Kapitel 6 - Schicksalsschläge
Kennt ihr nich auch irgendwie das Gefühl, an einem sonnigen Morgen im April aufzuwachen, und alles sollte perfekt sein, aber . . . irgendwas stimmt nich. Irgendwas is anders. Die ganze Zeit überlegt ihr, aber euch fällt nix auf. Und ihr braucht fast den ganzen Tag, um festzustellen, was es is. Naja, jedenfalls hatte ich irgendwie gleich das Gefühl, dass der blonde Typ in Polizeiuniform und die komische Tante mit der dicken Brille und den langen, dunklen Haaren im altbackenen Kostüm irgendwas mit mir zu tun hatten, als sie am Nachmittag in unserem Wohnheim rumstanden. Die passten so gar nich in diese Umgebung, und irgendwie hatte ich ein ganz merkwürdiges Gefühl im Bauch. Auf jeden Fall kein gutes. Naja, mutig wie ich war, ergriff ich die Initiative und ging auf die beiden zu.
Ich schluckte, um die Enge in meinem Hals, die plötzlich da war, zu vertreiben. "Ähm . . . Guten Tag . . . Kann ich Ihnen . . . irgendwie helfen?", brachte ich nur heraus. Meine Stimme hörte sich ganz merkwürdig an, fast gar nich mehr wie meine eigene. So dumpf und so verunsichert . . . Ich merkte, dass ich am ganzen Körper zitterte, und das lag bestimmt nich an der Temperatur draußen. Es war ein warmer, sonniger Nachmittag im April und dafür war ich passend angezogen, wie ich fand. Ich wusste einfach, dass irgendwas nich stimmte. Irgendwas musste passiert sein - die Polizei kam doch nich einfach so vorbei . . .
Der blonde Typ stellte sich als Officer Jameson vor und fragte nach Ally Lynne und Charlene Annabelle Prescott. Das waren wir, ich und mein unnötig blonder Zwilling Charly! "Oh, das . . . das bin ich . . . und . . . meine Schwester hat grade noch ne Vorlesung, müsste aber gleich zurück sein.", ließ ich ihn wissen. Meine Stimme hörte sich immer noch so komisch an und jetzt wo ich definitiv wusste, dass der Officer und diese komische Tante wegen mir und Charly da waren, wusste ich einfach, dass irgendwas nich stimmte. Lange Zeit war es still, und das war mir unangenehm. "Ist . . . ist was passiert?", fragte ich schließlich tonlos, um meine enorme Intelligenz zu beweisen. Ich klang inzwischen wie ein altes Türschanier. Ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde beschissener. Wenigstens kam Charly gerade von ihrer Vorlesung zurück. Sie sah mich und die beiden anderen fragend an.
Dann begann der Officer mit mir zu reden, während sich die komische Tante, die sich als Christine Wales vorstellte, sich meiner Schwester zuwandte. "Miss Prescott, es ist in der Tat etwas passiert, ein Vorfall in der Familie. Natürlich wird es ein Schock für Sie sein, aber wir werden versuchen, es Ihnen so schonend wie möglich zu erklären." So wie es sich anhörte, war jemand zumindest schwer verletzt wenn nich sogar tot. Oh nein, bitte nich Dad! Er hatte sich doch nichts angetan, wegen dieser Schlampe, die behauptete, meine Mutter zu sein? Hatte er einen Unfall gehabt? Sonst hatte ich doch keine Familie mehr! Charly und ich ware alleine und selbst wir beiden waren so weit voneinander entfernt! Nich räumlich gesehen natürlich . . . Ich atmete tief durch. Was wollte er mir sagen?
Ich sah zu meiner Schwester herüber. Die sah ebenfalls wenig begeistert aus, als die Wales sie ansprach. Wahrscheinlich versuchte die genauso, ihr es, was immer das war, schonend beizubringen, was natürlich nichts daran änderte, dass Charly total geschockt reagierte. Sie wusste genau wie ich, dass es wirklich ernst sein musste, wenn ein Officer und so 'ne komische Sozialtante bei uns aufkreuzten. Sie versuchte, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten, aber genau wie ich zitterte sie am ganzen Körper. Wir hatten beide furchtbare Angst vor dem, was uns erzählt werden würde. Vielleicht waren wir doch gar nich so verschieden? Aber jetzt war keine Zeit für sowas. Ich wollte wissen, was los war, verdammt noch mal!
