Jetzt kommt ein ziemlich langes Kapitel. Ich hatte euch ja versprochen, dass endlich mehr "Handlung" hierein kommt.
An diesem Morgen war Phil aufgeregt. Er hatte Miriam ihre Sachen aus der Wohnung im Koffer mitgebracht. Natürlich war es ein guter Schritt in die Zukunft, aber vielleicht würde Miriam beim Anblick ihrer Kleidung in Depression fallen. Schließlich war die Kleidung ja mit Erinnerungen verbunden, von denen Phil nichts wissen konnte. Plötzlich hatte er ein ungutes Gefühl. Was, wenn er genau die Kleidung heraus gesucht hatte, die Miriam damals kurz vor einem wichtigen Auftritt getragen hatte? Würde diese Erinnerungen sie so schocken, dass sie in ein tiefes Loch fallen würde? Aus medizinischer Sicht war ihm vollkommen klar, dass solche Konfrontationen gebraucht wurden, aber aus menschlicher Sicht wollte er sie nicht leiden sehen.
Als sich Phil komplett umgezogen hatte und zur Tür wollte, bemerkte er, dass hinter ihm Lana stand. „Oh, wie lange bist du denn schon hier? Ich habe dich gar nicht herein kommen gehört!“ sagte er, während er seinen Spind verschloss.
„Lange genug, um das zu sehen was ich sehen wollte!“ grinste seine Kollegin. „Und ich würde heute Abend gern noch mehr davon sehen.“ Mit einem eleganten Schritt war sie so nah an Phil heran gekommen, dass er unbemerkt einen Schritt zurück ging.
„Tut mir Leid. Heute Abend kann ich leider nicht! Ich hab Betty versprochen, heute Abend mit ihr Mathe zu lernen! Ihr Problemfach...“ gestand er der Wahrheit entsprechend.
„Hast du auf einen Kaffee nach Feierabend Zeit?“ fragte sie ihn, während sie versuchte, ihm tief in die Augen zu blicken.
Er wich ihrem Blick aus und sagte ihr noch einmal, wie sehr es ihm Leid tue. Nach der Arbeit wollte er gleich nach Hause und das Abendbrot schon vorbereiten.
Beleidigt antwortete Lana: „Dann eben ein anderes Mal.“
„Ich gehe jetzt zu Frau Richter und bringe ihr ihre Kleidung. So in 10 Minuten kannst du nach kommen und sie waschen, ihr außerdem beim Anziehen helfen. Ich verlass mich auf dich!“ Mit diesen Worten verließ Phil das Zimmer und ließ eine enttäuschte und eifersüchtige Lana zurück.
Als der Pfleger die Tür zu seiner Patientin leise öffnete, erblickte er Miriam überrascht auf dem Bett sitzend.
„Guten Morgen!“ begrüßte sie ihn erfreut. „Ich kann es kaum abwarten, endlich wieder meine eigene Kleidung anzuziehen!“
„Das freut mich. Haben Sie gut geschlafen?“ Phil stellte den Koffer ganz nah an Miriams Bett, sodass sie ohne Mühe an ihn heran kommen würde.
„Ja. Aber ich bin total aufgeregt. Als ich mich das letzte Mal anzog war es Winter. Endlich wieder T-Shirts, Kleider und Röcke!“ freute sie sich.
Als er sich vergewissert hatte, dass Miriam soweit alleine klar kommen würde, verabschiedete er sich freundlich und verließ ihr Zimmer.
In Miriam brodelte es. Zitternd hob sie den Koffer in ihr Bett. Langsam öffnete sie die Schnallen, dann den Reißverschluss.
Als erstes fielen ihr die 2 Bücher auf, die ganz oben auf der Kleidung lag. Sie lächelte und dachte daran, heute Abend in ihrem Lieblingsbuch „Die Templerin“ weiter lesen zu wollen. Im Winter musste sie leider in der Mitte des Buches aufhören.
Dann hob sie langsam die Schuhe aus dem Koffer und ließ diese behutsam aus dem Bett fallen.
Ihren Waschbeutel legte Miriam auf den Nachtisch. Ihn würde sie ja gleich im Bad brauchen.
