Fröstelnd schob ich mich näher an den großen Kamin, aber tief in mir wusste ich, dass die Kälte aus meinem Inneren kam und kein noch so loderndes Feuer mich davon befreien konnte.
Das Gefühl des Verlustes war quälend, nur übertroffen von dem Schmerz des Verrats und dem Wissen, belogen und hintergangen worden zu sein.
Mein Geständnis im Kerker - dass es Runcal höchst selbst war, mit dem wir Pläne zur Errettung der Kinder geschmiedet hatten - war eingeschlagen wie ein Blitz.
Nur Shainara war ruhig geblieben. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für sie nicht so überraschend kam wie für alle anderen, mich eingeschlossen; und sie war es auch gewesen, die dem Durcheinander der auf mich einprasselnden Fragen ein Ende gesetzt hatte.
„Dazu ist später noch Zeit", hatte sie entschieden gesagt.
„Jetzt will ich zuerst zu Raghnall."
Und so war es auch geschehen. Shainara und Brayan waren zu Raghnall gegangen; Leodric, Artair und Alec hatten einen erneuten Versuch unternommen, die Wachen zu befragen, und ich hatte Lyall in eine schnell hergerichtete Kammer begleitet und ihn dort versorgt, unterstützt von Ilisa und Meghan.
Sie waren rasch herbeigeeilt, als sich die Nachricht von Lyalls Entdeckung wie ein Lauffeuer in der Burg verbreitet hatte, und standen mir tatkräftig zur Seite, ohne mir Fragen zu stellen.
Wofür ich überaus dankbar war.
Und jetzt stand ich in Leodrics Halle und wartete auf die anderen, und es kam mir so vor, als sähe ich meinem eigenen Tribunal entgegen.
Tja, das hast Du Dir wohl selbst zuzuschreiben, flüsterte mir die kleine Stimme in meinem Innern zu, aber ich zog es vor, sie zu ignorieren.
Hinter mir hörte ich das leise Gemurmel und Gelächter der Frauen, die das Nachtmahl vorbereiteten.
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Meghan, Alecs Frau, hatte mir die ganze Zeit über immer wieder verstohlene Blicke zugeworfen; jetzt schien sie sich ein Herz zu fassen und kam zögernd auf mich zu.
Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Leodric, Alec und Artair betraten die Halle, dicht gefolgt von Shainara und Brayan.
Sie traten zu mir an den Kamin, und Leodric fuhr sich müde durchs Haar.
„Lasst uns nach nebenan gehen", sagte er, und wir folgten ihm in einen an die Halle angrenzenden Raum.
Im Kamin flackerte ein munteres Feuer, aber man konnte sehen, dass in dieser Kammer gearbeitet wurde.
Ilisa legte ein paar Scheite nach, und Alec rückte einen Stuhl für Meghan zurecht.
„Hat Lyall etwas gesagt?", richtete Leodric dann das Wort unumwunden an mich.
„Ja, das hat er", antwortete ich.
Lyall war immer wieder kurz zu Bewusstsein gekommen und hatte sich an meinen oder Meghans Arm geklammert, in dem verzweifelten Wunsch, uns etwas mitzuteilen.
Es hatte lange gedauert, aber nach und nach war es uns gelungen, seine unzusammenhängenden Sätze zu einem Bild zusammenzufügen.
„Er weiß nicht, wie lange er dort festgehalten wurde", sagte Ilisa und trat zu uns.
„Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, dort im Kerker."
Man konnte ihr ansehen, wie bekümmert sie war.
„Woran kann er sich noch erinnern?"
Auch Shainaras Stimme klang müde.
„Es ist nicht viel", sagte ich und schüttelte den Kopf.
„Er erinnert sich deutlich, dass er zur Wache vor der Kerkertür eingeteilt war, und dass er plötzlich das sichere Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte."
Shainara runzelte die Stirn. „Was stimmte nicht?"
„Das konnte er nicht sagen. Nur, dass er die dringende Notwendigkeit verspürte, nachzusehen."
„Er hat Ewan, der mit ihm Wache vor der Tür hielt, Bescheid gesagt", ergänzte Ilisa mit ruhiger Stimme, und ich nickte.
