Kapitel 13
Mays Stimme zitterte synchron zum Rauschen der Telefonverbindung. Danny konnte hören, dass sie geweint hatte und wahrscheinlich bald wieder damit anfangen würde.
Seltsamerweise stimmte das ihn zuversichtlicher, als es ihre Beteuerung, wohlauf zu sein, getan hatte. May war eine äußerst starke Persönlichkeit. Sie wusste immer ganz genau, was zu tun war, und bewahrte sich selbst in den brenzligsten Situationen einen kühlen Kopf. Wenn sie sich das Weinen zugestand, dann konnte das nur bedeuten, dass sie sich längst außer Gefahr befand und zur Ruhe kam.
„Was ist mit Bryce? Er hat gesagt, dass er zum Utopia wollte, aber ich weiß nicht, ob er …“
Du guckst mich an, als würden wir uns zum letzten Mal sehen. Das waren die Worte, die er zu ihm gesagt hatte, kurz vor ihrem Abschied im Hafenviertel. Normalerweise war er nicht abergläubisch. Doch als er sich in der vergangenen Nacht mit aller Kraft gegen den Schrank gestemmt und dabei hatte zuhören dürfen, wie die Alte versuchte die Tür von Alfs Zimmer niederzurennen, war es ihm vorgekommen, als könne seine unbedachte Äußerung gegenüber Bryce nur ein böses Omen bedeuten. Und schlimmer – die Gewissheit, er hätte damit das Schicksal seines Freundes erst herausgefordert, hatte sich in ihm eingenistet wie ein Krebsgeschwür.
„Er ist hier.“
Mays knapper Satz sorgte für eine Spontanheilung. Im Nachhinein kam er sich albern vor, wenn er an sein Selbstbild des apokalyptischen Propheten dachte. Bryce würde ihn zweifelsfrei auslachen, wenn er davon erfuhr. Und das tat er am besten sofort. Ja, er musste hören, wie er ihn auslachte. Nur das würde sicherstellen, dass alles wie immer war.
„Hol ihn mal her. Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.“
„Ich kann nicht von der Stelle. Der Empfang hier unten ist total schlecht und wenn ich mich bewege, dann wird die Verbindung sicher komplett unterbrochen.“
„Ruf ihn, dann kommt er zu dir. Nur kurz, May, geht ganz schnell.“
„Ich sehe ihn aber nicht, hier gibt es mehrere Räume und … Danny, du musst jetzt einfach auf mein Wort vertrauen. Würde ich dich jemals anlügen?“
Nein, würde sie nicht. Immerhin war sie nicht einfach nur seine Schwester, sie war seine ehrliche, aufrichtige, der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verfallene Schwester. May verabscheute Lügen, besonders wenn sie elementare Angelegenheiten betrafen. Wenn sie sagte, dass alles okay war, dann war alles okay. Mit Bryce konnte er auch später noch sprechen. Heute Abend, zum Beispiel.
„Ich komme zu euch. Ich bin mit dem Wagen von so einem Mädchen hergekommen, den kann ich wohl nicht haben. Vielleicht krieg ich´s hin ´ne andere Karre kurzzuschließen, mal schauen. Aber selbst wenn ich zu Fuß gehe, sollte ich spätestens heute Abend bei euch …“
„Auf gar keinen Fall!“, unterbrach May ihn aufgebracht. „Du hast selbst gesagt, dass du aus den Videos im Netz weißt, dass die ganze Insel betroffen ist. Überall gab es solche Vorfälle wie … du würdest es nicht schaffen, sie würden dich sofort … du bleibst, wo du bist! Hast du mich verstanden? Selbst wenn du es bis hierhin schaffen würdest, kämst du nicht in den Keller hinein.“
„Wieso? Du hast gesagt, es sei niemandem etwas passiert.“
„Niemandem, den wir kennen. Anderen schon. Sehr vielen anderen“, erklärte sie und gönnte sich eine Pause, die von einem leisen Schluchzen begleitet wurde. „Du darfst nicht kommen, bitte. Das ist viel zu gefährlich. Du musst dort bleiben, wo du bist.“
Danny warf einen Blick zur Tür. Die Wohnungstür hatte nicht viel ausgehalten, sieben Mal war die Alte gegen sie gesprungen, bevor sie gebrochen war und den Weg ins Wohnzimmer freigegeben hatte. Der massive Holzschrank hatte die Zimmertür in der vergangenen Nacht davor bewahrt, dieses Schicksal zu teilen, aber er hatte es knacken und bersten gehört, als er sich gegen den Schrank gestemmt hatte, um ihn zu stabilisieren.