Als nächstes durchsuchte sie ihre T-Shirts. Sie wollte etwas anziehen, was zum Sommer passte. Schöne helle Farben, aber nicht zu auffällig. Sie legte zum Waschbeutel ein sandfarbenes Tshirt und einen langen Rock in weichen Gelb-, Rottönen.
Als sie die Unterwäsche sortierte, spürte sie wieder ein Gefühl der Peinlichkeit. Phil hatte ihre Unterwäsche gesehen. Sie hoffte nur, dass er es mit genau solcher neutralen Betrachtung getan hatte, wie er ihr gestern beim Ausziehen geholfen hatte.
Es klopfte.
„Ja herein?“ fragte Miriam unsicher. Wenn jetzt Phil vor ihr stand, und sie mit ihrer Unterwäsche in den Händen sah, würde sie vor Scharm im Boden versinken.
Als sich die Tür öffnete und Miriam die blonde Pflegerin von gestern erblickte, fiel ihr regelrecht ein Stein von Herzen.
„Ich komme, um Ihnen beim Anziehen und Waschen zu helfen!“ sagte die Pflegerin kurz, bevor sie mit einem Satz an Miriams Bett war.
Miriam deutete auf den Nachtisch und sagte der anderen Frau, dass sie gern diese Kleidung anziehen würde. Phils Kollegin nickte und half Miriam in den Rollstuhl. Auf den Weg ins Bad brach sie das Schweigen.
„Es muss schon schwer für Sie sein, nicht mehr laufen zu können!“ fing die Pflegerin ein gespielt mitleidsvolles Gespräch an. „Und niemand kann Sie wirklich verstehen! Ich meine, niemand hier in dem Krankenhaus hat wirklich jemals ein Verlust hin nehmen müssen. Auch ihr persönlicher Pfleger kann sie gar nicht so verstehen, wie er es gern wollte. Er hat ein wohl behütetes und glückliches Leben. Nie wieder laufen können, immer auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein... Hach, für mich wäre das gar nichts!“
Miriam ließ die Worte der blonden Frau an sich ab prallen. Sie konnte sich ihr Schicksal ja nicht aussuchen! Wie die letzten Tage schon, konnte sie aber einfach kein Schmerz, geschweige denn Trauer in sich spüren.
Nachdem Lana Miriam beim Duschen geholfen hatte, zog sie die Patientin an.
„Ich habe auf meinem Nachtisch noch einen kleinen Waschbeutel. Können Sie ihn mir bitte bringen? Ich würde mich gern etwas zurecht machen.“ fragte Miriam unsicher.
Zähneknirschend kam Lana der Bitte ihrer Patientin nach.
Mit verschränkten Armen lehnte sie sich an die Tür. Nein, bei dieser Tätigkeit würde sie Miriam sicher nicht unterstützen!
Zu Miriams eigener Überraschung gelang ihr das dezente Schminken noch genauso gut wie vor einem halben Jahr. Auch ihre Frisur war innerhalb 2 Minuten so, wie Miriam es sich vorgestellt hatte.
Leicht stolz auf sich selber, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Ja, so war es schon viel besser. Die dunklen Augenringe waren aus ihrem Gesicht verschwunden. Die platten Haare, die einfach an ihr herunter hingen, sahen nun auch nicht mehr langweilig aus.
Der Anblick der immer schöner werdenden Patientin ließ den Hass in Lana weiter kochen.
„Ich bringe Sie zurück in ihr Bett!“ sagte sie kühl, während sie die Tür öffnete und Miriam heraus schob.
Gerade als beide das Badezimmer verlassen hatte, klopfte es und Phil kam zurück.
Sein Blick blieb sofort an Miriam hängen, ohne Lana überhaupt nur zu streifen.. Zu seiner eigenen Überraschung konnte er ein leises, aber sehr gut verständliches „Wow!“ nicht unterdrücken.
„Was ist los?“ fragte Lana harsch. Ihr war dieser Ausdruck in Phils Augen gar nicht recht! Phil gehörte ihr, ihr ganz alleine! Sie würde niemals zu lassen, dass eine andere seine Aufmerksamkeit
gewann.