"Miss Prescott, Sie wussten von der Schwangerschaft Ihrer Mutter?" Hä? Was sollte das jetzt?
"Ja. Wieso? Ich will weder was mit ihr, noch mit dem Kind zu tun haben! Die kann doch verrecken, is mir doch egal!", wollte ich erst sagen, nickte aber nur. Irgendwie, und es lag nich nur daran, dass ich hier mit nem Polizisten redete, konnte ich es nich sagen. Irgendwas war anders. Wieder betretenes Schweigen. Der Typ sah noch ziemlich jung aus und hatte wohl keinen Plan, wie er mit der Situation umgehen sollte. Na super. Das hatte mir grade noch gefehlt. Dann, nach beinahe endloser Stille, redete er weiter. "Gestern haben bei ihr die Wehen eingesetzt. Sie wurde total unterernährt und misshandelt ins Krankenhaus eingeliefert. Zu dem Vater des Kindes haben wir nach wie vor keinen Kontakt . . ." Äh, ja, na und? Was sollte das jetzt? Ich wollte meinen Halbbruder oder meine Halbschwester nich sehen! Er oder sie würde Arschgesicht Sayne zu 100 Prozent ähneln und mir damit das Leben zur Hölle machen.
Unwillkürlich und plötzlich schoss mir ein Bild durch den Kopf. Meine Mutter. Mit hoffnungslos zerstrubbelten Haaren und einem misshandelten Gesicht lag sie auf dieser Liege in einem dieser furchtbaren Krankenhaussäle, die mir Angst einjagten. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Hatte ich am Ende doch Mitleid mit ihr? Und wenn ja: warum gerade jetzt? Wer hatte sie so entstellt? Sie schrie und krümmte sich vor Schmerzen, während sie verzweifelt versuchte, ihr Kind herauszupressen. Das Bastardkind, das zur Hälfte mein Bruder oder meine Schwester war. Ich schluckte. Was war passiert? Der Officer und die Sozialtante waren bestimmt nich nur hier, um uns von einer Geburt zu erzählen . . . Ich hatte irgendwie ein ganz mieses Gefühl.
Charly war inzwischen total hysterisch und konnte ihre Ungeduld scheinbar viel schlechter kontrollieren als ich. "Verdammt, ich will endlich wissen, was los ist!", keifte sie die Wales an. Ihrem Tonfall nach zu urteilen war sie den Tränen nahe und loszuheulen würde ihr kein Stück peinlich sein. Ich konnte sie verstehen . . . aber sie sollte sich doch bitte n bisschen zusammenreißen! Wir waren immerhin beide 18 und sollten uns auch dementsprechend benehmen . . . Die Sozialtante hatte im Gegensatz zu Jameson wohl eine ordentliche Ausbildung genossen und jahrelange Erfahrung, weshalb sie ganz ruhig und professionell blieb und sich nich durch die Wutausbrüche meiner Schwester beirren ließ.
"Miss Prescott, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen . . . Es war alles zu viel für Ihre Mutter und sie ist direkt nach der Geburt verstorben." Ähm, was?
"WAS?!" Ich hätte es wissen müssen. W.A.S.?! Nein, das konnte unmöglich sein Ernst sein, das hatte der sich doch grade ausgedacht oder so, meine Mutter war doch die letzte, die wegen sowas Lächerlichem sterben würde, sie war . . . Sie war. Sie war tot. Meine Mutter, die arrogante, perfektionistische, geisteskranke und gefühlskalte Schlampe war nach der Geburt des Kindes von diesem Mann, den ich so sehr hasste, einfach so gestorben. Sie würde mich nie wieder belästigen. Sie würde nie wieder zurückkkommmen. Der Schock saß tief, aber ich fühlte keine Trauer. Nich für diese Frau. Sie hatte mein Leben ruiniert und jetzt würde sie mir nie wieder wehtun können. Nie wieder. Aber ich würde mich auch niemal wieder mit ihr vertragen können. Huch? Wo kam der Gedanke jetzt her? Tat mir am Ende doch alles Leid? Daran wollte ich jetzt echt nich denken. Jetzt war nich der passende Momet für Reue und späte Einsichten.