Seit den frühen Morgenstunden verhielt die Alte sich ruhig, doch vielleicht ruhte sie sich nur aus und sammelte neue Kräfte. Wenn sie später wieder damit beginnen sollte, sich gegen die Tür zu werfen, dann würden sich die Karten neu mischen. Noch so eine Nacht würden Schrank und Tür sicher nicht unbeschadet überstehen.
„Ich bezweifle, dass das noch lange eine Option ist“, teilte er seiner Schwester mit.
„Dann geh zum Hafen“, schlug May hastig vor. „Bestimmt evakuieren sie von dort aus schon. Und wenn du auf dem Festland bist, dann fährst du zu unseren Eltern und wartest mit ihnen auf mich.“
Danny schwieg. Niemals könnte er sich zu seinen Eltern setzen, solange seine Schwester noch in Gefahr schwebte. Sie würden es nicht aussprechen. Sie würden sich nicht mal eingestehen, es zu denken. Und dennoch würde es sich in ihren Gesichtern abzeichnen, jeden ihrer Blicke auf ihn würde es durchsetzen, jeden Blick danach zu Boden erst recht. Oh gütiger Gott, wieso konnte es nicht andersherum sein?
Er wusste das. Und wenn May nur halb so ehrlich zu sich selbst war, wie sie es anderen gegenüber zu sein pflegte, dann wusste sie es auch.
„Vielleicht bringen sie die Evakuierten auch erst einmal in Quarantäne, ich weiß es nicht, aber wenn das so sein sollte, dann sehen wir uns da.“ Ihre Stimme wurde flehend. „Versprich mir, dass du das tun wirst! Danny? Versprichst du es mir?“
Dröhnender Motorenlärm verschluckte ihre letzten Worte. „Moment, hier geht gerade was“, rief er ins Handy und gesellte sich zu Scott ans Fenster.
Er hatte nicht mehr hinausgesehen seit in den frühen Morgenstunden dieser Kerl verreckt war. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, als der Aufruhr auf den Straßen sich beruhigt hatte. Die, die Alfred mit dem Brustton der Überzeugung als Zombies bezeichnete, hatten sich in die Häuser zurückgezogen und die meisten Überlebenden der langsam schwindenden Nacht schienen ein sicheres Plätzchen gefunden zu haben, denn nur noch vereinzelt waren Schreie zu hören gewesen. Die sich immer weiter ausdehnenden Episoden der Stille hatten den Typen anscheinend dazu ermutigt, einen Fluchtversuch zu starten. Danny hatte ihn dabei beobachtet, wie er aus einem der Fenster des ersten Stocks des gegenüberliegenden Hauses geklettert war und sich dann an zusammengeknoteten Bettlacken nach unten abgeseilt hatte. Gerade als er darüber nachgedacht hatte, ob sich wohl genug Decken in diesem Zimmer finden ließen, um das Manöver zu kopieren, war der Fremde an seinem Wagen angekommen, eingestiegen und hatte den Motor gestartet.
Sie kamen aus allen Ecken, aus den Hauseingängen und hinter Mülltonnen hervor. Er hätte niemals damit gerechnet, dass es so viele sein würden. Sie waren auf das Auto zu gerannt, hatten sich ihm in den Weg gestellt, es umzingelt.
Vieren hatte der arme Kerl ausweichen können und einen nahm er auf die Motorhaube, bevor er die Kontrolle über den Wagen verlor und am anderen Ende der Straße gegen eine Laterne prallte. Der Knall hatte noch mehr von ihnen angelockt. Als Danny das Glas der Windschutzscheibe hatte bersten hören, hatte er sich vom Fenster abgewandt.
