Eine Weile streifte ich durch den Garten, genoss die kühle Nachtluft und versuchte, meines inneren Aufruhrs Herr zu werden.
Schließlich ging ich zum Palast zurück, sprang über die niedrige Brüstung, die den Kreuzgang vom Garten trennte, und wollte gerade wieder hineingehen, als sich die Tür öffnete und Bran und Shainara hinaustraten.
Ich hatte keine Lust, mit ihnen zu reden, und sowohl der Weg zurück als auch der Weg hinein waren mir versperrt, also trat ich in den Schatten der Säulen zurück und wartete darauf, dass sie vorbeigingen.
Was sie jedoch nicht taten; sie blieben an der Brüstung stehen, und müde und entnervt lehnte ich den Kopf an die kalte Wand.
„Ariadna ist wirklich bezaubernd", sagte Shainara, und Bran lachte.
„Sie hat meine Nase, aber Eure Anmut."
Nachdenklich fuhr er sich mit dem Finger über das Kinn.
„Ich weiß nicht recht, was ich von der Verlobung halten soll", sagte er langsam.
„Ich freue mich wirklich sehr, dass Artair mein Eidam wird, aber…"
Er schüttelte den Kopf.
„Es ist überraschend und unerwartet", sagte Shainara zögernd.
„Ich habe das nicht gesehen, und ich weiß noch nicht, was daraus erwächst."
Beide schwiegen wieder, eine ganze Weile, doch schließlich begann Bran wieder zu reden.
„Ich habe oft an Euch gedacht, nach jener Nacht", sagte er leise.
Ich stöhnte innerlich auf. Musste eigentlich alle Welt nachts durch die Gärten irren und sich über Dinge unterhalten, die nicht für meine Ohren bestimmt waren?
„Bran, nicht." Shainara machte eine hilflose, abwehrende Geste.
Bran schüttelte den Kopf. „Nein, lasst mich dies sagen."
In seiner Stimme schwang ein verzweifelter, dringlicher Unterton mit.
„In den ersten Jahren wünschte ich fast, dass es wieder eine Missernte geben würde. Meine Frau..."
Er fuhr sich durch die Haare.
„Sie ist mir eine gute Gefährtin, und wir teilen ein gutes Leben. Ich schätze und respektiere sie, und ich liebe sie, wirklich. Aber Ihr…"
Er schwieg einen Moment und suchte nach Worten.
„Ihr seid mir unter die Haut gegangen, Shainara. Ihr habt mich überwältigt, etwas in mir angerührt und aufgeweckt.
Ich hatte das Gefühl, dass mir niemand je so nahe gekommen ist wie Ihr.
Wir hatten nur diese eine Nacht, und ich war für Euch vermutlich nur einer von vielen."
„Nicht von so vielen, wie ihr denkt", sagte Shainara mit einem kleinen Lächeln.
„Vielleicht war es nur Pflichterfüllung für Euch.
Ich weiß, wir waren nicht Bran und Shainara in jener Nacht. Ihr wart die Priesterin und ich der König, und wir haben den Göttern gedankt und um ihren Segen gebeten mit dem, was wir taten.
Wir haben einem höheren Ziel gedient. So muss es sein. So hätte es sein sollen."
Seine Stimme klang aufgewühlt.
„Aber so war es nicht für mich; nicht nur. Ihr wart… besonders. Anders als alle…"
Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und schwieg wieder.
„Irgendwann ist es mir gelungen, nicht mehr an Euch zu denken", fuhr er nach einer Weile fort.
„Aber es fiel mir nicht leicht, denn immer, wenn ich Ariadna ansah, sah ich Euch.
Und meine Gemahlin wusste das. Sie hat versucht, gut zu Ariadna zu sein, aber es war schwer für sie.
Und es war auch schwer für Ariadna. Sie hat Euch vermisst."
„Sie kennt mich gar nicht", flüsterte Shainara leise, und ich hörte den Schmerz in ihrer Stimme.
„Sie hat ihre Mutter vermisst", erwiderte Bran.
„Ihr wisst, dass ich keine Wahl hatte", entgegnete Shainara ruhig.
„Ja, ich weiß. Es war kein Vorwurf, Shainara.