Charly nahm die Nachricht, wie ja zu erwarten war, nich ganz so gut auf. Klar hatte sie auch so ihre Probleme mit unserer Mutter gehabt, aber sie reagierte auf vieles einfach viel emotionaler und immerhin war sie nicht 17 Jahre lang wie Dreck behandelt worden. Irgendwie tat sie mir furchtbar leid, wie sie da stand, total aufgelöst, und sich von der dämlichen Sozialtante trösten lassen musste. Irgendwie war ich froh, dass ich nich so reagierte. Den armen Officer Jameson hätte ich damit total aus dem Konzept gebracht . . . Wales redete beruhigend auf meine Schwester ein und hoffte wohl inständig, dass das auch was bringen würde. Ehrlich, ihren Job hätte ich nich gerne gehabt. Ich konnte das nich so gut verkraften, dauernd irgendwelche Gefühlsausbrüche mitzuerleben. Am wenigsten meine eigenen. Was wohl auch der Grund war, warum ich mich monatelang zurückgezogen und ungefähr alles und jeden gemieden hatte. Ich hatte Angst, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren. Ich wollte keine Schwäche zeigen und erst recht nich andere mit meinen Problemen belasten. Chris hatte jahrelang genug von der Schei.ße gehabt. Ich hatte ihm nie irgendwas von dem, was er mir gegeben hatte, zurückgeben können, weil er ein schönes Leben hatte. Ich hätte ihn nur unnötig runtergezogen.
Inzwischen sprach mich der Officer wieder an. "Miss Prescott, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber . . . gibt es einen Grund, warum Sie nicht wie Ihre Schwester auf diese Nachricht reagieren?", fragte er vorsichtig. "Ach, es is doch kein Geheimnis. Ich habe meine Mutter gehasst und sie mich. Ich weiß, dass das furchtbar is, aber so war's eben. Egal was noch passiert wäre, ich wollte sie nie wieder sehen.", grummelte ich nur, war mir da aber nich mehr ganz so sicher. Warum? Hatte sie das verdient, dass ich sie nich mehr hassen konnte? Da er wohl offensichtlich nix dazu sagen konnte, meinte er nur: "Sie brauchen sich jedenfalls keine Sorgen zu machen, Ihr Halbbruder ist derzeit in einem Heim untergebracht und wartet auf neue Eltern, die ihn so lieben können, wie er es verdient hat, da wir zu seinem Vater noch immer keinen Kontakt haben. Sie . . . müssen ihn also niemals sehen." Ich hatte also einen kleinen Bruder. Wow. Das jetzt noch. Ich könnte eigentlich selbst schon Mutter werden, auch wenn das meiner Ansicht nach noch viel zu früh war, und dann bekam ich ungefragt noch einen Halbbruder vorgesetzt. "Miss . . . Wenn Sie mit irgendjemandem sprechen wollen . . . Wir können Ihnen einen guten Psychologen vermitteln." Ich lehnte dankend ab und verabschiedete mich von ihm. Ein Fall für nen Seelenklempner war ich doch jetzt echt nich, oder?
Wales und Jameson verabschiedeten sich kurz und gingen dann wieder, um uns unserem Schicksal zu überlassen. Joss, die wie immer zur rechten Zeit am rechten Ort war, glotzte wie immer nur dumm. Sollte sie doch! Hoffentlich würden ihr eines Tages ihre riesigen Kuhaugen einfach rausfallen. Charly hatte sich einigermaßen wieder gefangen und sah dem Officer und der Sozialarbeiterin nachträglich hinterher. Die Nachricht hatte sie schwer getroffen und meiner Einschätzung nach würde sie sehr lange brauchen, um das ganze zu verarbeiten. Auch ich würde wohl meine Zeit brauchen. Aber vielleicht war es einfacher, den Tod einer Person zu verarbeiten, wenn man sich bewusst war, wie viel Unrecht sie einem getan hatte und nie von ihr geliebt wurde. Und wenn ich sie doch nich mehr hassen konnte und jetzt bereute, dass wir uns im Streit getrennt hatten? Es war eh zu spät. Es war alles zu spät.