Das, was er jetzt sah, entpuppte sich als wesentlich aufbauender als die Erinnerung. Zwei Hubschrauber überflogen das Viertel, so flach, dass ihr Lärm den Rahmen des Fensters erschütterte.
„Die kamen vom Hafen, oder?“, wandte er sich an Scott. „Wahrscheinlich evakuieren sie schon.“
Scott filmte den Flug. Seit er die Kamera in Alfreds Regal entdeckt hatte, hatte er sie nur selten aus der Hand gelegt. „Es könnten auch reine Aufklärungsflüge sein. Für eine spätere Bombardierung zum Beispiel.“
„Du bist so ein richtiges Sonnenscheinchen, was?“, fluchte Danny und legte sich das Handy ans Ohr. May war verschwunden und durch altbekanntes Piepsen ersetzt worden. Fast war er froh darüber, dass sie ihn nicht weiter zu einem Versprechen drängen konnte, das er sowieso nicht einzuhalten gedachte.
„Geht es ihr gut?“, wollte Scott wissen.
„Ja. Alles bestens. Sie haben sich im Keller des Utopia verschanzt.“
Mittlerweile waren die Hubschrauber nur noch zwei graue Punkte am Himmel, doch Scott hielt die Kamera weiter nach draußen gerichtet, ganz als würde er erwarten, dass sich noch etwas ereignete. Eine gewellte Strähne fiel ihm in die Stirn und verlieh seinem Gesicht etwas kindliches, unschuldiges. Wie einen so ein paar Haare doch täuschen konnten … Wieso hast du geklopft, Macklamoor? Irgendwas läuft da doch gewaltig schief in deinem hübschen Köpfchen.
Er hatte gegen die Scheibe geklopft, daran erinnerte Danny sich noch ganz genau. Alles war rasend schnell gegangen, Falkas Schrei, sein Blick nach draußen, das Erkennen von dem, was sich dort abspielte, dann Falkas Erklärung, die so absurd geklungen hatte, dass er noch einmal in den Hausflur hatte schauen wollen. Aber dazu war es nicht gekommen. Er hatte nur Scott gesehen, der sich vor der Tür positioniert hatte und an die Scheibe klopfte. Und dann, kurz bevor die Alte ihren ersten Vorstoß gewagt hatte, hatte er es ein weiteres Mal getan.
„Sie kommen heraus“, verkündete Scott und beendete damit jäh seine Überlegungen. „Sie folgen den Hubschraubern.“
Als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster widmete, konnte auch er sie sehen. Jetzt ähnelten die Gestalten mehr den Zombies, die man aus Filmen kannte. Zwar bewegten sie sich zielstrebig in eine Richtung, aber sie taten es langsam, torkelten tollpatschig herum wie Betrunkene. Einem gelang es nur in allerletzter Sekunde, eine drohende Kollision mit dem Laternenpfahl zu vereiteln.
Von seiner Zigarette war nur noch ein Stummel übrig. Danny nahm einen letzten Zug, warf den Rest aus dem Fenster und kramte die Schachtel hervor, die er nach ihrer Abfahrt vom Krankenhaus in einem Kiosk erstanden hatte. Nur noch vier Zigaretten waren übrig.
Ich muss sie besser einteilen, ermahnte er sich, wenn mir die Kippen ausgehen, dreh ich durch. Trotzdem zog er eine weitere aus der Packung und zündete sie an.
„Kannst du die Alte entdecken?“, fragte er, als der frische Rauch Einzug in seine Lungen hielt. „Vielleicht ist die auch rausgelaufen.“
„Bislang keine Spur von ihr.“ Statt den Hubschraubern filmte Scott nun die Verrückten. „Aber da drüben ist unser Flüchtiger.“
„Was? Den gibt’s noch?“
Er musste zweimal hinsehen, um es glauben zu können, aber der Typ schälte sich tatsächlich dort unten aus den Überresten seines Wagens. Der Stoff seines hellblauen Hemdes hing in Fetzen und verkrustet vom trocknenden Blut einer Schulterwunde von seinem Körper. Aber damit befand er sich in guter Gesellschaft, denn er war nicht der Einzige Verwundete auf der Straße.