Wir hatten beide keine Wahl; nach so vielen Missernten war ich gezwungen, Ariadna als sichtbares Zeichen für die Gunst der Götter an meinen Hof zu holen.
Aber ich kann nicht umhin, zuzugeben, wie sehr ich es bedaure, dass dieser Schritt Euch, Ariadna und auch meiner Frau Schmerz zugefügt hat."
„Ich habe kein Recht, etwas für mich zu fordern", gab Shainara zurück. „Mein Leben ist dem Dienst an den Göttern geweiht. Das ist der Preis für meine Gabe."
„Das ist nicht gerecht. Es ist nicht recht, dass ihr so einsam sein müsst."
„Daraus erwächst meine Kraft. Es gibt mir Klarheit", sagte Shainara, aber ihrer Stimme fehlte es an Überzeugungskraft.
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Sie zögerte lange.
Sie wirkte müde und zerbrechlich; ihre stets königliche, reservierte Haltung schien zu bröckeln und nachgiebiger zu werden.
Es war eine fast unmerkliche Veränderung, aber dennoch konnte ich es deutlich sehen.
„Ihr wart nicht nur Pflichterfüllung für mich, Bran", sagte sie dann leise.
Bran zuckte zusammen. Er drehte den Kopf und sah sie an, dann überwand er das letzte bisschen Abstand zwischen ihnen und zog sie heftig an sich.
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Sie ließ es geschehen und schmiegte sich in seine Arme. Ihr Kopf sank in den Nacken, und sie sah ihn unverwandt an.
Er stöhnte auf.
„Ich muss verrückt sein", murmelte er. „Warum tue ich das?"
Sein Atem hatte sich beschleunigt, und seine Lippen näherten sich ganz langsam den ihren, verharrten nur eine Winzigkeit davor, bevor er sie berührte.
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Und dann küsste er sie, zärtlich zuerst, aber als Shainara ihre Arme um seinen Nacken schlang und den Kuss erwiderte, stöhnte er erneut auf und vertiefte den Kuss voller Leidenschaft.
Shainaras Hände fuhren durch sein Haar, und er presste sie an sich.
Dann legte sie die Hände gegen seine Brust und schob ihn sanft, aber entschieden von sich. Sie lehnte die Stirn an sein Wams, ihr Atem ging heftig.
Schließlich richtete sie sich auf, legte ihre Hand an seine Wange und sah ihn ernst an.
„Ich habe einen Moment Shainara nachgegeben und die Priesterin vergessen. Das war nicht richtig, aber ich bereue es nicht.
Aber wenn Du etwas für mich tun willst, dann sorg dafür, dass das nie wieder geschieht. Tu es für mich."
Bran nickte.
„Ja", sagte er. „Alles ist gut so, wie es ist."
Aber seine Stimme strafte ihn Lügen.
Diese Begegnung trug nicht dazu bei, dass meine Gedanken sich klärten und der Aufruhr in meinem Innern sich legte. Ganz im Gegenteil.
Und ich stellte missmutig fest, dass ich es leid war, mir ständig neue Erkenntnisse vor Augen führen zu lassen, die mein fest gefügtes Bild von manchen Personen gründlich zertrümmerten.
Als ich endlich in den Palast zurück fand, hatte ich eigentlich nur das Bedürfnis, mich sofort in meinen Räumen zu verkriechen; aber der Lichtschein, der unter der Tür von Artairs Beratungskammer in den Gang floss, zog mich unaufhaltsam an.
Braigh lag auf einer Bank vor der Tür und schlief fest. Artair hatte seinen Umhang über ihn gebreitet; offenbar hatte sich Braigh geweigert, zu Bett zu gehen, solange die Möglichkeit bestand, dass Artair ihn brauchen könnte.
Ich kniete mich vor ihn und weckte ihn sanft. Verwirrt schlug er die Augen auf, und als er mich erkannte, setzte er sich hastig auf.
„Es tut mir leid", sagte er.
„Das ist in Ordnung, Braigh", erwiderte ich.
„Wenn Artair dich das nächste Mal zu Bett schicken will, kannst Du ruhig auf ihn hören."
Braigh nickte, und ich lächelte. Gowan war genauso gewesen.
„Geh ruhig schlafen", sagte ich.
„Ich kümmere mich um Artair. Ich werde ihn ins Bett jagen."
