14. Kapitel
Ich war erwacht und hatte mich schwer gefühlt.
Das Tanzen am Vorabend hatte mir gutgetan, aber nun kamen die negativen Seiten der Bewegung ans Tageslicht: Muskelkater in Schulter, Rücken, Bauch, Armen und Beinen.
Ich schlich zitternd ins Bad, um zu duschen.
Dabei wurde mir schmerzlich bewusst, was schon ewig Fakt gewesen war: Ich war unsportlich.
Es wurde höchste Zeit, dass ich wieder Sport trieb.
Ich hatte kein Zeitgefühl. Ob es Mittag oder Nachmittag war, konnte ich nicht sagen.
Ich stieg in die Dusche und bemerkte, dass noch immer das Makeup auf meinem Gesicht klebte, da ich mich am Abend nicht abgeschminkt hatte. Noch ein Grund mehr, gründlich zu duschen und all das endlich im Ausguss zu versenken!
Und so stand ich unter der Dusche und ließ mir das lauwarme Wasser übers Gesicht laufen. Ich fror nicht, aber entspannen konnte ich auch nicht. Ich würde den Tag verschlafen oder lesen, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, endlich nach einem Job zu suchen, möge es auch nur halbtags sein.
Als ich fertig war, ging ich zurück ins Schlafzimmer, um mich dort anzuziehen.
Eine leichte Jogginghose, ein Top und Ballerinas kramte ich aus dem Haufen von Sachen hervor, die ich zusammen mit Shady gekauft hatte.
Ich wollte mir die Zähne putzen, doch was ich im Spiegel sah, ließ mich erschöpft seufzen.
Das Makeup hatte sich nicht einmal annäherungsweise gelöst.
Tiefe Risse hatten sich in der Oberfläche des Puders gebildet, das auf meiner Wange klebte. Meine Wimpern klebten zusammen und meine Lippen waren trocken.
Die nassen Haare wellten sich und wirkten dunkler als sonst.
Resignierend stand ich vor meinem Spiegelbild und hatte schon längst begonnen, mich in Gedanken abzuschminken. Dies brachte nichts, war aber weniger anstrengend, als sich für die realitätsnächste Variante zu entscheiden - Wasser...
Letztendlich konnte ich es selbst nicht mehr ertragen, beim Lachen eine Schicht Puder auf den Boden fallen zu sehen, also drehte ich den Wasserhahn auf. Ich war noch immer verwundert, wie lange Makeup sich auf der Haut halten konnte. Doch andererseits war es typisch für Shady, sich einmal zu schminken und die ganze Woche damit herumlaufen zu können.
Ich begann, mit meinen Händen im Gesicht herumzureiben.
Das Puder ließ sich beinahe abziehen, so hart und elastisch war die Schicht geworden.
Als das Puder beinahe von meinem Gesicht gelöst war und in Fetzen auf dem Boden lag, musste ich nur noch Einzelheiten entfernen.
Der Moment, in dem ich mir Wattepads wünschte, war gekommen, als ich schließlich wie eine Wilde auf meinen Augenlidern herumwischte, um den Lidschatten abzubekommen.
Auch der Lippenstift verschmierte mehr, als sich entfernen zu lassen.
Schließlich hatte ich genug und drehte den Wasserhahn zu, als ich wieder halbwegs menschlich aussah.
Dann wollte ich endlich etwas essen und öffnete den Kühlschrank. Milch, Eier, Aufstriche und Belag, Brot, Butter und Salat, Gemüse, Obst und eine Packung Kekse. Und ich hatte Konserven im Schrank. Was wollte ich mehr?
Doch gerade jetzt klopfte es an der Tür. Seufzend schlug ich den Kühlschrank zu.
Ich öffnete die Tür und sah einer erschöpften Shady ins Gesicht.
"Wow. Und ich dachte, ich wär müde.", begrüßte ich sie.
"Hey, das Basecap ist nur für die Augen. Nach einer durchwachten Nacht ist es nicht so prickelnd, sich die Augen von der Sonne kochen zu lassen.", sagte sie und grinste.