Charly versuchte, keine Miene zu verziehen, aber auch ihr Schauspieltraining brachte ihr nich viel. Ich konnte trotzdem sehen, wie schwer sie getroffen war. Ihre Schminke war leicht verlaufen und sie hatte immer noch Tränen in den Augen. Sie blickte einfach nur starr vor sich hin und schwieg. Und das war das Schlimmste. Es passte überhaupt nich zu ihr, so zu sein. Mich überkam der seltsame Wunsch, sie trösten zu müsse. Okay, vielleicht nich mehr so merkwürdig, im Anbetracht der Tatsache, dass sie meine "kleine" Schwester war und wir trotz unserer Differenzen mal wieder eine Gemeinsamkeit hatten. Wir hatten beide unsere Mutter verloren - sie aber viel später als ich. Ich hatte sie in dem Moment verloren, als sie feststellte, dass sie mich nich lieben konnte, weil ich so anders und nich ihr kleiner Liebling war. Weil ich nich so sein konnte, wie sie es wollte.
Ein bisschen zögerlich nahm ich meinen verlorenen Zwilling in den Arm. Ich hoffte, dass sie sich auch nur ein bisschen so fühlte wie ich, wenn Chris für mich da war. Chris . . . Die Erinnerungen kamen wieder hoch. Seit Monaten war Funkstille und ich fühlte mich mies. Ich hatte die Zwischenprüfungen ziemlich erfolgreich bestanden, aber das brachte ihn mir nich zurück. Wir hatten seit Monaten kein Wort mehr gewechselt, da ich ihn aus meiner Misere heraushalten wollte. Wie viel hätte ich dafür gegeben, dass er mich jetzt so festhalten würde, so für mich da sein würde, wie ich es gerade für Charly tat? Ich wischte mir die einzelne Träne, die mir die Wange herunterlief weg, bevor irgendjemand sie sehen konnte. "Ally?", fragte sie so leise, dass es kaum hörbar war. "Bist du okay?" Nein! War ich nich! "Passt schon.", erwiderte ich tonlos. Falsche Antwort. Die fetteste Lüge, die ich je jemandem aufgetischt hatte. Das hatte sie jetzt echt nich verdient.
"Nein, eigentlich nich.", meinte ich schließlich. Mein Hals fühlte sich so trocken an und das Atmen fiel mir schwer . . . Nein, ich würde jetzt nich die Kontrolle verlieren! "Dachte ich mir!", flüsterte sie, "Du hälst ganz schön viel aus, weißt du das? Aber irgendwann is einfach mal Schluss! Das kann ich einfach nich mehr mit ansehen, wie du alle wegstößt und im Selbstmitleid versinkst! Du bist einfach nur zu stolz, um zuzugeben, dass du auch mal irgendjemanden brauchst - dass du
Chris brauchst!" Sie hatte Recht. Seit wann war sie so reif, so erwachsen? Seit wann war ich so leicht zu durchschauen? Und seit wann interessierte sie sich für mich? Mir liefen diesmal mehrere Tränen die Wangen herunter und dieses Mal wischte ich sie weder weg, noch waren sie nur wegen Chris. Charlene hatte Recht. Es war einfach alles zu viel. "Ally . . . Es wird Zeit, dass wir mal reden!", sagte sie mit fester Stimme, bevor sie sich aus der Umarmung löste und mich in unser Zimmer schleifte.