„Ich wollte Frau Richter nur Bescheid geben, dass nach dem Frühstück ein Physiotherapeut in ihr Zimmer kommt.“ Jetzt wendete er sich mit seinen Worten von Lana ab. „Er wird Ihnen zeigen, wie sie alleine aus dem Bett kommen, den Rollstuhl bewegen und auf Toilette gehen zu können. Herr Gorden ist sehr talentiert! Ihm können Sie vertrauen!“
Miriam lächelte ihm zu und nickte.
„Wollen Sie mich zum Frühstück begleiten?“ fragte sie ihn, ohne auf Lana zu achten. Immerhin hatte er gestern mit ihr ja auch Abendbrot gegessen. Wenn er ihr persönlicher Pfleger ist, würde ihm diese Aufgabe sicher mehr gefallen, als Schieber zu spülen.
„Ja klar!“ freute er sich, nahm Lana den Rollstuhl ab und schob Miriam hinunter in die Cafeteria.
„Ich habe eine Überraschung für Sie!“ freute sich Phil. „Heute dürfen Sie ganz normal essen!“
Miriam lächelte. „Gibt es heute wieder etwas, das sie mir empfehlen können, so wie gestern den Salat?“
Phil nickte und verschwand an dem Buffett.
Als er wieder kam, hatte er 2 Pfannkuchen mit Blaubeersauce in den Händen.
„Guten Appetit!“ wünschte er Miriam.
Als sie die leckeren Pfannkuchen aufgegessen hatte, schaute sie bedrückt nach draußen.
Leise flüsterte Miriam vor sich hin: „Es ist so wunderschönes Wetter draußen und ich bin hier drin eingesperrt.“
Phil konnte sie verstehen. Es war Sommer. Niemand würde da in einem sterilen, kahlen Gebäude eingesperrt sein! Er überlegt kurz. Was würde ihr denn im Sommer Freude bereiten? Plötzlich kam ihm eine Idee.
Als Miriam sah, dass Phil ganz erfreut grinste, schaute sie ihn fragend an.
„Wenn Sie wollen, habe ich nachher noch eine Überraschung für Sie! Gleich kommt Herr Gorden zu Ihnen um die Physiotherapie zu machen. Am Nachmittag werdet ihr fertig sein. Ich hole Sie dann nach Feierabend ab und gehe mit Ihnen nach draußen!“
Miriam wäre, wenn sie gekonnt hätte, aus Freude aufgesprungen. Statt dessen nickte sie wild und antwortete, dass sie damit vollkommen einverstanden war.
Kurz nachdem Phil Miriam in ihr Zimmer brachte und gegangen war, kam auch schon der Physiotherapeut zu ihr.
Er stellte sich freundlich vor, erklärte ihr, was sie heute versuchen werden zu lernen und fing dann auch gleich mit seiner Arbeit an. Er war viel höflicher und zuvorkommender als die Schwester am Morgen.
Zuerst wollte er sehen, ob sich Miriam im Rollstuhl durch die Kraft ihrer Arme abstützen konnte.
Die ersten zwei Mal klappte es ganz gut. Als er aber dann noch sehen wollte, wie lange sich Miriam so halten konnte, zitterten ihre Arme ganz schön. Damals wäre es ein leichtes gewesen, sich so ab zu stützen. Aber nun hatte sie durch das halbe Jahr ziemlich an Kraft verloren.
Der Physiotherapeut hielt sie fest und half ihr, sich in dieser Haltung leicht zu bewegen. Es viel ihr sichtlich schwer, aber die Vorstellung, nachher unter die Sonne zu dürfen, gab ihr Kraft.
Die 2 Stunden, in der Herr Gorden bei ihr war, waren, so glaubte Miriam in dem Moment, die anstrengendsten ihres Lebens. Immer wieder musste sie sich abstützen und versuchen sich auf das Bett zu schwingen. Ihre Arme wollten von Sekunde zu Sekunde mehr aufgeben und wurden immer schwächer. Mit einem Zähneknirschen dachte sie an den morgigen Muskelkater...
Endlich erlöste sie der Therapeut: „So das war es erst einmal für heute! Gleich schicke ich Ihnen noch eine Schwester, die hilft Ihnen dann, sich ein wenig frisch zu machen.“ Freundlich verabschiedeten sich beide voneinander. Miriam hoffte aber insgeheim, den Mann so schnell nicht wieder sehen zu können, denn seine Anwesenheit war mit anstrengendster Arbeit verbunden!