"Ich dachte, wir könnten 'ne Runde dreh'n.", erklärte sie mit einem hoffnungsvollen Blick.
Ich hatte nichts dagegen, aber mein Magenknurren erinnerte mich an die Priorität, die ich mir gesetzt hatte.
"Gerne. Ich möchte vorher aber noch etwas essen, wenn's dir nichts ausmacht.", sagte ich lächelnd und nickte kurz, "Wieso bist du überhaupt so fertig? Du gehst doch sonst nie vor um Fünf ins Bett."
"Das ist so 'ne Sache. Gestern war ich noch mit 'nem Typen unterwegs. Hat eben länger gedauert und nach ein paar Drinks schlaf' ich auch besser.", antwortete sie.
"Ein Typ? Ist es was Ernstes?", fragte ich skeptisch, während sie das Haus betrat und wusste, ich hatte einen von Shadys wenigen, wunden Punkten erwischt.
Sie sprach nicht über ernste Dinge.
"Hey! Du weißt, ich mag das Thema nicht. Die Antwort, die ich dir gegeben hab', muss reichen!", lachte sie. Ich wollte trotzdem nicht locker lassen.
"Komm' schon! Ich dachte immer, du wärst das Gegenteil von verklemmt. Das Gegenteil von prüde...
Aber ich hab' mich wohl getäuscht, wenn du nicht mal mit mir darüber sprechen kannst.", bemerkte ich provokativ.
"Ich bin auch nicht veklemmt, Süße. Aber jetzt hab' auch ich Hunger. Also los, ich will was essen."
Sie überspielte das Thema perfekt, aber ich war noch nicht bereit, es unter den Tisch fallen zu lassen.
Bereitwillig nahm ich ein paar Zutaten aus dem Kühlschrank, während Shady zu meiner Verwunderung die Theke schrubbte.
Ich mischte einen Waffelteig, wie ich es bei Tante Sophia gelernt hatte.
Tante Sophia. Es tat mir Leid, was passiert war. Ich musste Kontakt aufnehmen, doch ich wusste nicht wie. Telefon? E-Mail? Es gab viele Möglichkeiten, aber ich wollte nicht bekanntgeben, wo ich lebte. Vielleicht war sie so wütend, dass sie mich töten wollte. Oder sie wollte mich zurück.
Ich verdrängte den Gedanken und mischte weiter den Teig.
"Was ist denn das?", fragte Shady und war kurz davor, sich lachend auf dem Boden rollen, als ich mit dem Teller missglückter Waffeln vor ihr stand.
"Waffeln?", fragte ich und sah verlegen weg.
"Okay. Dann lass' uns mal königlich speisen!", prustete Shady und setzte sie an den Tisch.
Ehrfürchtig sah ich die krebserregenden Krümel auf meiner Gabel an, bevor ich die in den Mund schob und zerbiss. Die Konsistenz war krümelig und hart aber nur halb so schlimm, wie der Geschmack.
"Das ist schrecklich.", sagte ich und lächelte verlegen.
Auch Shady nahm unsicher den ersten Bissen.
Danach sagte sie gequält: "Qaaatsch. Das is sooo lecker, mmh!"
Ich sah sie finster an, woraufhin sie laut loslachte.
"Okay, okay! Es ist schrecklich. Es schmeckt wie wochenalte Fäkalien. Na und? Es sättigt!"
Auch ich lachte kurz, wurde dann aber wieder ernst.
"Das ist schlimm. Wenn ich nur Konserven aufwärmen kann, werde ich bestimmt bald aussehen, wie dieser Versteigerungsleiter, ... Herr Specht!"
Wieder lachte Shady.
"Ach was! Ich bring' dir 'n bisschen was bei. Und irgendwann kannst du vielleicht sogar mal Tiefkühlpizza machen."
Nun musste auch ich grinsen.
"Klingt gut!", sagte ich ironisch und leckte mir die Lippen.
"Find' ich auch. Jetzt lass' uns gehen. Wir kaufen uns unterwegs eben was Leckeres!", sagte sie und stand auf.
Wir verließen das Haus und ich staunte.
