Gang 4 – Lammcarré – Teil 1
Gang 4 – Lammcarré – Teil 1
«Leider kommt es bezüglich des Lammcarrés zu einer Verzögerung in der Küche», meldete Elsa mit einem perfekt ausgeführten Knicks. Sie wagte nicht, in Ingeborgs Richtung zu sehen, und verschwand eilig aus dem Salon.
Diese runzelte die Stirn. Sie sah zu Smilla und warf Gustaf einen bedeutungsvollen Blick zu. Smilla verspürte ein unheilvolles Ziehen in der Magengegend. Sie wusste genau, was nun kam.
«Das ist sehr unangenehm», ergriff ihr Vater das Wort. «Aber wir wollen die kleine Pause nutzen, den Abend mit einem musikalischen Leckerbissen zu bereichern.»
Smilla merkte, wie sich ihre Arme abermals mit einer Gänsehaut überzogen. «Musikalischer Leckerbissen.» Nur schon dieser Ausdruck hätte sie am liebsten laut aufschreien lassen. «Smilla, wenn ich bitten darf.» Er nickte ihr zu.
Flehend sah sie ihn an. «Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht», dachte sie, während sie kaum merklich den Kopf schüttelte.
Gustaf blickte streng zurück und sie wusste, dass sie keine Chance hatte.
«Ich – ich hole schnell Noten», presste sie hervor. Sie versuchte, nicht zu Lex zu sehen. Bestimmt war er enttäuscht darüber, dass sie sich so widerstandslos fügte.
Mit Mühe bremste sie ihre Schritte, als sie zur Tür ging, doch auf der Treppe nach oben konnte sie sich nicht mehr halten und rannte los. Ein wenig atemlos kam sie in ihrem Zimmer an und liess sich aufs Bett fallen.
Es knackte leicht und sie erinnerte sich an Lex’ CDs, die sie dort versteckt hatte. Wie lange das her war! Konnten es wirklich nur ein paar Stunden sein?
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Hatten ihre Eltern denn überhaupt kein Verständnis dafür, wie viel sie von ihr verlangten?
Der Flügel … Seufzend stand sie auf. Natürlich würde es einerseits schön sein, ihn wieder zu spielen. Seine Tasten, die sich wärmer anfühlten und viel leichter bewegen liessen als die des E-Pianos. Ein Zucken von zwei Fingern reichte für den perfekten Triller, für den sie sich auf dem Piano in ihrem Zimmer konzentrieren musste, um die genau richtige Frequenz zu erwischen. Frisch gestimmt musste der Flügel eine echte Wohltat sein.
Aber er stand zu nahe an dem Ort, an dem Lasse sein Leben gelassen hatte.
Dabei hatte sie so viele Erinnerungen an diesen Raum und an dieses Instrument, gemeinsam mit Lasse. Lasse, der ihr die ersten Stücke auf dem Klavier beigebracht hatte. Lasse, der auf der Klaviatur rumgeklimpert hatte, wenn sie eine komplizierte Chopinetüde einstudierte, um sie zu ärgern. Lasse, der gerne vierhändig mit ihr gespielt hatte. Lebendige Erinnerungen.
Lasse, der neben dem Flügel lag, blutend, leblos. Tot.
Warum hatte er sich ausgerechnet diesen Platz ausgesucht? Vielleicht wollte er bewusst dort sterben. Er hatte die Musik mindestens genauso geliebt wie Smilla.
Sie konnte nicht spielen. Nicht heute. Nicht nach dieser Zeit. Es war schon schlimm genug, dass sie sich überhaupt in den Salon begeben musste, doch solange sie nicht zu der Stelle hatte blicken müssen, an der Lasse seine letzten bewussten Momente erlebt hatte, war es ertragbar gewesen. Es waren genug Geheimnisse ans Licht gekommen, um sie abzulenken. Aber …
Sie zuckte zusammen. Die anderen warteten auf sie. Fragten sich, wo sie blieb. Sie konnte es sich nicht erlauben, herumzutrödeln. Ausserdem half es nicht, wenn sie trüben Gedanken nachhing. Es war klar, was ihre Eltern von ihr erwarteten, und natürlich würde sie gehorchen. Es hatte keinen Zweck, es noch länger hinauszuschieben.
Rasch ging sie zum Regal, in dem sie ihre Partituren aufbewahrte. Nun blieb ihr nicht mehr viel Zeit, sich für ein Stück zu entscheiden. Sie blätterte durch Mozart- und Beethovensonaten, doch keine davon wollte sie an die Gesellschaft verschwenden. Niemand von denen, von Astrid und Lex mal abgesehen, würde sie verstehen, und Smilla fürchtete, die Erinnerung an den schrecklichen Auftritt würden ihr die Stücke für immer verderben.
