Artair öffnete die Tür von Megans Taverne, und ein Schwall warmer Luft drang heraus, untermalt von Gelächter, Gesang und dem Duft nach Ale, Apfelmost und gebratenem Spanferkel.
Die Männer in der Taverne wandten sich der sich öffnenden Tür zu, und als sie Artair erkannten, brach Jubel aus.
Kaum hatten wir den Raum betreten, da waren wir schon umringt von begeisterten Kämpen, die Artair hochleben ließen, ihm auf die Schulter schlugen und sich gegenseitig umarmten.
Ich beobachtete das wilde Treiben, und langsam merkte ich, wie auch von mir die Spannung abfiel.
Sicher, es war ein hart erkämpfter Sieg gewesen, der uns einiges abverlangt hatte und viel zu vielen Menschen das Leben und die Unversehrtheit genommen hatte - aber es
war ein Sieg gewesen, und die Männer hatten jedes Recht, ihn auch zu feiern; so, wie sie es jedes Mal taten.
Es half ihnen, mit dem Geschehenen abzuschließen und wieder in den Alltag zurückzufinden.
Schließlich begann Artair, uns einen Weg durch die Menge zum Tresen zu bahnen, und ich winkte Kurr zu, Megans jüngstem Sohn, der am Kamin saß, den Bratspieß drehte und sehnsüchtig zu uns herübersah.
„Artair! Neiyra! Kommt rüber!", hörten wir Brayans Stimme, und als wir uns umwandten, sahen wir Brayan, der seine neu erworbene Narbe auf eine von ihm besonders bevorzugte Art und Weise feierte.
Er saß breitbeinig auf einer Bank, in der erhobenen Hand einen Krug Ale; und auf jedem seiner Oberschenkel saß eine von Megans Töchtern, die begeistert kicherten.
Artair grinste und winkte ab, und schließlich erreichten wir den Tresen.
Dahinter stand Megan, die einen Krug polierte und uns zur Begrüßung zunickte. Ich wies mit dem Kopf auf Brayan und ihre Töchter.
„Habt Ihr keine Angst um die Ehre Eurer Töchter, Megan?", flachste ich, und Megan lachte.
„Es war ein harter und langer Tag", sagte sie, „Für uns alle; und sie haben ein wenig Spaß verdient. Brayan ist ein guter Junge. Er würde keine meiner Töchter ins Unglück stürzen."
Ich lachte, und während Megan einen Krug Ale für Artair und einen mit Apfelmost für mich holte, beobachteten wir Brayan amüsiert.
„Es mag ja sein, dass Brayan ein guter Junge ist", grinste ich, „aber wenn das so weitergeht, besteht die Gefahr, dass zum Winter zwei kleine Brayans das Licht der Welt erblicken."
Artair schüttelte den Kopf.
„Brayan ist sehr.... vorsichtig. Er bemüht sich, dies zu vermeiden, besonders bei unverheirateten Mädchen."
„Wirklich?", fragte ich überrascht. „Hast Du Brayan schon jemals dabei ertappt, dass er etwas ernst nimmt?"
„Oh ja, das habe ich", erwiderte Artair.
Er nahm einen tiefen Schluck Ale aus seinem Krug und schien einen Moment zu überlegen, ob er weiter reden sollte.
„Es gibt zwei Knaben in Caer Mornas, die seine Söhne sein könnten. Es ist nicht wahrscheinlich - keiner von ihnen sieht ihm ähnlich, und Du weißt, dass alle Nachkommen seiner Linie seit Jahrhunderten blondes Haar und braune Augen haben, egal, wie der andere Elternteil aussieht - aber ihm reicht es, dass er sie in die Welt gesetzt haben könnte. Also sorgt er dafür, dass es ihnen und ihren Müttern an nichts mangelt."
Ich schwieg verblüfft. Das hatte ich nicht gewusst. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es zu Brayan passte. Und auch, dass er kein großes Aufhebens darum machte.
Ich warf einen erneuten Blick auf ihn.
„Es mangelt ihm wahrhaftig nicht an Auswahl", meinte ich nachdenklich, „aber er scheint noch niemals sein Herz ganz und gar an eine Frau verloren zu haben."
Artair antwortete nicht, und sein Schweigen dauerte so lange, dass ich ihn neugierig musterte.
„Etwa doch?", fragte ich überrascht.