Die Sonne ging bereits wieder unter, ich war also erst am späten Nachmittag aufgestanden.
"Wo gehen wir hin?", fragte ich Shady.
"Ich kenn' da so'n süßen Park, der ist echt schön. Ich würde dich gerne mal dahinbringen.", sagte sie und wir gingen die Straße entlang.
Ich kannte den Park nicht, auf dessen Wegen wir nun entlangliefen.
Aber ich mochte ihn. Er war klein und wunderschön, kaum jemand war da und ein kleiner Teich lag ruhig im letzten Sonnenlicht.
"Hier war ich oft mit meinen Eltern.", sagte Shady lächelnd, als sie vor mir her auf dem sandigen Weg lief.
"Ist auch echt schön hier.", antwortete ich und atmete die frische Luft tief ein.
"Komm', wir setzen uns.", forderte sie mich an einer der Bänke auf.
"Gern."
Ich sprach nicht viel, beobachtete Shady ganz genau. Ihr ging dieser Ort nahe, weckte Erinnerungen in ihr und ich wollte diese nicht zerstören, sondern mit ihr zusammen nachdenken.
"Ich war ein sehr glückliches Kind.", erzählte sie.
Ich schwieg.
"Meine Eltern waren so fürsorglich. Immer um mich besorgt. Und meine Großeltern waren für mich so etwas wie meine zweiten Eltern. Bei ihnen war ich immer gut aufgehoben und fühlte mich so wohl."
"Einmal war ich mit meinen Eltern und Großeltern hier und bin in den Teich gefallen. Ich hab' den ganzen Weg nach Hause geschrieen und niemand konnte mich beruhigen.", lachte sie.
Ich lächelte und stellte mir die kleine Shady vor.
Es war eine so schöne Zeit mit Shady. Wir saßen da und sie erzählte.
Ich hörte zu und lächelte manchmal.
"Ich liebte meinen Vater so sehr wie meine Mutter. Sie haben sich nie gestritten und trotzdem haben sie sich getrennt. Sie hielten es für besser, das geteilte Sorgerecht für mich zu beantragen, doch irgendwann wurde daraus das alleinige Sorgerecht für meine Mutter. Ich nehme das meinem Vater nicht übel, weil ich ihn liebe.", erzählte sie und ich sah eine Träne in ihrem Auge.
"Es ist fast immer so im Leben.", sagte ich nun und lächelte, "Das eine Auge lacht, das andere weint."
"Wenn beide Augen weinen, ist was falsch, oder?", fragte Shady mich.
"Nein. Manchmal weinen halt beide Augen. Und manchmal lachen beide."
Wir saßen da und betrachteten den Teich.
"Hast du noch Kontakt zu deinem Vater?", unterbrach ich irgendwann die Stille.
"Ich schreibe ihm E-Mails. Er ist umgezogen. Wohin, weiß ich nicht.", antwortete sie leise.
Eine Träne lief ihr die Wange hinunter.
"Danke.", sagte sie plötzlich.
"Wofür?", fragte ich erstaunt.
"Für diesen Moment, Maya."
Wieder schwiegen wir und sahen den Wogen des Windes auf der Oberfläche des Teichs zu.
Erst nach Untergang der Sonne wurde ich durch die kalte Luft und den Wind aus diesem tranceartigen Gefühl geweckt.
Ich fühlte mich nicht wie von dieser Welt. Alles war still, nur der Wind rauschte in den Bäumen und eine Eule sang ihr Nachtlied.
Ich atmete die frische Luft ein. Shady saß still neben mir und starrte auf den Teich.
"Möchtest du gehen?", fragte ich Shady flüsternd.
Sie schüttelte leicht den Kopf.
So blieben wir sitzen. Ich ohne Gedanken. Was Shady dachte, wusste ich nicht, aber ich wusste, es ging ihr gut. Und das war mir wichtig.
Der Wind rauschte noch immer in den Bäumen und bewegte das Wasser. Und wir saßen da und schwiegen. Denn schweigend sagt man genug.
Ich hoffe, dass Kapitel war nicht zu lang und hat euch gefallen.
S.I.M.S.