Heute übten sie nur wie sie sich auf das Bett schwingen konnte, aber in Zukunft würde sie sicher noch viel mehr und viel anstrengendere Dinge lernen müssen.
Miriam ließ sich nach hinten fallen. Langsam atmete sie tief ein uns aus. Sie merkte ihre Arme kaum noch, so sehr wurden diese angestrengt. Sie schloss die Augen und versuchte, alle vereinzelten Kräfte für den Nachmittag zu bündeln.
Es klopfte. Ohne auf ein Herein zu warten, betrat Lana das Zimmer.
„Ich soll Ihnen beim Frisch machen helfen!“ sagte sie kurz.
Grob half sie Miriam zurück in den Rollstuhl.
Die Unfreundlichkeit, die ihr Lana entgegen brachte, schob Miriam auf die Uhrzeit. Gleich würde Phil kommen um sie nach Feierabend abzuholen. Das bedeutete auch zeitgleich, dass Lana jeden Moment Feierabend hätte oder schon haben würde.
Als sie sich im Bad gewaschen, und die Schminke etwas aufgebessert hatte, begleitete sie Lana in ihr Zimmer zurück.
„Wo ist ihre Nachtkleidung?“ fragte sie.
„Die möchte ich noch nicht anziehen! Ich würde gern die Kleidung von heute morgen anziehen!“ antwortete sie sicher.
„Wieso denn das? Dann müssen Sie sich nachher ja wieder umziehen!“ stellte Lana fest.
„Ich werde gleich abgeholt und mit Schlafkleid nach draußen macht sich nicht ganz so gut!“
Lana runzelte fragend das Gesicht, gab aber nach und zog Miriam mit ihrer Hilfe die Kleidung von heute morgen an. Wenn sie sich den Wünschen der „Haupt“patientin verweigern würde, würde dies sicher an die Oberschwester gelangen, die auf den besonderen Umgang mit Frau Richter ziemlichen Wert legte.
Als sie fertig angezogen war, bedankte sich Miriam höflich und verabschiedete sich von Lana.
Diese ging zur Tür und wäre beinahe mit Phil zusammen gestoßen, der in seiner normalen Kleidung vor ihr stand. Schlagartig wurde Lana bewusst, mit wem Miriam verabredet war.
Ohne Phil zu grüßen, stürmte sie wütend an ihm vorbei.
Ihr hatte er vorhin abgesagt! Er wollte mit Betty lernen! Und nun traf er sich mit so einer! Voller Hass malte sie sich eine Intrige aus, um Miriam indirekt schaden zu können! Sie und Phil sollten nicht weiterhin so miteinander umgehen können!!
„Ich sehe, Sie sind auch schon fertig!“ lächelte er ihr zu.
„Wo geht es denn hin?“ fragte Miriam sichtlich aufgeregt.
Diese Frage ließ Phil nur noch mehr strahlen. „Das soll doch eine Überraschung werden!“
Nach einer kurzen Autofahrt kamen beide an einem Park an, den Miriam vorher nicht kannte.
Phil fragte sie, ob sie kurz im Auto warten konnte. Miriam nickt aus Höflichkeit, obwohl sie endlich unter der Sonne sein wollte. Sie wollte den Grund wissen, wieso sie warten sollte. Als sie sich umdrehte, um nach Phil zu sehen, war von ihm jede Spur verloren.
Kurz darauf war er schon wieder neben ihr. Als Phil keine Anstalten machte, den Rollstuhl neben dem Auto aufzustellen, runzelte Miriam die Stirn.
Als ob er ihre Gedanken lesen konnte, antwortete er ihr: „Ich werde Sie hin tragen!“
Miriam nickte. Noch vor kurzer Zeit hätte sie sich nicht von einem wild fremden Mann durch einen Park tragen lassen. Sie hätte viel zu sehr Angst runter zu fallen. Im Tanz war das etwas anderes. Da wusste sie, dass der Tanzpartner genauso ausgebildet war wie sie und genügend Kraft besaß, sie mehrere Sekunden tragen zu können. Aber hier musste sie auf weite Strecke von einem Mann getragen werden, von dem sie rein gar nichts wusste.