Sie brauchte irgendetwas Beeindruckendes, Kompliziertes, technisch Anspruchsvolles. Etwas, das die Gäste staunen liess, damit sie wenigstens in Erinnerung rufen konnte, wie begabt die Gyldenløves waren. Oder zumindest etwas, das so wirkte, als sei es schwierig.
Kurz erwog sie, «Für Elise» zu wählen – ein Anfängerstück, aber es erlaubte einem, mit grossartigen Bewegungen den Eindruck der Virtuosität zu simulieren. Doch es wäre ihr zu lächerlich vorgekommen. Und wenn einer von denen als Kind schon mal Klavierunterricht gehabt hatte, würde er wissen, dass es trotz aller Theatralik nicht besonders schwer zu spielen war.
Eine Etüde von Chopin oder Liszt? Immerhin hatte sie mit ihnen schon viele Stunden zugebracht. Aber, so dachte sie, es musste etwas so Bekanntes sein, dass selbst die Banausen da unten etwas damit anfangen konnten. Dann würde ihnen der Auftritt automatisch besser gefallen. Vielleicht die Mondscheinsonate? Die war bekannt und einigermassen anspruchsvoll. Nur würde sie nicht so viel Zeit haben, sämtliche Sätze zu spielen, und ihr liebster war der dritte, der schnelle, der beeindruckendste. Ganz zu schweigen davon, dass ihr das Stück zu viel bedeutete, um Menschen wie die Svenssons daran teilhaben zu lassen.
Resigniert stand sie auf. Sie konnte nicht spielen. Sie konnte kein Stück verschwenden. Doch dann kam ihr der rettende Einfall.
Volodos.
Auf ihrem E-Piano befanden sich immer noch die Noten für die Volodostranskription von Mozarts Türkischem Marsch. Eine Welle von grimmiger Zufriedenheit durchwog sie. Sie konnte Volodos nicht leiden, er übertrieb gehörig und veränderte die Seele der Stücke, die er neu arrangierte. Doch sie hatte eine Zeit lang an diesem Stück gearbeitet, um ihre Technik zu verbessern, und wenn ihre Interpretation auch noch nicht perfekt war, kam sie gut durch. Normalerweise. So, wie ihre Finger gerade zitterten, bezweifelte sie, überhaupt einen geraden Takt spielen zu können. Doch das würde sich legen. Der Flügel konnte seine magische Wirkung auf sie nicht verloren haben.
Die Transkription war bestens geeignet. Die Leute würden die Melodie wiedererkennen. Sie konnte ihr Können unter Beweis stellen.
Und ihr blieb keine Zeit mehr, länger nachzugrübeln.
Sie packte die Noten zusammen und ging, so schnell sie konnte, zurück zu den Gästen.
«Da bist du ja, Smilla», sagte Ingeborg mit einer Freundlichkeit aus zusammengekniffenen Augen heraus, die nur bedeuten konnte, dass sie sie zu lange hatte warten lassen. «Ich habe den Gästen schon erzählt, dass du dich gerne in deinen Notenschriften verlierst.»
Smilla nickte lächelnd. Sie durfte sich nicht von Ingeborg ablenken lassen. Tapfer machte sie Schritt um Schritt Richtung Flügel. Es war ihr, als ob sie jede Holzlatte des Parkettbodens einzeln spüren konnte.
Da vorne hatte Lasse gelegen, dort, nur noch vier Schritte, noch drei, noch zwei. Noch einer. Als sie auf der Stelle stand, Lasses Todesstelle, raste ihr Herz so schnell, dass dunkle Flecken vor ihren Augen zu tanzen begannen. Sie versuchte, langsam und tief ein- und auszuatmen. Weiter. Gleich daneben stand der Flügel. Sie musste es auf die Klavierbank schaffen. Das Sitzen würde ihr guttun. Nur nicht ohnmächtig werden wegen so was. Bloss nicht das.
Tatsächlich lichtete sich der Schleier vor ihren Augen, als sie sich setzte, die Punkte wurden kleiner und bewegten sich langsamer, bis sie wieder eine klare Sicht hatte. Doch ihr Kopf pochte und sie spürte den Schweiss an ihrem Haaransatz. Als sie die Noten auf dem Ständer platzierte, zitterten ihre Hände so stark, dass sie ein Blatt fallenliess und es beinahe zu Boden geglitten wäre, hätte sie es nicht im letzten Moment auf der Klaviatur erwischt. Dabei haute sie versehentlich auf die Tasten. Eine kleine Sekunde erklang, sie dröhnte schief und unheimlich.