Irgendwie musste ich grinsen, als wir uns zusammen auf de Fußboden unseres Zimmers setzten. Ich weiß, ihr könntet mich schlagen dafür, weil gute Laune oder auch nur Hinweise darauf völlig unangebracht waren. "Okay, wieso grinst du jetzt?", fragte Charly schließlich. "Ach . . . es is nur so . . . Wie lange haben wir jetzt schon das Zimmer und haben irgendwie immer versucht, uns gegenseitig aus dem Weg zu gehen? Und jetzt sitzen wir hier beide mehr oder weniger freiwillig . . ." Ich erwartete nich von ihr, dass sie es verstand. Ich hielt sie nich für dumm. Aber sie dachte eben anders als ich. Anders als ich mit meinem beinahe schon krankhaften Gebrauch von Ironie und Sarkasmus, der auf enorme Verbitterung schließen ließ. Ich wirkte wahrscheinlich um Jahre älter als die 18 Jahre, die ich wirklich hinter mir hatte.
Zu meinem Erstaunen lächelte sie mich an. "Ich weiß, dass ich manchmal echt furchtbar bin. Aber ich bin nich
Sie." Wir wussten beide, wen sie damit meinte. Sie hatte also genauso wenig Bock, über unsere Mutter zu reden. Schön zu wissen! "Nee, bist du nich. Und das is gut so.", erwiderte ich nur. Und meinte es auch so. Sicher hatte sie schon viele Jungs gehabt, aber nie mehrere gleichzeitig. Das war unter ihrer Würde. Und, na klar war sie ziemlich auf ihr eigenes Aussehen fixiert, das vielleicht auch, weil sie in Wirklichkeit total verunsichert war, aber sie verurteilte niemanden, der sich nich so sehr mit dem eigenen Aussehen beschäftigte. Sie war auch nich mit voller Absicht so, sie wirkte, im Gegensatz zu unserer Mutter, nich wie das abgrundtief Böse, sondern wie eine junge Frau, die sich sicher war, außer ihrem Aussehen nix Positives an sich zu haben, was ihr zweifellos von einer total oberflächlichen und erfolgsbesessenen Mutter eingetrichtert worde war. Eigentlich war sie ganz nett. Sie war nur mehr von unserer Mutter beeinflusst worden als ich.
"Weißt du, Ally, manchmal hab ich mir gewünscht, ich könnte wie du sein, dann wäre alles einfacher, hab ich gedacht. Du bist so beliebt bei den Jungs, die nich alle nur das Eine von dir wollen, du hast mal ungefähr den besten Kumpel überhaupt, mit dem du einfach über alles reden kannst, und du bist total schlau. Manchmal läufst du echt asozial rum, wenn dir danach is, und deine Flachwitze, die du so raushaust, wenn du total schlecht gelaunt bist, sind total mies - und? Es stört keinen! Von dir erwartet keiner, dass du immer perfekt und hübsch bist!" Irgendwie hatte ich mir sowas schon gedacht. Aber so toll, wie mein Leben ihrer Meinung nach sein musste, war's nich. "Ja, aber jetzt is mir schon klar, dass du auch deine Probleme hast. Ich hasse
Sie für das, was sie dir angetan hat, okay? Nur weil sie mich verhätschelt hat, heißt das nich, dass ich
Sie auch mochte! Dass du mit niemandem drüber geredet hast, war echt ne schei.ß Idee! Verdammt noch mal, Chris liebt dich und würde alles für dich tun, und du lässt ihn links liegen! Er kennt dich doch echt schon lange genug und würde dich nie für irgendwas auslachen! Und das weißt du doch auch, oder?!"
"Hey, reg dich mal ab . . .", grinste ich. "Ich hab heute schon genug Schocks erlitten!", fügte ich noch scherzhaft hinzu. "Ja . . . Was das angeht: Die Sozialtante meinte, dass
Sie auch n Testament hinterlassen hat. Ich wüsste zwar nich, was
Sie noch zu vererben hätte, aber sie meinte, wir sollten zur Eröffnung gehen. Naja . . . Liegt nahe. Wenn
Sie schon was zu vererben hat, dann doch an ihre Kinder . . ." "Wäre
Sie normal gewesen.", beendete ich ihre Satz, worüber sie sich amüsierte. Ja, eigentlich sollten wir dasitzen und rumheulen. Aber das würde uns unsere Mutter auch nich zurückbringen. Wir hatten noch unser ganzes Leben vor uns, und das sollte bestimmt nich verschwendet werden!
