Sie hörte die Klingel, arbeitete aber weiter an Babaloos Töpferscheibe. Vor ein paar Tagen hatte sie angefangen zu üben, sie hoffte, bald so gut zu werden, dass man ihre Produkte zum Tauschen verwenden konnte, und sie machte das scheinbar nicht zum ersten Mal. Sie fühlte sich unbehaglich, so vollkommen abhängig zu sein, auch wenn Babaloo und Echo nichts von ihr zu erwarten schienen. Auch wenn Hier niemand hungern würde, die meisten gingen irgendeiner Beschäftigung nach und tauschten Waren - und Gefälligkeiten.
„Sarah!“ drang Babaloos Stimme von unten herauf. „Wir haben Besuch. Kommst du runter?“
„Ich komme schon.“ Sie wischte die Hände an einem Tuch ab und stieg langsam die Treppe runter. Wer mochte gekommen sein? Sie kannte doch so gut wie niemanden. ‚Es wird doch nicht etwa...? Nein.‘ Ihr Gefühl sagte ihr, dass es nicht Hide war.
In der Küche saß, mit dem Rücken zu ihr, ein Mann, der ihr vage bekannt vorkam. Babaloo sah ihr entgegen, und der Fremde stand auf und kam auf sie zu.
„Ted! Wie schön, dass du uns besuchst.“
„Hallo Sarah. Ich kann nicht lange bleiben, aber wenn du willst, kannst du mich begleiten. Ich hab in der Nähe was zu erledigen.“
„Dich begleiten? Sehr gern.“ Sarah war ganz aufgeregt, sie hoffte, endlich etwas mehr über Hide zu erfahren, von dem sie noch immer keine Nachricht hatten.
„Na, dann lass uns gleich aufbrechen, mit Babaloo kann ich später immer noch reden.“ Er winkte kurz hinüber in Richtung Küche und trat aus der Tür. Sarah folgte ihm.
„Wohin gehen wir?“
„Zum Bahnhof. Ich treffe dort jemanden.“
Weiter zu fragen traute sich Sarah nicht, sein Tonfall klang nicht so, als ob er die Absicht hätte, ihr seine Vorhaben ausführlich zu erläutern.
Es war nicht weit, und schon bald stiegen sie gemeinsam die Treppen hinunter. Sarah hielt sich ein Stück hinter ihm. Als sie den Bahnsteig erreichten, kam ihr die Szenerie merkwürdig bekannt vor. Ein leises Summen in den Ohren und ein leichtes Schwindelgefühl überkamen sie, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff.
Sie erkannte London, dem Johnny Desaster irgend etwas erzählte und der etwas genervt schien.
Ted nickte in die Runde und wandte dann seine ganze Aufmerksamkeit Johnny zu. Er trat dicht an ihn heran, streckte einen Arm etwas aus und Johnnys Kragen spannte sich. Er wirkte etwas gehetzt.
„Zwei Stühle. Heute noch.“
Johnny wurde blass. Es schien etwas sagen zu wollen, blickte dann Aufmerksamkeit heischend in die Runde, die ihn aber vollkommen ignorierte. Als er sah, dass Sarah ihn beobachtete, kreischte er: „Wir haben dir doch gar nichts getan. Warum hetzt du
ihn auf uns?“ Er wand sich und versuchte halbherzig, Ted zu entkommen, ohne jeden Erfolg.
„Sarah hat damit gar nichts zu tun. Ihre Rechnung mit euch ist noch völlig offen.“
Der Junge holte tief Luft und Sarah hatte den Eindruck, dass er Einwände erheben wollte. Plötzlich verließen seine Füße den Boden, er zappelte ein wenig herum und erschlaffte dann. „Heute noch.“, wiederholte Ted ganz ruhig. Jacks Füße zuckten kurz, seine Augen weiteten sich plötzlich und er nickte eifrig. Als seine Füße wieder den Boden berührten, rannte er davon wie von Furien gehetzt.
„Die lernen es nie, was?“ brummte London.
Ted warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Ja, Just, manche lernen es nie, da hast du wohl recht.“ Irgendjemand holte scharf Luft, Sarah hatte das Gefühl, er wollte sich das Lachen verkneifen.