Einen Moment lang starrte er in den grauen Himmel und dann schwankte er seines Weges, Seite an Seite mit denen, die ihm gestern noch nach dem Leben getrachtet hatte.
„Sie sind ansteckend. Sie müssen ansteckend sein“, kombinierte Scott. Für seine Verhältnisse klang er aufgeregt. „Schau doch wie viele das sind. Die Grippe war zwar weit verbreitet, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass fast das gesamte Viertel betroffen war.“
Danny zuckte mit den Schultern. Er wollte nicht darüber nachdenken. „Was macht´s für ´nen Unterschied?“
Scott sah ihn unverständig an. „Es macht einen gewaltigen Unterschied.“
„Nein, tut´s nicht. Es ist völlig gleichgültig. Ganz egal, ob sie dich nun abmurksen oder dich zu einem von ihnen machen – du solltest dich besser nicht von ihnen erwischen lassen“, entgegnete er. „Das ist alles, was man wissen muss.“
Ihm zumindest reichte dieses Wissen völlig, um sich endlich einen Plan über sein weiteres Vorgehen zurechtzulegen. Er musste schnellstmöglich zu seiner Schwester und selbst wenn die Alte sich noch in der Wohnung befand, war es ein guter Zeitpunkt, um das Weite zu suchen. Mit ihr allein würde er schon irgendwie fertigwerden. Sie war nur eine alte Frau. Er konnte sich ein Brett aus dem Schrank brechen und es dazu nutzen, sie auf Abstand zu halten. Und sobald er erst einmal unten war, würde er unbemerkt durch die Hintertür des Hauses verschwinden, während der Rest der Durchgedrehten den Lauten der Hubschrauber in die entgegengesetzte Richtung folgte.
Aber was sollte er mit Falka anstellen? Sie mitzunehmen war keine Option. Wenn er May in einem zustimmte, dann darin, dass der Weg zum Utopia kein Spaziergang werden würde. Es war besser, wenn er dabei auf niemanden anderes als auf sich selbst achten musste.
Was sollte also mit ihr geschehen? Bei dem Dicken konnte er sie kaum lassen, der sah aus, als würde er bei der ersten schwierigen Gelegenheit über die eigenen Füße stolpern und lautstark nach seiner Mami schreien. Und Scott? Irgendetwas sagte ihm, dass Scott schon auf sich aufpassen konnte. Aber war er deshalb in der Lage, auf andere aufzupassen?
Resignierend schüttelte Danny den Kopf. Er verschwendete nur unnötig Zeit, wenn er sich diesem Problem nun auch noch annahm. Dieses Mädchen ging ihn im Grunde überhaupt nichts an. Er kannte sie erst ein paar Stunden, er hatte keinerlei Verantwortung ihr gegenüber. Sie musste selbst schauen, wie sie klar kam. Man konnte ihm schließlich nicht vorwerfen, dass er seine Schwester einer vollkommen Fremden vorzog.
Und trotzdem läuft dir der Arsch auf Grundeis bei dem Gedanken daran, ihr das ins Gesicht sagen zu müssen.
Falka hockte noch immer neben Alfred vor dem giftgrünen Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm des Computers. Die Telefonleitungen waren über die gesamte Nacht hinweg lahmgelegt gewesen, aber das Internet hatte sie nicht im Stich gelassen. Aus den ins Netz hochgeladenen Videos hatte sich leicht rekonstruieren lassen, dass es auf der gesamten Insel Vorfälle wie den mit Scotts Nachbarin gegeben hatte. Egal wie gefährlich eine Situation auch sein mochte – es gab anscheinend immer irgendeinen Spinner, der die Kamera draufhielt.