Sie war eigentlich immer ein misstrauischer Mensch, aber dieser Pfleger hatte ihr vollkommenes Vertrauen. Irgendwie war er ihr nicht fremd. Es schien ihr, als ob sie ihn schon seit einer Ewigkeit kannte, er war ihr irgendwie so vertraut. [Im zweiten Kapitel habe ich geschrieben, dass Phil versuchen sollte, mit allen Mitteln Sie aus dem Koma zu holen. Also wird er des öfteren an ihrem Bett gesessen haben, was die Vertrautheit erklärt.]
Mit einem Ruck hatte er sie aus dem Auto gehoben. Er schloss die Wagentür mit einem Fußtritt. Ohne scheinbar sehr angestrengt zu sein, trug er sie vom Auto zu einem Platz, den Miriam erst nach ein Paar Metern erkennen konnte.
Sie traute ihren Augen kaum. Mitten zwischen Blumen und hohem Gras lag eine Decke. Darauf hatte Phil ein Picknick errichtet.
Miriam schrie vor Freunde leicht auf. „Sie sind doch verrückt!“
„Also wenn es Ihnen nicht gefällt, kann ich Sie gerne zurück ins Krankenhaus bringen!“ sagte er gespielt beleidigt und drehte sich in die andere Richtung um.
Miriam schlug ihn leicht gegen die Brust. „Nein! Bitte lass uns Picknicken!“
Phil grinste zufrieden. Na wenn das keine Lebensfreude war... Eine Sache machte ihm jedoch Sorgen. Miriam konnte ihre Trauer nicht ausleben und das würde sicher Folgen haben.
Vorsichtig setzte er seine Patientin auf die Decke.
„Wie schön!“ freute sie sich, als sie die ganzen Speisen sah, die Phil organisiert hatte.
Dort waren verschiedenste Sorten Brötchen, dann gab es eine Erbeertorte, Honig und Marmelade, die auf die Brötchen geschmiert werden konnten, zudem Trauben, Birnen, Bananen, Äpfel und Nektarinen. Beim Anblick der ganzen Köstlichkeiten lief Miriam das Wasser im Mund zusammen. Nachdem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen und das anstrengende Training ließ ihren Margen laut knurren.
„Ich hatte mir gedacht, dass sie nach den Übungen mit Herr Gorden sicherlich Hunger haben würden.“ gab Phil ganz beiläufig zu, als er sah, wie Miriam das Essen anblickte.
Die ständige Aufmerksamkeit und das Mitdenken von Phil imponierten ihr.
„Oh ja, das habe ich!“ antwortete Miriam.
„Was kann ich Ihnen denn anbieten?“ fragte er höflich, während er 2 Teller aus dem Korb heraus holte.
Miriam überlegte kurz. Dann entschied sie sich für ein Honigbrötchen und einen Apfel.
Ihr Gegenüber schenkte beiden etwas kühles zu Trinken ein. Dann nahm er ein paar Weintrauben in die Hand und lehnte sich nach hinten. Auch Miriam entspannte sich.
Sie schloss die Augen und genoss, wie die Sonnenstrahlen ihre Haut streichelten.
Es war ein wunderschöner Nachmittag. Die Vögel zwitscherten, im Wasser des Sees neben ihr schwammen Enten mit ihren Jungen und von fern her konnte sie Kinderlachen hören.
Auch Phil genoss mit geschlossenen Augen die Sonne.
Miriam wurde bewusst, wie sehr ihr diese Art von Entspannung gefehlt hatten. Sie dachte daran, dass sie den ganzen Sommer über trainiert hatte. Marc und sie zogen von einer Aufführung zur Anderen, ohne jemals wirkliche Zeit füreinander gehabt zu haben und einfach so in der Sonne gelegen sind.
Miriam atmete tief aus.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte Phil. Sie konnte seinen besorgten Gesichtsausdruck mit geschlossener Augen spüren.
„Nein, es ist alles okay. Ich überlege nur gerade, wann ich das letzte Mal so entspannt war. Ich glaube, es ist schon sehr lange her.“
Mitfühlend antwortete Phil: „Das glaub ich Ihnen gerne. Mindestens ein halbes Jahr!“
Jetzt öffnete sie die Augen. „Ich meine es nicht in dem Sinne. Ich rede von der Zeit zuvor. In meinem alten Leben war kein Platz für Entspannung.“ gab sie traurig zu.