„Er betrat den Kerker, und in diesem Moment spürte er, dass noch etwas anderes mit ihm über die Schwelle kam", fuhr ich fort.
„Er hat augenblicklich begriffen, dass es eine Falle war, und wollte wieder umkehren, aber es war zu spät; er hat fast sofort das Bewusstsein verloren."
„Konnte er sehen, was es war?", fragte Shainara ruhig.
„Es war niemand zu sehen, aber er hat verschwommene Bilder und den Klang einer Stimme im Kopf. Von einer Frau mit farblosen Augen", fügte ich tonlos hinzu, und mich fröstelte erneut.
„Womit dieser Punkt wohl geklärt wäre", sagte Artair hart.
„Was dann geschehen ist, konnte Lyall nicht sagen", fuhr ich fort.
„Er hat keine Erinnerung daran, was sie mit ihm gemacht haben.
Als er wieder zu sich kam, war er in seinem eigenen Körper eingekerkert; unfähig, zu sprechen oder ihn nach seinen Wünschen zu bewegen.
Und niemand hat ihn mehr erkannt, weil jeder nur die Illusion von Runcal sehen konnte."
„Das deckt sich mit dem, was wir in Erfahrung bringen konnten", meldete sich Alec zu Wort.
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„Wir haben nochmal mit Ewan gesprochen, weil er der letzte war, der Lyall gesehen hatte, und wir haben ihn gefragt, ob während dieser Wache irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen ist.
Daraufhin ist ihm eingefallen, dass Lyall den Kerker betreten hat, weil er das Gefühl hatte, etwas sei nicht in Ordnung."
„Warum hat er das nicht schon früher erzählt?", fragte Brayan erstaunt.
„Weil -" Artair fuhr sich mit der Hand über die Stirn – „weil er es für unwichtig hielt und beinahe schon wieder vergessen hatte.
Denn Lyall ist nach kurzer Zeit wieder aus dem Kerker herausgekommen und hat die Wache mit ihm zusammen beendet.
Nur dass das wohl nicht Lyall war, sondern Runcal."
Ungläubig starrte ich ihn an.
„Er hat
was gemacht?"
Leodric knurrte grimmig.
„Offenbar hat sich dieser Bastard einen Spaß daraus gemacht, seine eigene Kerkertür zu bewachen. Und dann ist er einfach davonspaziert."
Wütend schlug er mit der Faust auf den Kaminsims.
„Und in dieser Zeit", sagte Shainara, „hat er den Zauber der Hoffnungslosigkeit über die Kerker gelegt. Er war außerhalb seines Kerkers, seine Macht war nicht mehr beschnitten."
„Ja", sagte Alec nachdenklich, „ja. Ungefähr zu dieser Zeit hat es begonnen."
Er schauderte.
„Der Zauber hat geholfen, die Entdeckung seiner Flucht zu verzögern", fuhr Shainara fort, „niemand, der sich dort unten aufgehalten hat, war noch er selbst.
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gehörten schon immer zu Runcals stärksten Verbündeten."
„Und nebenbei konnte er auf diese Art auch gleich damit beginnen, sich zu rächen", sagte Alec voller Zorn.
„Es war wie damals." Leodrics Stimme klang heiser.
„Wie in der ersten Zeit, als er hier eingekerkert war. Ich hatte damals jede Nacht Albträume."
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Er stockte, und Ilisa legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Jede Nacht hat er mir gezeigt, wie meine Schwester und ihr Mann starben. Jede Nacht auf eine neue Art; eine grausamer als die andere."
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, dann sah er Artair an. „Verzeih", sagte er rau.
Auf Artairs Gesicht zeigte sich keine Regung, aber er nickte Leodric knapp zu.
„Es hat erst aufgehört, als Ihr und Mártainn die Bänne verstärkt habt", fuhr Leodric leise fort.
„Aber die Bilder sind niemals mehr aus meinem Kopf verschwunden."
Einen Moment schien er tief in Gedanken versunken, dann sah er auf.
„Auch in jenen Tagen lag ein Schleier der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über allem.