Sie rang nach Luft, als hätte sie einen Hundertmeterlauf hinter sich. Dann las sie den ersten Takt. Konzentration. War sie eigentlich verrückt geworden? Volodos? Zum Vorspiel? Jetzt? Es wäre unter normalen Umständen schon eine Herausforderung. Sie hatte das Stück nicht bis zur Vorführung einstudiert und hatte es zudem die letzten Tage nicht mehr angerührt. Wenn sie wenigstens Zeit gehabt hätte, sich ein wenig einzuspielen.
Ihr fiel auf, dass sie wieder viel zu lange gezögert hatte. Bestimmt starrten alle sie an. Bestimmt machte Ingeborg ungeduldige Bewegungen mit dem Kopf. Bestimmt lächelte Gustaf in einer Art, die er für aufmunternd hielt.
Sollte sie etwas sagen? «Der Türkische Marsch von Mozart in einer Interpretation nach Volodos», oder so was. Aber damit konnten die sowieso nichts anfangen. Mit Sicherheit kannte niemand von ihnen Volodos. Wussten nicht, was für ein exzellenter Virtuose er war.
Und welche Verschandlungen er grossartigen Stücken angetan hatte, nur um sie eindrucksvoller und schwieriger zu machen.
Sie legte die rechte Hand auf die Klaviatur. Den Daumen und den kleinen Finger auf C. Doch mittlerweile zitterte ihr ganzer Körper dermassen, dass sie sie kaum auf den Tasten halten konnte. Ausserdem waren ihre Fingerkuppen schweissnass geworden und sie fürchtete, abzurutschen.
Sie musste es einfach hinter sich bringen. Der Anfang war okay. Allegretto. Etwas schnell, aber nicht zu sehr. Lauter Achtel, dann Sechzehntel in der rechten Hand – das konnte sie. Das würde klappen. Und wenn es komplizierter wurde, war sie ja schon ein wenig eingespielt. Vielleicht konnte sie auch ein bisschen abkürzen. Selber improvisieren. Von den Zuhörern kannte mit Sicherheit keiner Volodos’ exakte Paraphrase. Wahrscheinlich wären sie nicht einmal in der Lage, sie von einer Improvisation über den Türkischen Marsch zu unterscheiden.
Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, drückte sie die Tasten hinunter. Forte. Zwei Achtel. C. D. Nun gab es kein Zurück mehr.
Während sie die ersten Takte spielte, spürte sie sofort, wie der Flügel ihr wohltat. Die Tasten bewegten sich so schnell und leicht, als wüssten sie schon vor Smilla, wann sie sich heben und senken mussten. Und sein Klang! Elsa hatte die Wahrheit gesagt – er musste tatsächlich frisch gestimmt worden sein. Die Reinheit der Töne beruhigte sie, holte sie ab in die ganz eigene Sphäre der Musik, in der Lasse nicht gestorben war, nicht neben dem Flügel gelegen hatte. Eine Welt, in der es keine Gäste, keine Zuhörer gab, sondern nur den Klang.
Zweite Seite. Sie hatte das Gefühl, zu rasen, und musste sich zwingen, das Tempo zu halten, im Wissen, dass sie später noch schneller werden müsste. Sie erreichte das Ende der zweiten Seite. «Wenn ich wenigstens einen Notenwender hätte», dachte sie noch und verpasste einige Verzierungen in der Bassstimme. Egal.
Die Lage spitzte sich zu, schnellere Tonfolgen. Bereits bespielte Seiten liess sie einfach zu Boden segeln, sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie wurde leiser, nur um das Crescendo ins Fortissimo noch deutlicher herauszuarbeiten. Die Bewegungen wurden immer grösser, ihre Hände bewegten sich auf der Klaviatur auf und ab. Inzwischen waren die Tasten ekelhaft glitschig geworden. Sie verrutschte, zielte schlecht, haute ein paar grobe Schnitzer rein, doch mit etwas Glück würde es niemand merken, ach was, natürlich merkte es niemand. Volodos war atonal genug.