Und einen, der es ja schon immer gewusst hatte. „Da!“, triumphierte Alfred lauthals. „Ich hab´s doch gesagt! Die ganze Zeit hab ich´s gesagt, aber mir wollte ja keiner glauben.“ Es war nicht das erste Mal, dass Danny das hörte. In Laufe der vergangenen Nacht hatte er diesem Sermon derart oft lauschen dürfen, dass er schon ernsthaft darüber nachgedacht hatte, ob die irre Alte da draußen nicht die angenehmere Gesellschaft gewesen wäre.
Am Anfang hatte er noch mitgezählt, wie oft der Dicke sich wiederholt hatte. Beim 76zigsten Mal war sein Geduldsfaden gerissen und er hatte feierlich geschworen, Alf das Maul zu stopfen, sollte er es nicht endlich von selbst halten. Beim direkt darauffolgenden 77zigsten Mal hatte ihn nur noch Falkas beherztes Eingreifen davon abhalten können, seinem Schwur Taten folgen zu lassen.
Zumindest hatte Alfred daraufhin wirklich eine Weile die Klappe gehalten und ihn aus sicherer Entfernung angeglotzt, als sei er das personifizierte Böse. Höchste Zeit ihn daran zu erinnern.
Danny baute sich vor ihm auf, krempelte in aller Ruhe seine Ärmel bis zum Ellenbogen hoch. Es fiel ihm schwer, sich das Grinsen zu verkneifen. „Ich steh zu meinem Wort, Junge, das garantiere ich dir!“
„Das ist komplett asoziales Verhalten“, maulte Alf, zog sich dann aber doch schmollend auf sein Bett zurück.
Als Danny sich neben sie gesetzt hatte, zeigte Falka stumm auf den Bildschirm. Die Verzweiflung in ihren blauen Augen verriet ihm, was er zu sehen bekommen würde, noch bevor sie das Video startete.
Seit sie sich in diesem Raum befanden, hatte er nicht mehr an den Alten gedacht. Verdrängt hatte er ihn, ausgeblendet, sein Hirn war übergequollen vor Sorge um May und Bryce, da war kein Platz mehr gewesen für einen verprügelten Junkie. Aber er hätte an ihn denken sollen. Wenn er nur einen Funken Anstand in sich tragen würde, dann hätte er wenigstens kurz an ihn gedacht. Um ihretwillen.
„Das heißt gar nichts“, sagte er.
„Doch, das heißt eine Menge.“
„Vielleicht hat er es früh genug mitgekriegt, das Krankenhaus ist groß, es könnte weit weg von seinem Zimmer losgegangen sein. Er könnte es nach draußen geschafft haben. Oder er könnte noch dort sein und die Tür verbarrikadiert haben, so wie …“
„Er ist tot“, unterbrach Falka ihn tonlos. „Das weiß ich und das weißt auch du.“
Ja, er wusste es. Er konnte es sehen. Bei dem Raum, der auf dem Bildschirm zu erkennen war, handelte es sich um den Wartesaal der Notaufnahme. Nach Hanks ausgiebiger Behandlung hatte ihr Daddy sich nicht einmal mehr selbstständig auf den Beinen halten können. Ein Fluchtversuch, wenn er sich zu einem solchen überhaupt hatte aufraffen können, hatte sicher nicht weit geführt.
Weil er nicht wusste, was er sagen sollte, zog er Falka an sich. Sie fühlte sich winzig an in seinen Armen. Winzig, hilflos und, nachdem der Alte höchstwahrscheinlich abgedankt hatte, jetzt auch noch furchtbar allein.
Bitte fang nicht an zu weinen, beschwor er sie gedanklich.
Sie tat ihm den Gefallen. Kurz kniff sie die Augen zusammen, aber als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick klar und gefasst. „Was hast du jetzt vor?“, fragte sie leise.
Sie hat DU gesagt. Nicht WIR, stellte er fest. Das ist gut, das ist verdammt gut. Sie geht gar nicht davon aus, dass du dich um sie kümmerst.