So ähnlich war es in letzter Zeit, wenn auch nicht so stark wie damals, und diesmal war es nur auf die Kerker begrenzt."
„Und das habt ihr Raghnall zu verdanken", fiel Shainara ein, und überrascht sahen wir sie an.
„Raghnall?" fragte Alec ungläubig, und Shainara nickte.
„Er hat getan, was er konnte, um den Zauber zu schwächen.
Auch um seinen Kerker liegen Bänne - wenn auch nicht in dem Maße wie bei Runcal - deshalb war es ihm unmöglich, den Zauber zu brechen.
Alles, was er tun konnte, war die Wachen, die seinen Kerker betraten, zu stärken und ihnen eine Art Schutz mitzugeben, der sie unempfänglicher für den Zauber machte und der auf alle Personen überging, denen sie begegneten.
Ein solcher Schutz wirkt aber nur eine begrenzte Zeit."
„Und er hat jeder Wache, mit der er in Kontakt kam, gesagt, dass Runcal entflohen ist", fügte Brayan hinzu.
„Aber natürlich hat ihm niemand geglaubt."
Leodric ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
„Woher wusste er es?"
„Zum einen hat er es gespürt", erwiderte Shainara.
„Er hat auch Medurias Präsenz gespürt, und er hat versucht, Alarm zu schlagen, aber niemand hat auf ihn geachtet."
„Offenbar haben wir doch in unserer Wachsamkeit nachgelassen, auch wenn es uns nicht so vorkam."
Alecs Stimme war voller Bitterkeit, und er wandte sich ab.
„Niemand konnte so etwas voraussehen", sagte Artair ruhig.
„Es ist also sicher, dass es Meduria war?"
Shainara nickte.
„Raghnall ließ keinen Zweifel daran, dass sie es war, die Runcal zur Flucht verholfen hat. Denn er konnte es nicht nur spüren, es gab auch einen handfesten Beweis dafür."
Alec fuhr herum.
„Was für einen Beweis?" stieß er hervor.
„Runcal hat es ihm gesagt." Brayan lachte auf, aber es klang nicht froh.
„Offenbar hat Runcal nicht nur die Wache in aller Seelenruhe beendet", warf er grimmig ein, „er hat danach auch noch ein kleinen Abstecher zu Raghnalls Zelle gemacht, um sich von ihm zu verabschieden."
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Leodric sprang auf, seine Augen sprühten Funken.
„Raghnall dachte, er wolle ihn töten", fuhr Shainara ruhig fort, „und sich für den Verrat rächen.
Aber Runcal sagte nur, er solle nicht auf ein solch schnelles, gnadenvolles Ende hoffen.
Er nicht, und auch niemand von uns."
Eine Weile herrschte Schweigen. Niemand schien etwas sagen zu wollen, nun, da es keinen Zweifel mehr daran gab, welchem Feind wir uns stellen mussten.
Dann ergriff Artair das Wort.
„Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir in absehbarer Zeit seiner wieder habhaft werden können", sagte er ruhig.
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„Wir werden Torh Ogma überprüfen, aber ich glaube nicht, dass er sich ausgerechnet dort zeigen wird.
Wir müssen entscheiden, was unsere nächsten Schritte sein sollen."
„Und wir müssen die Vorbereitungen für das Ritual stoppen", warf Brayan ein.
„Wir sollten davon ausgehen, dass es sich um eine Falle handelt, um Artair zu töten."
Langsam schüttelte Artair den Kopf.
„Es gibt keine Alternative zu dem Ritual, wenn wir die Kinder retten wollen", sagte er und sah Shainara an.
„Nein", stimmte sie zu, „die gibt es nicht."
„Ihr wollt das Ritual immer noch durchführen?" Leodric klang fassungslos.
„Das kann nicht euer Ernst sein."
„Ich bin mir gewiss, dass Shainara und Mártainn den Ablauf nochmal genau überprüfen werden."
In Artairs Stimme lag kein Zweifel.
„Das wird nicht nötig sein", sagte Shainara, und alle Augen richteten sich auf sie.
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„Wir hatten einen gewissen… Verdacht."