Phil versuchte sie abzulenken, er hatte Angst, dass sie genau in dem Moment von Marc reden würde.
„Da hinten ist eine Bootsverleihung. Was ist? Haben Sie Lust?“ schlug er vor.
„Das ist jetzt nicht ihr Ernst, oder?“ lachte Miriam.
Nur Kinder oder Verliebte fahren auf einem See Boot, dachte sie sich. Das konnte er unmöglich ernst gemeint haben.
„Haben sie Angst, dass ich nicht genügend rudern kann und wir auf dem See verloren sind?“ lächelte er.
„Nein so mein ich das nicht!“
„Na dann los!“ Mit einem Ruck war er aufgestanden und bückte sich auffordernd, um Miriam zum Steg zu tragen.
„Ach was solls“, dachte sie sich, während sie ihm zu nickte.
Das Gefühl vom Schwanken des Bootes war Miriam ungewohnt. Sie war noch niemals auf so einem kleinen Boot gefahren. Phil hingegen, hatte beide innerhalb weniger Züge routiniert auf den See befördert.
„Sie brauchen keine Angst zu haben! Ich passe schon auf, dass dir...“ Phil brach ab und wurde rot. Er hatte seine Beherrschung jedoch schnell wieder gefunden. „Entschuldigen Sie, ich passe schon auf, dass ihnen nichts geschehen wird.“
Miriam überlegte kurz. In enormer Zukunft würde er sich ja weiterhin im Krankenhaus um sie kümmern. Das ständige siezen würde die Situation sicher nicht einfacher machen.
„Was halten Sie davon, wenn wir auf dieses unnötige „Sie“ verzichten? Ich bin Miriam!“ sagte sie lächelnd, während sie ihm die Hand aus streckte.
Eigentlich war Phil mit keinem seiner Patienten auf „du“. Bei ihr war es jedoch etwas anderes. Er fühlte sich ihr durch die schreckliche Lüge verbunden.
„Gerne, ich bin Phil!“ antwortete er deshalb.
„Warst du schon oft hier auf dem See?“ fragte ihn Miriam.
„Oh ja. Meine kleine Schwester liebt das Wasser. Sie nimmt immer harte Brötchen mit um direkt in der Mitte des Sees die Schwäne zu füttern. Da begleite ich sie.“
„Das ist ja schön! Ich hatte mir immer einen großen Bruder gewünscht, der mit mir spielt und mich beschützt. Aber meine Eltern hatten beschlossen, dass ich Einzelkind bleiben sollte. Wie alt ist deine Schwester denn?“
„Betty ist 10.“ antwortete er kurz.
Miriam nahm all ihren Mut zusammen um Phil nach Lana zu fragen.
„Kann ich dich mal was fragen? Diese blonde Kollegin von dir, wieso ist sie so... sagen wir mal.. unfreundlich?“ fragte sie langsam.
Phil lachte. „Ach das ist Lana. Das darfst du nicht persönlich nehmen. Sie ist halt so.“
Irgendwie konnte Miriam diese Antwort nicht glauben, aber sie gab sich damit zufrieden.
„Vielleicht kann ich sie ja in Zukunft besser kennen lernen.“ antwortete sie darauf.
Phil schüttelte traurig den Kopf. „Das glaube ich weniger. Als du vorhin trainiert hast, musste ich zu einer Versammlung, die die Oberschwester einberufen hatte. Du wirst wohl ziemlich bald entlassen und in einer Rhea-Klinik verlegt werden.“
Diese Worten trafen Miriam wie ein Blitz. Nein! Niemals. Niemals würde sie jetzt in eine Rhea-Klinik gehen!
„Wieso.. wieso kann ich das nicht bei dir im Krankenhaus machen?“ stotterte sie ungläubig.
„Weil wir dazu gar nicht ausgebildet sind. In einer Rhea-Klinik kann dir viel besser geholfen werden als bei uns!“ sagte er nüchtern.