„Aber stell dir vor, sie täten es. Wo bliebe dann der Spaß?“
Ted wandte sich an Sarah. „Kommst du? Ich bin hier fertig. Lass uns noch ein wenig plaudern, ich hab es nicht eilig.“ Sie folgte ihm zu den Treppen zum oberen Stockwerk, wo die Läden waren, wie sie wusste. Ted ließ sich auf einen der Stühle in dem kleinen Café fallen und winkte Sarah zu sich.
Er schwieg, und Sarah wusste nicht, ob er darauf wartete, dass sie den Anfang machte. Dann fiel ihr etwas ein. „Als wir da unten ankamen... Also, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe diese Szene schon mal erlebt. Als ich hier zu mir kam, waren genau dieselben Leute hier. Im ersten Augenblick hatte ich das Gefühl, hier wäre die Zeit stehengeblieben.“
Ted musterte sie aufmerksam. „Und wie war das?“
„Mir war etwas schwindlig, und ich hatte so ein Summen in den Ohren, so wie zu der Zeit, als ich immer ohnmächtig wurde. Aber es ging schnell wieder vobei. Trotzdem fand ich es beunruhigend. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, es würde mich noch an etwas anderes erinnern, nicht nur die Szene von damals.“
„Ah ja. Aber was es war, weißt du nicht?“
„Nein.“
„Schade.“ Ted zuckte mit den Schultern. „Aber die Idee war nicht schlecht.“
„Was für eine Idee? Was meinst du?“
„Ich hab ein bisschen daran gedreht. Die meisten schulden mir mehr Gefallen, als sie jemals abtragen können. Ich hab sie so platziert, wie sie damals standen, in der Hoffnung, dass das bei dir irgendwas auslöst, dass irgendwas passiert. Naja, hat nicht geklappt. Klingt aber so, als wäre die Idee trotzdem nicht ganz dumm gewesen.“
Teds Erklärung brachte Sarah ziemlich durcheinander. „Warum tust du so etwas? Einfach so betreibst du hier einen ziemlichen Aufwand, um eine Menge Leute hierherzubringen, nur um mir etwas vorzuspielen. Und wenn ich an Babaloo denke: der hat alles versucht, um mich nicht zu verwirren, weil er Angst hatte, dass ich wieder umkippe.“
Ted lachte und lehnte sich zurück. „Babaloo... Er hat was gluckenhaftes, findest du nicht auch?“ Er grinste.
Sarah musste ebenfalls lachen. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Babaloo war immer so besorgt um sie, und Echo... Sie wurde nicht schlau aus Echo, sie wusste nicht so recht, wie sie mit ihr umgehen sollte. In Teds Gesellschaft fühlte sie sich sicher, sie mochte seine trockene Art.
„Wir sind nicht alle so wie er. Mir schienst du schon wieder ganz stabil, und ich sehe keinen Grund, dich in Watte zu packen. Mit ein bisschen Glück hättest du dich vielleicht erinnert. Das wäre jeden Aufwand wert gewesen. Hide ist mein Freund, ich vertraue ihm. Dass ich so etwas jemals sagen würde, hätte ich früher nie gedacht. Und du scheinst ein nettes Mädchen zu sein. Zumindest denkt er das, und das ist für mich Grund genug.“
Sie überlegte noch, was sie darauf erwidern sollte, aber ein Junge ersparte ihr die Antwort. Er war, als er sie dort sitzen sah, in das Café gekommen und kam schüchtern näher.
„Wollt ihr etwas trinken?“
Ted nickte ihm freundlich zu. „Na, wenn du so fragst, sicher. Einen Bourbon auf Eis, und für die junge Dame...“ Er sah Sarah aufmunternd an. „Was willst du?“
„Einen Kaffee. Mit Milch bitte.“
Sie sah dem Jungen nach, der sich an der Bar zu schaffen machte. Er warf die Kaffeemaschine an, wusch eine Tasse und ein Glas mit schwerem Boden ab und sah immer wieder verstohlen zu ihnen hinüber. Als er sah, dass sie ihn beobachtete, wurde er rot und drehte sich um.