Natürlich geht sie nicht davon aus, sie ist ja schließlich nicht dämlich, höhnte eine Stimme, die entfernt an seine verbitterte Version seines Selbst erinnerte. Was glaubst du, was sie sieht, wenn sie dich so anschaut? Ihren großen Retter? Einen Dealer sieht sie, eine gescheiterte Existenz, ein egoistisches, mieses, kriminelles …
Danny unterdrückte ein Stöhnen. Das Spielchen kannte er schon. Mobbing-Daniel gab sich mal wieder die Ehre. Wenn er weiter so herumkrakelte, dann würde bald auch Opfer-Daniel anrücken und weinerlich darüber lamentieren, dass er für all das ja nun gar nichts könne. Das harmonierte dann meist so lange bis F.ick-dich-Welt-Daniel auf den Plan trat und den Knabenchor in eine Schulhofschlägerei verwickelte. Mit Beißen, Kratzen und an-den-Haaren-ziehen, ganz genau!
Momentan konnte er keinen von ihnen leiden. Das sentimentale Weichei, das am Rand stand und Nägel kaute, am allerwenigsten. Trotzdem überließ er diesem das Wort, als es die Stimme erhob.
„Falka und ich gehen zum Hafen. Irgendein Schiff wird dort sicher evakuieren und auf dem suchen wir ihr ein Plätzchen“, verkündete er laut. „Also was ist? Kommt ihr mit?“
Als Scott sich umdrehte, fiel ihm seine Bemerkung bezüglich Aufklärungsflüge und Bombardierung wieder ein. „Scott braucht seine Entscheidung nicht näher ausführen. Scott wird einfach nur nicken oder den Kopf schütteln, alles klar?“
Scott warf einen elendig langen Blick auf die mit dem Schrank verbarrikadierte Tür, dann einen noch längeren auf Alfred. Als er Danny wieder ins Visier nahm, nickte er knapp.
„Das ist Wahnsinn! Wir waren gestern am Hafen und sie haben kein einziges Schiff ablegen lassen! Sie halten uns hier fest! Sag es ihm, Scott! Der Hafen ist zu!“, protestierte Alfred. „Scott, sag es ihm!“
„Du hast es jetzt doch schon gesagt. Warum soll ich es nochmal sagen?“
„Der Hafen ist gesperrt!“
„Ja, vielleicht ist er das“, mit fahriger Geste deutete Scott auf die Tür, „hier können wir trotzdem nicht bleiben.“
„Und daran bist allein du schuld! Hättest du mir gesagt, dass sie die Feuerleiter abmontiert haben, dann hätte ich meine Zeit nicht damit verschwendet, das Balkonfenster zu sichern, sondern hätte mich direkt um die Wohnungstür kümmern können! Hast du das witzig gefunden gestern, ja? Heute findest du das wohl nicht mehr so lustig!“
Danny kratzte sich am Kinn. Er war geneigt, Alfred zuzustimmen. Zwar konnte er sich keinen Reim darauf machen, was es mit der Feuerleiter auf sich hatte, aber verdammt, dieser Typ hatte an die Tür geklopft, als die Alte noch mit dem Verspeisen ihres Ehegatten beschäftigt gewesen war. Allerdings kam er zu der Ansicht, dass es nicht der rechte Zeitpunkt sei, das zu diskutieren, wo Scott sich doch gerade auf seine Seite schlug.
Scott ging auf die Vorwürfe seines Mitbewohners nicht ein. „Alfred kommt auch mit“, sagte er ruhig und drehte sich wieder dem Fenster zu. „Er weiß es nur noch nicht.“
Alfred schnaubte. „Nirgendwo gehe ich hin! Hier ist es sicher, denn ich habe vorgesorgt. Ich habe Ausrüstung, ich habe Vorräte …“
Danny fragte sich, ob die großen Holzbuchstaben, die Alfs Spitznamen an die Wand schrieben, wohl zur Ausrüstung dazu gehörten – das L hatte eine passende Form, um wahlweise der Alten oder Alfred selbst ordentlich eins über den Schädel zu ziehen.
Wahrscheinlich sprach er aber eher von dem kleinen Lager, das er vor dem Bett aufgebaut hatte. Eine hübsche Taschenlampe fand sich dort neben ein paar Tupperdöschen und einem sauber gefalteten Stapel Hemden. Ganz vorne reihten sich vier Nutella-Gläser auf. Vier Nutella-Gläser! Seine ausladenden Kurven schien der Junge also unbedingt erhalten zu wollen.