"Ja, da hast du wohl recht . . . Aber Ally, jetzt mal wirklich: Rede mit Chris, bevor es zu spät is und irgendsoeine Tussi sich ihn schnappt und er dann keine Zeit mehr für seine Kumpels hat. Wobei . . . Ich glaub ja nich, dass Tussis sein Geschmack sind." Dann zwinkerte sie mir verschwörerisch zu. What the hell? "Ähm, Charly? Was wolltest du mir jetzt damit sagen?!", wollte ich von ihr wissen. "Also ehrlich, Ally. Ich hab dich immer für total intelligent gehalten, aber manchmal kannst du echt ganz schön blöd sein. Wenn man euch zusammen sieht, denken eh schon immer alle, ihr wärt zusammen, also, warum versucht ihr's nich mal?" Ähm, was? Hatte sie jetzt doch nen Vollschaden, oder wie? "Nett, dass du versuchst, mich unter die Haube zu bringen, jetzt, wo ich langsam alt und klapprig werde, aber das heißt nich, dass ich so verzweifelt bin und mich dem nächstbesten an den Hals werfe, den ich zufällig seit Jahren als NICHTS anderes als einen großen Bruder liebe und damit ungefähr alles kaputt machen würde!", blaffte ich sie an.
"Jaja, Ally, glaub mir, das haben schon viele gesagt . . . Dir wird schon noch auffallen, dass Chris nich nur dein bester Kumpel is, sondern auch noch unverschämt gut aussieht . . .", meinte sie nur noch total unverschämt grinsend zu mir, bevor sie sich auf ihr Bett legte, um sich ein bisschen auszuruhen. Ich ging lieber zum Abendessen. "Pff, als ob! Natürlich sieht er gut aus, und das weiß ja nun echt jeder! Das heißt noch lange nich, dass ich was von ihm will!", sagte ich noch wild entschlossen - worauf sie noch unverschämter als vorher grinste - , bevor ich ihr die Zunge rausstreckte und die Tür hinter mir zuknallte. Also, manchmal war meine kleine Schwester echt unmöglich. Aber damit konnte ich leben . . .
Chris saß bereits alleine auf einem der Barhocker an der Theke und löffelte schweigend die Suppe in sich rein. Oh shit. Was sollte ich jetzt machen?! Das war zu früh! Ich wollte nich mit ihm konfrontiert werden - noch nich! Bisher hatte ich immer zu den unmöglichsten Zeiten - wenn überhaupt - gegeseen, um allen aus dem Weg zu gehen. Ich hätte wissen müssen, dass zu normlaen Zeiten auch andere esse wollten . . . Mein schöner Plan war auf jeden Fall ruiniert. Ich hatte mir noch wochenlang überlegen wollen, was ich ihm sage wollte und wie. Mist! Ich war einfach keine, der spontan was tolles einfiel. Auf jeden Fall wurde mir klar, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Da mir wohl keine andere Wahl blieb, seufzte ich nur leise, nahm mir 'ne Schüssel von der Suppe und setzte mich neben ihn. Das würde die reinste Folter werden . . . Ich verdrehte innerlich die Augen. Ich musste für den Scheiß, den ich gemacht hatte, jetzt eben grade stehen. Ich war nich feige. Ich musste das jetzt hinkriegen. Immerhin war das alles ja meine Schuld.
"Ally! Sieht man dich hier auch mal wieder!? Ich hätte fast denken können, du wärst von seltsamen Wesen entführt worden, oder so!" Jedem anderen hätte ich für diese unverschämte Aussage und das unverschämte Grinsen ordentlich die Meinung gesagt. Aber das war Chris, mit dem ich seit Monaten nich mehr geredet hatte. Naja, immerhin machte er keine Szene und zickte mich an, warum wir uns so lange nich gesehen hatten oder ignorierte mich. Immerhin. Wow. Okay, vielleicht lag das auch daran, dass er einfach mitten in der Wohnheimküche keine Szene machen wollte, da er einen guten Ruf zu verlieren hatte, aber . . . Vielleicht freute er sich wirklich, mich wieder zu sehn. Aber das war doch fast unmöglich, oder? Nach all dem, was ich in den letzten Monaten so abgezogen hatte . . . Oder ich bildete mir alles nur ein und Chris war nich mehr als 'ne Halluzination. Wenn auch 'ne ziemlich nette . . . denn wir waren völlig unbewusst mal wieder im Partner-Look angezogen. Verdammt.