„Wenn ich das richtig verstehe, hast du kein Problem, wenn ich dir Fragen stelle.“
„Nein, frag ruhig.“
„Was ist das
Hier?“
Ted lachte. „Was meinst du? Ich würde sagen, eine Anarchie mit magischem Hintergrund, aber nagle mich nicht darauf fest. Niemand Hier beschäftigt sich mit solchen Dingen, ich kenne jedenfalls keinen. Das ist ziemlich sinnlos. Wenn du länger Hier lebst, wirst du das verstehen. Manchmal kommen viele Leute in kurzer Zeit, und dann können sich Dinge von heute auf morgen ändern. Es liegt an uns, uns allen, was das Hier ist. Wenn plötzlich eine Menge Technik-Freaks auftauchen würden, die der festen Überzeugung sind, ohne Computer können sie nicht leben, dann würden sehr bald auch Computer auftauchen. Oder wir verfallen über Nacht ins Mittelalter. Denkbar ist alles.“
„Du hast noch nicht viel gesehen, es gibt ganz andere Gegenden als diese hier. Da sind auch die Dinge anders, manchmal ganz anders als bei uns. Trotzdem ist auch das Hier. Du musst noch einiges lernen - oder dich erinnern. In einem hat Babaloo recht: Es ist nicht ratsam, irgendwo einfach reinzuplatzen. Die Leute mögen das nicht. Diese Gegend hier ist sowas wie ein Auffanglager, eine Art Zwischenstopp, wobei dich nichts daran hindert, hier zu bleiben. Die Alteingesessenen allerdings verirren sich kaum hierher. Und die echte Macht konzentriert sich auch anderswo.“
Der Junge kam mit ihren Getränken. „Bitte sehr, lasst es euch schmecken. Ich hoffe, der Whiskey ist gut. Und der Kaffee natürlich auch.“ Er wurde wieder rot. Er mochte vielleicht achtzehn sein, nicht älter.
„Danke, junger Mann. Wie heißt du?“ Ted schnupperte an seinem Glas. „Hmmm, riechen tut er schon mal gut.“
„Ich bin Minnow, mein Vater ist der Fischer.“
„Und warum bedienst du uns?“
Minnow sah zu Boden. „Du bist der Held meiner Kindheit, ich konnte dich hier nicht so trocken sitzen lassen. Es ist mir eine Ehre. Mein Vater spricht nur Gutes über dich.“
„Na, dann grüß mal deinen Vater von mir. Ich werde mir deinen Namen merken. Und jetzt lass uns bitte allein, ja? Und Danke für die Drinks.“
„Ja, ich danke dir auch. Der Kaffee ist sehr gut. Vielleicht trifft man sich mal wieder.“ Sarah schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, woraufhin er sich mit hochroten Ohren auf den Weg machte.
„Der Held seiner Kindheit, ja? Was bist du eigentlich, sowas wie ein Robin Hood?“ Sarah grinste.
Ted sah sie nachdenklich an. „So ganz unrecht hast du damit nicht einmal. In gewisser Weise sorge ich auch für die Umverteilung von Reichtümern. Manche fürchten mich, andere sprechen nur Gutes. Und offenbar gibt es mittlerweile auch Kids, für die ich sowas wie ein Held bin.“ Er nippte am Whiskey. „Ich bin Auftragskiller.“
Für einen Moment schnappte sie nach Luft, es fühlte sich an, als hätte eine große Faust ihren Magen getroffen. Sie war froh, dass die Kaffeetasse sicher auf dem Tisch stand. Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, sah sie auf. Eine Erwiderung fiel ihr nicht ein.
„Na, hat es dir die Sprache verschlagen? Keine Sorge, du hast nichts zu befürchten. Lass uns gehen, ich begleite dich nach Hause.“
Stumm stand Sarah auf und folgte ihm die Treppe hinauf.
„Sarah! Hey, Sarah, bleib stehen.“
Die Stimme kam ihr bekannt vor, und eine tiefe Unruhe breitete sich in ihr aus. Ein Teil von ihr wusste genau, was sie hören würde. „London. Du bist ja so abgehetzt.“ Sie wagte es kaum, die Frage zu stellen. „Hast du was gehört?“
Der große Schwarze holte noch einmal tief Atem. „Ja, ich hab eben jemanden gesprochen, der grad von Dort kommt. Er hat Hide getroffen. Er sagte, es ist alles komplizierter als gedacht, er muss noch was regeln. Keine Ahnung, was er meint. Aber er wollte bald Hier sein. Kann sich nur um Tage handeln.“
Schönes Wochenende.