Die Muskeln in Dannys Gesicht zuckten bedrohlich. Oh nein, guck schnell woanders hin, das ist zu geil, das ist …, wies er sich an, aber es war zu spät. Er konnte nicht anders als loszulachen.
„Ich habe gut vorgesorgt!“, fauchte Alfred pikiert. „Niemand von euch hat irgendwas gecheckt, während ich mich auf das alles …“
„Sobald die Alte sich ´nen Durchgang durch den Schrank genagt hat, hilft dir dein Nutella-Vorrat auch nicht mehr weiter“, unterbrach Danny ihn.
„Sie wird abhauen! Irgendwann kriegt sie Hunger, dann rennt sie nach draußen und ich kümmere mich darum, die Wohnungstür zu stabilisieren.“
„Vielleicht hat sie sich dein Gesicht gemerkt und wartet. Ich wette, du bist ein ganz besonders leckerer Happen für die gute Frau. Von dir könnte sie eine ganze Weile lang ausgezeichnet leben.“
„Sie ist ein Zombie. Sie merkt sich gar nichts mehr.“
„Gut, okay. Warten wir ab, machen wir´s uns gemütlich. Sag mal, Alfi, ich hätte da gerade so ein dringendes Bedürfnis, wo geht es hier bitte zur nächsten Toilette?“ Über Alfreds entsetzten Blick hätte er fast schon wieder zu lachen angefangen. „Tja, diese hübschen Nebensächlichkeiten blieben bislang wohl unbedacht.“
„Ich könnte auch jetzt sofort rausgehen und mich um sie kümmern. Ich habe nämlich vorgesorgt.“
Alfred wiegte die Lösung aller Probleme in seinen Armen wie ein Neugeborenes, behutsam, vorsichtig, die Finger weit möglichst vom Abzug entfernt.
Danny musste grinsen. „Du hast keinen Plan wie man mit so ´nem Ding umgeht, oder?“
„Oh doch, das habe ich“, widersprach Alfred sofort. „Ich weiß genau, wie sie funktioniert und was man beachten muss.“
„Junge, du hältst das Teil als würdest du Panik schieben, es könne gleich in deinen Händen explodieren. Du hast vielleicht darüber gelesen, wie man sie bedient, aber abgefeuert hast du sie noch nie. Du solltest sie jemandem geben, der sich damit auskennt.“
„Ach und das bist du, ja?“
„Mhm. Man sagte mir, ich sei ein Naturtalent.“
Zum ersten Mal an diesem Morgen sah der Dicke ihn an, als könne seine Anwesenheit überraschenderweise doch etwas anderes als ein Ärgernis bedeuten. „Bist du im Schützenverein?“
„Nein, aber eines schönen Nachmittags habe ich mir Duelle mit Coladosen geliefert.“
Genau genommen war es nur eine einzige Dose gewesen. Hinter dem Haus von Stevens Vater hatten sie drei Stück aufgestellt. Die an der Wand im Wohnzimmer hängende Ansammlung von Jagdgewehren und ausgestopften Tierschädeln hatte irgendwie inspirierend gewirkt.