„Mir geholfen werden?? Wie soll mir denn geholfen werden? Ich kann doch genauso gut bei euch lernen, wie ich ohne meine Beine klar kommen kann! Es hängt nichts von ab, unter welchem qualifizierten Arzt ich lerne! Auch wenn es bei euch vielleicht länger dauern sollte, es hängt nichts von ab! Ich habe mein ganzes Leben Zeit dazu, zu lernen wie ich mich aus dem Rollstuhl ins Bett oder auf einen Stuhl schwinge!“ Miriam schrie schon fast. Sie konnte nicht glauben, dass sie in nur wenigen Tagen verlegt werden sollte. Niemand aus ihrem Freundeskreis war für sie da, ihr Verlobter war auf Geschäftsreise und ihre Eltern in einem anderen Land. Wieso sollte sie sich jetzt schon wieder an andere Menschen gewöhnen sollen?
„So darfst du nicht denken.“ sagte Phil leise, während er aufs Wasser sah.
„Wieso nicht? Es ist doch die Wahrheit! Ich werde niemals wieder laufen können. Was gibt es denn da so wichtige, was ich nur in einer Rhea-Klinik lernen kann?“
Phil antwortete nicht. Er fühlte sich schrecklich. Miriam hatte natürlich Recht. Aber die Oberärztin wollte sie so schnell wie möglich aus ihrer Klinik haben. Der positive Pressesturm war vorüber und nun kostete Miriam der Klinik einfach nur noch Geld!
„Fahr mich zurück!“ sagte sie nach einer Weile bestimmend.
„Wie du meinst...“ musste Phil nachgeben.
Die Züge, die er brauchte, um zurück an den Steg zu kommen, waren weitaus mehr, als die, um auf den See zu gelangen.
Ohne das fröhliche Funkeln in den Augen nahm er Miriam und setzte sie wieder auf die Decke.
„Möchtest du noch was essen?“ fragte er mitfühlend.
„Nein... mir ist der Appetit vergangen.“
Sie fühlte nur noch Enttäuschung in sich. Wieso wurde sie einfach abgeschoben? Alles war so unverständlich.
Während sie versuchte Antworten auf die Fragten zu finden, packte Phil das Picknick zusammen und brachte den Korb zum Auto.
Dann holte er auch sie ab.
Schweigend machten sie sich auf den Heimweg ins Krankenhaus.
„Soll ich dir noch beim umziehen helfen?“ fragte Phil traurig.
„Nein, du hast deinen Feierabend schon für mich geopfert. Ich will dich nicht noch weiter hinhalten.“ Miriam versuchte mittlerweile ruhig zu klingen.
„Das tust du ganz und gar nicht!“
„Wieso schiebt ihr mich dann ab?“ antwortete Miriam scharf.
„Es liegt nicht in meiner Gewalt das zu entscheiden! Du hast es da viel besser. Sie haben da ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter und die neuste Technik.“ versuchte er Miriam zu beruhigen, doch sie fiel ihm ins Wort. „Verstehst du das nicht??? Ich brauche keine neuste Technik! Ich brauche jemanden, der mich versteht, dem ich vertraue! Ich brauche dich!“
Den letzten Satz wollte Miriam nicht sagen. Er war einfach aus ihr heraus geplatzt. Sie hatte nicht nach gedacht, sondern in ihrer Wut einfach irgendetwas gesagt. Und doch spürte sie wie wahr dieser Satz war. Sie brauchte ihn um sich zurück ins Leben finden zu können!
Phil riss die Augen weit auf. Hatte er richtig gehört? Zeit darüber nachzudenken blieb ihm jedoch nicht.
„Aber wie sollst du es auch verstehen..“ sagte Miriam leise. Die Worte von Lana dröhnten in ihrem Kopf. „Du hast ja noch nie etwas wichtiges verloren!“
Phil ballte die Hände zu einer Faust. Er rang sichtlich um Fassung. Er war kurz davor sich zu verlieren. Diese letzten Worte rissen eine tiefe Wunde in ihm auf. Sein Herz raste immer schneller. Er wollte etwas dazu sagen, doch er hätte dabei nicht höflich bleiben können.
Schlagartig drehte er sich herum und verließ, ohne ein Wort dabei zu verlieren, Miriams Zimmer.