ein wenig an james blunt- good bye my lover errinert... sehr schön, und ich schwöre würde ich das lied dazu noch hören, dann würde ich jetzt heulen wie ein schloss hund

lg Arwen ;)
 

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