Braigh lachte, stand aber dann auf und ging.
Ich klopfte leise an, aber ich erhielt keine Antwort. Vorsichtig öffnete ich die Tür.
Bei meinem Eintreten hoben die Hunde, die schlafend am Kamin gelegen hatten, wachsam die Köpfe, aber als sie mich erkannten, ließen sie die Schnauzen beruhigt wieder auf ihre Pfoten sinken.
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Artair saß vornüber gesunken hinter seinem Schreibtisch, er hatte beide Arme auf die Tischplatte gelegt, quer über all seine Pergamente und Schriftrollen, und den Kopf darauf gebettet.
Der Schlaf hatte ihn übermannt.
Leise ging ich in Richtung des Schreibtisches, vorbei an endlosen Reihen von Regalen voller Bücher und Pergamente. Ich strich mit den Fingerspitzen über die ledernen Rücken und lächelte.
Bei mir war es die Heilkunst gewesen, bei Brayan die Musik, und bei Artair die Liebe zu Büchern.
Bereits als Kind hatte er jede freie Minute, die er sich von Mártainn erbetteln konnte, mit hochroten Wangen über Büchern und Schriftrollen zugebracht, und hinterher Stunde um Stunde das Gelesene mit ihm diskutiert.
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Oft waren Brayan und ich zu Artair auf den Heuboden geklettert, tief eingegraben in das süß duftende Heu, und hatten gebannt seiner Stimme gelauscht, als er uns vorlas.
Wenn Artair las, war er nicht mehr bei uns, und immer versuchte er, sich das, was er in sich aufgesogen hatte, in irgendeiner Form zu eigen zu machen.
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Als Mártainn ihm seltsame Schriften irgendeines Verrückten aus einem weit entfernten Land mit den Worten „Lies das. So könnte die Zukunft aussehen" gezeigt hatte, brach sich Artair mehrere Male sämtliche Knochen, weil er versuchte, die abstrusen Konstruktionen nachzubauen und natürlich auch zu
benutzen, bis Mártainn dem ein Ende setzte.
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Und er überredete Brayan und mich, mit ihm eine ganze, bitterkalte Nacht auf dem höchsten Turm des Palastes zu verbringen, weil er aus den Schriften eines seltsamen Propheten errechnet hatte, dass in dieser Nacht die Welt untergehen würde, und das wollte er dann doch möglichst genau sehen.
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Natürlich ging die Welt nicht unter, obwohl das, was wir beobachten konnten, wirklich beängstigend war.
Artair holte sich lediglich eine Lungenentzündung; und Mártainn tobte und redete dann ernsthaft mit ihm, weil er seine Wissbegierde unterstütze, aber Artair nicht das Recht habe, sein Leben mutwillig aufs Spiel zu setzen.
Artair hatte vor nichts Furcht gezeigt, noch nie. Und er war erfüllt gewesen mit einem brennenden Wissensdurst und dem unbezwingbaren Drang, allem auf den Grund zu gehen und alles zu hinterfragen.
Und daran hatte sich nichts geändert, wenn ihm auch heute die Zeit fehlte und er vorsichtiger war.
Ich trat leise zu ihm.
Im Schlaf hatte sich sein Gesicht entspannt, er sah gelöst aus, bar jeder Sorge. Meine Fingerspitzen brannten vor Sehnsucht, ihn zu berühren, und ich konnte nicht widerstehen.
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Sanft strich ich ihm eine Strähne aus der Stirn, zeichnete die Kontur seiner Wangenknochen nach und berührte einen winzigen Moment seine Lippen.
Mein Herz tat weh.
Er lächelte im Schlaf, seine Augenlider flatterten.
„Neiyra?" murmelte er fragend, und dann fuhr er ruckartig auf.
Er hatte tief geschlafen und konnte nicht sofort zurück ins Hier und Jetzt finden, er sah mich verwirrt und orientierungslos an und nahm gedankenverloren meine Hand in die seine.
„Ich bin eingeschlafen", sagte er.
„Offensichtlich", erwiderte ich.
Wir sahen uns an, eine halbe Ewigkeit, so schien es mir.
„Geh zu Bett", sagte ich dann und entzog ihm meine Hand.
„Für heute ist es genug."
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