Ich sagte einfach nichts, sondern fing stattdessen an, meine Suppe zu essen. Natürlich war mir schon klar, dass das einfach nur grob unhöflich war, aber ich wusste einfach nich, was ich sagen sollte, verdammt noch mal! Vielleicht stand irgendwo ein Kamera-Team rum und lachte sich ins Fäustchen? Versteckte Kamera, oder so? Oder noch besser, war mein Leben so 'ne Art Truman-Show, und alle außer mir wussten das und lachten mich aus? Hahaha, so paranoid wie ich war selten jemand. Ich hatte gelernt, niemandem zu trauen und alles in Frage zu stellen. Dass Chris sich überhaupt die Mühe machte, mit mir zu reden, grenzte schon an ein Wunder. Und jetzt saß ich da wie ein Volltrottel und wusste keine Antwort. Wie immer also. Schön zu wissen, wie wenig sich doch geändert hatte . . .
"Sag mal, haben die Aliens dir die Stimmbänder rausoperiert, oder was?", setzte Chris zu seinem nächsten Versuch an. Ich musste mich echt zusammenreißen, um nich laut loszulachen. Er wieder mit seinen absurden Theorien . . . Es hatte sich offensichtlich wirklich nich viel geändert. Fast so, als wäre ich nie weg gewesen. Chris redete so mit mir, als wäre ich nie weg gewesen. Als hätten wir uns nur ein paar Stunden nich gesehen und nich 'n paar Monate. Würde er mich einfach so akzeptieren? War es echt so einfach? Und wenn ja: hatte ich das überhaupt verdient? Wahrscheinlich nich. Aber sollte man nich alles nehmen, was man kriegen konnte, und nix davon wieder zurückgeben? Verdammt noch mal, warum konnte es nich einfach sein und mir würde jetzt einfach was Gutes einfallen, das ich sagen könnte . . . Verlegen räusperte ich mich.
"Na, das war doch ein Lebenszeichen!", witzelte er und grinste mich an. "Ich . . . äh . . . ja . . . Schei.ße, ich weiß nich, was ich sagen soll! Maaaaann!" Das war scheinbar der Punkt, an dem das Eis gebrochen war und wir beide lachen mussten. Es dauerte 'n bisschen, bis wir uns wieder im Griff hatten. "Nee, Ally, jetzt aber echt mal ohne Schei.ß. Wird Zeit, dass wir uns mal unterhalten, findest du nich?" War ja klar. Die gute Stimmung war sofort im Eimer. Aber ich wusste auch, dass er recht hatte. Wie immer. Er kannte mich einfach zu gut. Und das war einer der Gründe, warum ich unsere Freundschaft nie aufgeben hatte wollen, aber es für notwendig befunden hatte. Ich war ganz schön blöd gewesen. Ohne ihn war mein Leben einfach nich das gleiche, das hatte ich in der kurzen Zeit gemerkt, in der wir jetzt hier saßen. Ich hatte ihn ohne Ende vermisst und alles in mich reingefressen. Aber wie sollte ich ihm das sagen, ohne mich zur Idiotin zu machen? Hm, schwierig. Wir stellten unsere Schüsseln weg, nachdem wir fertig gegessen hatten und gingen in sein Zimmer.
Ich fühlte mich total mies, und übelst verlegen war ich auch noch. Wie so'n kleines, dummes Mädchen. Ich wollte doch erwachsen sein?! Tja, war wohl nix. "Chris . . . Ich . . . Du . . . Oah, schei.ße, mann! Wieso kann ich keinen vernünftigen Satz sagen?! Es . . . es tut mir leid.", platzte ich heraus. Jep. Ich hatte mich grade zur übelsten Idiotin gemacht. Na, herzlichen Glückwunsch! Wenigstens lachte Chris mich nich aus. Stattdessen sah er mich erwartungsvoll an. Na super. Auch nich besser. Ich war einfach nich gut in sowas. Wie sollte ich ihm klar machen, wie sehr er mir gefehlt hatte und wie froh ich war, ihn wieder zu sehen, wenn ich noch nich mal 'nen vernünftigen Satz bilden konnte? Das war echt mal wieder typisch. Ich war total frustriert. Da konnte ich endlich wieder mit ihm reden, und dann konnte ich's doch nich! Ich war einfach ein hoffnungsloser Fall.