Er zögerte noch einen Moment, dann nickte er.
„Erinnerst Du Dich an den Sommer vor einigen Jahren, als Brayan dieses Fieber bekam? Er schien sich nicht recht davon erholen zu wollen, und so schickte ihn Dian nach Caer Galadon zu den Priesterinnen. Als er im Herbst wieder zurück kam, war er zwar gesund, aber ungewöhnlich still und schweigsam."
Ich nickte. Ich erinnerte mich gut daran, auch mir war Brayans seltsame Ruhe aufgefallen.
„Eines Abends fand ich ihn sturzbetrunken in der Taverne", fuhr Artair fort. „Ich setzte mich zu ihm, und fragte ihn rundheraus, was eigentlich los sei. Und nach einigem Hin und Her sagte er schließlich, er habe Liebeskummer. Er habe die richtige Frau gefunden, die Eine; aber sie würde ihn nicht einmal wahrnehmen. Und seitdem habe ich ihn niemals mehr mit einem Mädchen gesehen, mit dem es ihm ernst gewesen ist. Er kann sie nicht vergessen."
Ich verschluckte mich fast an meinem Most und sah zu ihm hinüber.
Da saß er, zwei Mädchen auf dem Schoß, und der Rest der anwesenden holden Weiblichkeit sah mehr oder weniger interessiert zu ihm herüber.
Brayan war stets freundlich und höflich, sah umwerfend aus und hatte Charme und Witz.
Seit wir den Kindesschuhen entwachsen waren, hatte er Mädchen und Frauen magisch angezogen, und neben all seinen offensichtlichen Vorzügen war er obendrein noch der Sohn des Truchsesses und der beste Freund des Königs, was ihn zweifellos zu der bei weitem besten Partie in Caer Mornas machte.
Außer Artair selbst, natürlich; aber obwohl der nicht weniger anziehend war als Brayan, kam kaum eine Frau auf die Idee, Artair als Ehemann in Erwägung zu ziehen – er war schließlich der König.
„Es gibt eine Frau, die Brayan die kalte Schulter zeigt? Die muss ich unbedingt kennen lernen! Wer ist sie?"
Artair zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er wollte es nicht sagen."
Ich verdrehte die Augen. „Und Du hast ihn nicht noch mehr abgefüllt, um es aus ihm herauszuholen?"
„Natürlich habe ich das. Ich habe ihm vier weitere Krüge Ale ausgegeben, aber es hat nichts geholfen, er wollte nicht verraten, wer sie ist."
Er blickte zu Brayan hinüber. „Ich vermute, dass es eine der jungen Priesterinnen in Caer Galadon sein könnte."
Ich nickte, das erschien mir einleuchtend. Eine Frau, die ihr Leben dem Dienst an den Göttern gewidmet hatte, wäre vielleicht selbst für Brayans Charme unempfänglich.
Artair leerte seinen Krug und streckte sich.
„Ich mache mich jetzt auf den Weg. Bleibst Du noch hier?"
Ich nickte. Artair löste sich vom Tresen, und ich drehte mich um.
Dabei fiel mein Blick auf einen Mann, der sich breitbeinig vor uns aufgebaut hatte und uns mit finsteren Blicken musterte. Artair trat auf ihn zu.
„Uisdean", sagte er. „Ihr habt die Südflanke gut gehalten und Euch wacker geschlagen."
Er legte seine Hand auf Uisdeans Schulter. „Eure Umsicht hat vielen Männern das Leben gerettet."
Uisdean sah ihm unverwandt ins Gesicht und schwieg eine geraume Weile, aber dann nickte er, und Artair verließ die Taverne.
Gedankenverloren lehnte ich mich gegen den Tresen und dachte über das nach, was Artair mir über Brayans unglückliche Liebe erzählt hatte.
Ich sah ihn an und fühlte eine tiefe Verbundenheit, denn ich wusste genau, was er empfand.
Wir drei waren wie Geschwister aufgewachsen, und unsere Kindheit kam mir heute noch wie ein großes Abenteuer vor.
Dian, Brayans Vater, hatte unzählige Kinderfrauen einstellen müssen, weil wir unser Möglichstes taten, um sie schnellstmöglich wieder zu vergraulen.
Irgendwann hatte Dian entnervt aufgegeben, und so waren wir nicht nur mutterlos, sondern auch ohne weibliche Hand und ohne weiblichen Einfluss aufgewachsen; und lange Jahre hatte ich beide wie echte Brüder geliebt.