Er hatte auf die Dose ganz rechts gezielt und die Mittlere durchlöchert, sich danach aber trotzdem verbeugt, als sei alles genau so geplant gewesen. Steven, dieses Schaf, hatte ihm die Show abgekauft. „Du bist ein verdammtes Naturtalent, Alter!“
Als derart naiv erwies sich der Dicke leider nicht. „Das ist doch lächerlich! Coladosen! Da könnte ich ja genauso gut behaupten, ich sei ein großer Kriegsheld, weil ich ab und an Ballerspiele zocke. Genau genommen habe ich dadurch sogar mehr Skills, denn immerhin bewegen sich die Ziele da.“ Jetzt, wo es um seine Knarre ging, wurde Alfred richtig grantig. „Niemand bekommt meine Waffe! Du hast gar nicht die Nerven, um es mit der Greenwood aufzunehmen. Seit Stunden rauchst du eine nach der anderen und verpestest hier die ganze Luft. Das machst du nur, weil du nervös bist. Weil du Panik hast. Ich aber habe keine Angst, ich hab mich auf das hier vorbereitet, ich bin alles schon hundert Mal in meinem Kopf durchgegangen und deshalb bin ich der Einzige, der die Situation adäquat beurteilen kann.“Gespannt wartete Danny darauf, dass Alf zur Untermauerung seiner Rede wie ein trotziges Kind mit dem Fuß aufstampfen würde. „Sag ihm, dass ich Recht habe, Scott“, verlangte er stattdessen. „Los, sag´s ihm!“
Scott zog ein Gesicht, als hätte diese Forderung einen Geschmack, von dem ihm übel wurde. Eine halbe Minute verstrich, bevor er sich zu einer Antwort motivieren konnte. „Wenn man mich zwingt zu wählen, dann ziehe ich wohl die wenigen Coladosen den vielen vor dem Egoshooter verbrachten Nächten vor“, sagte er.
„Du bist so ein hinterhältiger Verräter!“ Alfred legte die Waffe aufs Bett und baute sich vor ihr auf, als wolle er sie wenn nötig mit seinem Leben verteidigen. Seine Stimme nahm einen weinerlichen Tonfall an, als er weiterschimpfte. „Und ich dachte, wir wären Freunde!“
Scott ging auf seinen Mitbewohner zu. Verschwörerisch senkte er die Stimme. „Alf, denk bitte mal eine Sekunde darüber nach. Wahrscheinlich ist Frau Greenwood noch da draußen. Willst du wirklich derjenige sein, der sich ihr in den Weg stellt?“
Na, das klang ja verdächtig nach Lass den Idioten die Drecksarbeit machen. Aber das sollte Danny egal sein, denn die besseren Argumente hatte er trotzdem auf seiner Seite. Er hatte sich die Waffe verdient, denn er eine Dose abgeknallt. Nicht irgendeine Dose, nein, sie war von Coca Cola gewesen. Das Baby eines solchen Marktriesen hatte er eiskalt niedergemetzelt! Wenn einen das nicht für die Apokalypse qualifizierte, was dann?
Vom plötzlichen Kopfschmerz gepeinigt, rieb er sich die Stirn und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Falka saß noch immer vor dem Computertisch, hatte ihren Stuhl aber in eine Position gerückt, die ihr Übersicht über das gesamte Zimmer gewährte. Aufmerksam betrachtete sie Alf und Scott. Dann stand sie auf und schlenderte zum Bett hinüber. Völlig vertieft in ihre Auseinandersetzung, schien keiner der beiden sie auch nur wahrzunehmen.
Danny hielt die Luft an. Oh, sch.eiße, das bringt sie jetzt doch nicht wirklich!
Sie brachte es. Ohne ein Wort nahm sie die Waffe vom Bett, durchquerte den Raum und gesellte sich zu Danny.
„Tut mir leid“, sagte sie, als sie in Alfs entgeisterte Züge blickte, „aber wir können nicht die ganze Zeit immer nur darüber reden.“
Danny zuckte zusammen. Der Anfall kam hart und unerbittlich, das Lachen platzte in ihm wie ein Luftballon, den man mit einer Nadel stach. Er ließ sich auf einer der Kommoden nieder, presste sich die Hände vors Gesicht, doch es half nichts. Er lachte und lachte, immer weiter, bis sein Bauch zu schmerzen begann und er nach Luft japste wie ein an Land gezerrter Fisch.
Erst da bemerkte er, dass die Kamera auf ihn gerichtet war. „Hysterie“, sagte Scott trocken.
„Können wir es Galgenhumor nennen? Hört sich irgendwie netter an.“
„Mag sein, aber fühlt es sich so an?“
Als Danny die Waffe von Falka entgegennahm, zitterten seine Hände. Und das zumindest fühlte sich ganz und gar nicht an wie Galgenhumor.