"Ich . . . Ich hab mich . . . total schei.ße benommen. Ich hab gedacht . . . Ich hab gedacht, wenn wir uns nich mehr sehen, is das besser für dich, weil ich dich schon genug mit meinem Müll belastet hab. Weißt du, du brauchst nie Hilfe, dir geht's auch so gut, und dann brauchst du mich doch nich, um dich unnötig runterzuziehen, hab ich mir so gedacht . . .", laberte ich aml wieder dumm rum. Er sah mich an, als sei ich jetzt total bekloppt geworden. Normal?! Hahaha. Ich hatte ihn jetzt schon wieder voll und ganz davon überzeugt, wie gestört ich war! Naja, wenigstens versuchte ich nich, so zu tun, als wäre ich normal. "Ally, erzähl keinen Mist. Freunde sind immer füreinander da - und wir sind doch noch Freunde, oder?!" Kurz und knapp zusammengefasst. Ohne dummes Rumgestotter. Wie machte er das bloß?
"Chris . . . ich hab dich total vermisst. Ich dachte, ich schaff es auch ohne dich, aber . . . es geht einfach nich. Ohne dich bin ich nich ich . . . Chris, ich liebe dich.", flüsterte ich schon fast, aber wenigstens einigermaßen stotterfrei. Eine Weile standen wir nur da und sahen uns schweigend an. Hatte ich das Falsche gesagt? Oder hatte er das Ganze falsch aufgefasst? Dachte er etwa . . .? Nein! Bloß nich! Und wenn doch? Das musste ich umgehend richtig stellen, das ging doch gar nich, dass er dachte . . . Ich musste ihm sagen, dass es nich so war, wie er dachte, ich . . . "Ich hab dich auch vermisst, Ally.", sagte er nur mindestens genauso leise.
Dann umarmte er mich. Und ich hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen. Wie hatte ich es nur die ganzen Monate ohne ihn ausgehalten? Das war mir jetzt echt ein Rätsel. "Ally . . . Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht. Bitte, bitte, tu mir das nie wieder an. Du bist meine beste Freundin und ich liebe dich. Und egal, was dir noch für'n Scheiß passiert, ich bin für dich da! Versuch nie wieder, mich loszuwerden, okay?" Das haute mich jetzt echt um. Sollte ich niemals in meinem Leben eine andere Liebeserklärung bekommen, würde ich diese einfach so lange es ging im Gedächtnis behalten.
In der Nacht plagten mich schlimme Albträume, die von keiner geringeren Person als meiner Mutter handelten. Immer wieder musste ich dabei zusehen, wie sie sich vor Schmerzen krümmte und unendlich litt und fühlte mich total hilflos. Ich wachte mehrmals schweißgebadet und unter Tränen wieder auf. Ein Glück war Chris für mich da. Nachdem ich das erste Mal aufgewacht war, hatte Charly ihn geweckt und die beiden hatten beschlossen, für diese Nacht die Betten zu tauschen, da meine Schwester nich viel für mich tun konnte, Chris' Nähe mich aber wenigstens 'n bisschen beruhigte. Mir wurde mal wieder klar, dass ich den besten Freund überhaupt hatte. Womit hatte ich das nur verdient?
You just call out my name and you know, wherever I am, I'll come running to see you again. Oh babe, don't you know that, winter spring summer or fall, hey now, all you've got to do is call? Lord, I'll be there, yes I will. YOU'VE GOT A FRIEND, YOU'VE GOT A FRIEND. Ain't it good to know YOU'VE GOT A FRIEND, ain't it good to know YOU'VE GOT A FRIEND? YOU'VE GOT A FRIEND . . .