Bis das sichere Gefüge meiner Welt zerbrach.
Denn irgendwann, ganz langsam und schleichend, hatte sich etwas verändert.
Ich wusste nicht, wann es passiert war. Ich wusste lange Zeit nicht einmal, was passiert war, nur dass etwas anders war.
Dass mit
mir etwas anders war.
Ich hatte keine Erklärung für die Verwirrung, die mich plötzlich so oft in Artairs Gegenwart überfiel, für meine Ungeschicklichkeit und Unsicherheit, das Herzklopfen und das seltsame Gefühl im Bauch, als wir die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenwerden überschritten.
Ich war verstört, verunsichert und auch ängstlich, und mit wem hätte ich darüber reden sollen?
Bis jene Nacht der Frühlingsfeuer kam. Die Sonne versank und wich einer samtenen, lauen Dunkelheit, und die Luft vibrierte vor Spannung und in einer fiebrigen Erwartung, die ich damals nicht begreifen konnte und die mich unruhig und nervös machte.
Und als die Feuer entzündet waren, beobachtete ich, wie mehr und mehr Paare aus dem flackernden Schein verschwanden und in den schützenden Schatten des Waldes eintauchten, wo sie den Beginn des Frühlings und den Kreislauf des Lebens auf ihre Art feierten; und ich verstand zum ersten Mal die Bedeutung der Frühlingsfeuer.
Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich Artair nicht mehr mit den Augen einer Schwester ansah; und ich begriff, was mit mir geschehen war.
Ich blickte zu ihm hinüber und sah ihn an, als sähe ich ihn zum ersten Mal; und mir schien auf einmal, als sei mein Körper viel zu klein und zu eng für all die Gefühle, die mich plötzlich überwältigten.
Ein unbeschreibliches, niemals vorher dagewesenes Glücksgefühl; Zärtlichkeit, Sehnsucht und ein unbestimmtes Verlangen; und all diese Empfindungen, die mein Herz zum Überquellen brachten, entlockten mir ein Lachen voll reiner Freude.
Ich hatte nicht gewusst, dass man auf diese Art fühlen kann. Es war, als hätte ich niemals zuvor den Himmel gesehen.
Als ich lachte, blickte er zu mir hinüber und winkte mir gutgelaunt zu.
Und ich hatte die zweite Erkenntnis in dieser Nacht.
Denn sein Blick auf mich war immer noch der gleiche. Ich war seine kleine Schwester.
Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, die Verwirrung, Unsicherheit und Ungeschicklichkeit in seiner Gegenwart zu überwinden und das Herzklopfen, das Verlangen und die Sehnsucht zu ignorieren.
Ganz gelegentlich erlaubte ich der Zärtlichkeit, in unseren meist rauen Alltag einzudringen, sehr vorsichtig und immer wohldosiert; und das war ein gewisser Trost, wenngleich es auch nie genug zu sein schien.
Ich glaubte nicht daran, dass seine Gefühle für mich sich wandeln würden, denn er liebte mich ja. So, wie Brayan und ich uns liebten.
Bruder und Schwester.
Und langsam verfiel die hell lodernde Freude in meinem Innern zu einem schwelenden Häufchen Asche.
Ich trank meinen Most aus, lächelte Brayan zu und überließ ihn seinem Schicksal, mit dem er jedoch sehr zufrieden zu sein schien.
Als ich in die kühle Nachtluft hinaustrat, entschloss ich mich, die Abkürzung über die Wehrmauer zu nehmen.
Ich würde zwar einiges zu klettern haben, konnte aber ziemlich sicher sein, dass mir niemand mehr begegnen würde. Ich war der Menschen müde und sehnte mich nach Ruhe.
Als ich das große Tor passierte, hörte ich Artairs Stimme im Hof. Neugierig beugte ich mich vor und sah ihn mit Braghan reden, dem Hauptmann der Wache.
Dann hörte ich das Klappern von Pferdehufen und das Geräusch des sich öffnenden Tores.
Überrascht drehte ich mich um und stützte mich auf den Außenwall - und sah zwei Männer der Wache Caer Mornas in großer Eile verlassen und ins Dunkel galoppieren.
So, und das war´s dann für heute. Zu Weihnachten, dem Fest der Liebe, ein Kapitel über die Liebe.