Schneller. Velocissimo. Abwechslungsweise spielten ihre Hände Zweiunddreissigstel im höchsten Register. «Wie ich es hasse», dachte sie grimmig. «Wie übertrieben. Es hat nichts mehr mit Mozart zu tun, nichts, nichts, nichts. Und Ingeborgs ganze Erziehung und Ermahnungen haben nichts mit mir zu tun. Nichts!» Alles war nichts, nur die Zweiunddreissigstel nicht, die waren real, sie flutschten ihr durch die Finger, aber sie konnte nicht darauf achten, denn schon waren sie vorüber, eine Passage von Sechzehnteln in der rechten und Achteln in der linken Hand folgte, mehr Töne, sie erklangen alle gleichzeitig.
Crescendo. Lauter. Wütend hackte sie auf die Tasten ein und stellte sich vor, es sei Nils mit seinem schmierigen Lachen, seinen dreckigen Pfoten auf ihrem Knie. Noch lauter. Fortefortissimo. Sie hatte keine Ahnung mehr, was sie spielte. Irgendwann war der Punkt gekommen, an dem sie nicht mehr auf die Partitur gesehen, sondern nur ihren Fingern zugeschaut hatte, die Nils das gönnerhafte Grinsen aus dem Gesicht drückten, diesem Hochstapler, diesem Betrüger, diesem Angeber mit seinen schmutzigen Händen, die sie ihm am liebsten gebrochen hätte, eigenhändig zerquetscht, damit er sie in dicke Bandagen wickeln musste und niemanden mehr betatschen konnte!
Erschrocken stellte sie fest, dass sie nicht mehr weiterwusste, sie wusste nicht, auf welcher Seite sie sich befand, doch ihre Finger spielten automatisch, sie konnte nicht sagen, was, wusste nicht, ob es Volodos war oder etwas anderes, aber es war grausam, es war etwas, das Nils wehtat, es musste ihm wehtun, aber ach! – hatte er überhaupt Gefühle, die man verletzen konnte?
Sie war leiser geworden, aber immer noch forte, und endlich fand sie die Gelegenheit, hier, auf der zweitletzten Seite, konnte sie einsteigen, nochmals ein Crescendo, beide Hände im Bassschlüssel, immer lauter, höher und wieder tiefer und da, der Schlussakkord!
Sie schnappte nach Luft, keuchte. Eine kalte Schweissperle spürte sie von den Schläfen herabrinnen. Was für ein Krimi. Aber sie hatte es geschafft. Sie hatte die Familie nicht enttäuscht. Sie hatte das Stück akzeptabel durchgespielt, wenn es sich auch schrecklich angehört haben musste.
Sie hatte nicht so sehr an Lasse denken müssen.
Sie wagte einen Blick zu ihrem Publikum, das nun höflich zu applaudieren begann. Erst jetzt, als hätten sie einen Hinweis von ihr benötigt, um sich wirklich sicher zu sein, dass sie geendet hatte.
«Vielen Dank», sagte Ingeborg schlicht. Smilla wusste, dass sie jegliche Art von Lob unterdrückte, um auf die Gäste den Eindruck zu machen, Smillas Leistungen seien absolut nichts Besonderes für ihre Familie.
Das half, die Bewunderung der Aussenstehenden zu verstärken, sodass sie nicht mit Komplimenten sparten. Diese blieben tatsächlich nicht lange aus. Alle nickten sie staunend und anerkennend, versuchten, ihr zu schmeicheln.
«Das war einfach grossartig!», rief Nils, und Smilla hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt.
Es war nicht grossartig gewesen. Sie hatte zu oft neben die Tasten gegriffen, wahrscheinlich sogar über einen weiten Teil improvisiert, statt das Stück wiederzugeben. Es war keine vorführungsreife Vorstellung gewesen.
Doch es kam genau so, wie sie es erwartet hatte: Niemand, auch nicht nur ein Einziger, hatte wirklich zugehört, hatte verstanden, was sie gespielt hatte.
Und an solche Menschen musste sie ihre Musik verschwenden?
Hocherhobenen Hauptes ging sie zur Tafel zurück. Das erste Mal, seit man sie um eine Darbietung gebeten hatte, sah sie Lex an.
Er lächelte, hatte bisher aber noch nichts gesagt.
Einen schlimmen Moment lang erwartete sie, dass er ihr ebenfalls zur Darbietung gratulieren oder behaupten würde, sie hätte gut gespielt. Wie die anderen. Ohne etwas zu begreifen.
Doch nichts dergleichen geschah. «Alles okay?», fragte er stattdessen. Erleichterung durchflutete sie.
Wenigstens er nicht.
Sie sah in sein liebes Gesicht und nickte. «Ja.» Für diesen kurzen Moment war tatsächlich alles okay.