„Ihr hattet einen Verdacht?"
Artair beugte sich vor und stützte sich auf dem Tisch ab.
Seine Augen blitzten, und er hielt den Blick unverwandt auf Shainara gerichtet.
Shainara sah ihn an und nickte bestätigend.
„In jedem Zauber schwingt etwas vom Wesen des Druiden oder der Priesterin mit. Jeder von uns verleiht einem Zauber etwas Einzigartiges, und das fängt schon bei der Vorbereitung und der Anlage des Zaubers an, weil jeder eigene Präferenzen und Vorlieben hat.
Selbst, wenn man versucht, diese Vorlieben zu verschleiern, kann man doch nicht ganz verhindern, dass zumindest eine Ahnung des eigenen Selbst in dem Zauber mitschwingt."
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„Es ist nicht leicht zu erkennen, aber für die, die den Schöpfer des Zaubers kennen und wissen, wonach sie suchen müssen, gibt es Anhaltspunkte.
Es gibt ein paar Besonderheiten in diesem Ritualzauber, die sich nach Runcal…
angefühlt haben.
Wir waren nicht sicher, denn einige von Runcals Anhängern, darunter auch Raghnall, haben seinerzeit viel von ihm übernommen, aber der Verdacht schien uns naheliegend genug zu sein, um einige Änderungen vorzunehmen.
Eine Art Absicherung, die uns einen Vorteil verschafft. Und wir hoffen, dass wir dadurch nicht nur Runcals mögliche Pläne vereiteln können, sondern den Zauber sogar gegen ihn verwenden können."
„Ihr
hofft?" Leodric klang wütend.
„Sicherheit gibt es nicht", erwiderte Shainara ruhig.
„Euer Verdacht war begründet genug, dass ihr euch zum Handeln veranlasst saht – aber ihr habt es trotzdem nicht für nötig erachtet, mich zu informieren?"
Alarmiert sah ich auf. Artairs Stimme war nach wie vor beherrscht, aber ich konnte den Zorn spüren, der darunter lag.
„Wir hielten es für ein zu großes Risiko", sagte Shainara.
„Wenn Du Dein Wissen mit Neiyra geteilt hättest – absichtlich oder nicht – hätte Runcal erfahren können, dass wir auf der Hut sind."
„Ein Risiko? Ein
Risiko?", knurrte Artair, und dann explodierte er.
„Verdammt, Shainara!" schrie er und schlug heftig mit der Faust auf den Tisch.
Er warf die Arme in die Luft, atmete tief ein und ging ein paarmal auf und ab, um sich zu beruhigen.
Dann wandte er sich wieder Shainara zu.
„Ich bin nicht mehr acht, Shainara", sagte er gefährlich leise.
„Ich hätte sehr wohl die Brisanz dieser Information richtig einzuschätzen gewusst, und wie ich damit umzugehen hätte.
Es hat einen Grund – einen
guten Grund – warum in Krisensituationen ein Rat gebildet wird, der aus den weltlichen
und den geistlichen Führern besteht.
Beide Seiten legen zu oft eine gewisse Arroganz an den Tag, die sie blind macht für alles, was über ihre eigenen Kompetenzen hinausgeht."
„Ihr meint zwar, ihr hättet an alles gedacht, aber was ihr – Du und Mártainn – überseht, ist, dass Runcal nicht nur ein Druide ist.
Er ist auch ein Kriegsherr, ein Heerführer. Und deshalb denkt er auch nicht nur wie ein Druide.
Es war Runcal, der den Kraftstern ins Spiel gebracht hat, für den wir so viele Druiden und Priesterinnen benötigen, wie wir kriegen können."
Shainara war blass geworden.
Artair beugte sich vor, seine Stimme klang drohend.
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„In diesem Moment zieht der größte Teil der Druiden und Priesterinnen zum Ritualplatz in den Süden, nur begleitet von einer Handvoll Wachen.
Zwei gezielte Angriffe reichen, um uns fast aller geistiger Führung zu berauben. Runcal braucht überhaupt nicht auf das Ritual zu warten, um den Königreichen einen vernichtenden Schlag zu versetzen."
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