So, nun aber.
Das letzte Lupenbild möchte ich besonders eurer Aufmerksamkeit empfehlen. Vielleicht tröstet es über den fiesen Cliffhanger hinweg.
Mein Triumph währte nicht lange.
Bereits drei Nächte später kehrte die Vision, in der Artairs Leichnam zerschmettert auf diesem Felsen lag, in meine Träume zurück; und er trug immer noch jenen blauen, mir unbekannten Waffenrock.
Aber Meduria blieb meinen Träumen fern, und ich konnte
ihn jede Nacht spüren, obwohl ich ihn niemals wirklich sehen konnte.
Es war, als ob seine Anwesenheit Meduria daran hinderte, zu mir durchzudringen.
Am Vortag war Torgar nach Caer Mornas zurück gekehrt, was alle außer Artair zu überraschen schien.
Er hatte seine Frau und seine beiden Kinder dabei, die reglos auf dem Wagen lagen, den leeren Blick ins Nichts gerichtet. Sie wurden im Palast untergebracht, und Mártainn und Shainara untersuchten sie lange.
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Mártainns Pulver hatte tatsächlich geholfen, und die Körper der Kinder hatten sich bereits etwas erholt. Mártainn und Shainara waren erleichtert, denn das gab ihnen mehr Zeit, nach dem Gegenzauber zu suchen, der die Seelen der Kinder befreien sollte.
Sie waren mit ihren Versuchen noch nicht weiter gekommen, obwohl sie Nacht um Nacht in Mártainns Turmzimmer über dicken Wälzern und Schriftrollen brüteten.
Torgars Stamm hatte ihn zum Häuptling ernannt, und die anderen Stämme hatten ihn gebeten, auch in ihrem Namen mit Artair zu sprechen.
Artair schien sich darüber zu freuen, und er ließ keine Vorbehalte gegenüber Torgar erkennen, sondern bestand darauf, dass er an allen Beratungen teilnahm.
Und dann geschah etwas Schreckliches.
Wir hatten gerade zum Mittagsmahl Platz genommen.
Brayan war ebenfalls aufgetaucht, hatte sich auf den Stuhl zu meiner Rechten fallen lassen und starrte stumm auf seinen Teller. Er sah bleich und übernächtigt aus, und ich warf ihm einen besorgten Blick zu.
Die letzten Tage hatte ich ihn nur auf dem Übungsplatz getroffen, wo er wie von Sinnen auf seine Übungspartner eingeschlagen hatte, bis keiner mehr mit ihm kämpfen wollte.
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Gestern hatte sich Fingal zögernd bereit erklärt, ein paar Übungsgänge mit Brayan zu absolvieren, und ich hatte stirnrunzelnd dabei zugesehen.
Ich kannte Brayan überhaupt nicht wieder. Er setzte Fingal so hart zu, dass er Gefahr lief, ihn ernsthaft zu verletzen, und das war so gar nicht seine Art.
Gowan, neben mir, wirkte fassungslos. „Was ist nur mit Brayan los?", fragte er erschrocken. „Jemand muss ihn aufhalten, sonst bringt er Fingal noch um."
„Du hast Recht", hatte ich ihm zugestimmt. „Hilf mir."
Wir waren über den Zaun gesprungen und dazwischen gegangen.
Selbst zu dritt hatten wir Mühe gehabt, Brayan zu überwältigen, aber schließlich war es mir gelungen, ihm ein Bein zu stellen und ihn zu Fall zu bringen. Rasch setzte ich mich auf ihn und packte seine Arme, während Gowan sich über seine Beine warf und Fingal keuchend neben uns auf dem Boden lag.
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Ich schrie Brayan an, in dem Versuch, ihn zu erreichen und zur Besinnung zu bringen. Er wehrte sich verbissen, aber dann erkannte er mich; seine Glieder erschlafften und er blieb ruhig unter mir liegen.
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Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und beugte mich zu ihm herab.
„Brayan", flüsterte ich ihm zu, „rede mit mir."
Die blinde Wut in seinem Gesicht verblasste und wich einer völligen Leere.
„So, wie Du mit mir?", erwiderte er.
Ich blieb stumm, und er sah mich ausdruckslos an.
Dann setzte er sich auf, zog mich an sich und verbarg sein Gesicht in meinem Haar.
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„Ach, Neiyra", flüsterte er, und seine Stimme klang gequält.
„Was sollen wir denn nur tun?"
Tröstend strich ich ihm übers Haar und hielt ihn fest.
Nach einer Weile hob er mich von seinem Schoss, stand auf und streckte Fingal seine Hand entgegen. Fingal ergriff sie zögernd, und Brayan half ihm auf die Füße.
„Es tut mir leid", sagte er rau, und Fingal nickte knapp.
Brayan drehte sich um und verließ den Übungsplatz, während ich ihm nachblickte.
Ich hatte keine Ahnung, wohin er gegangen war und wo er seine Nächte verbrachte. In seinen Räumen schlief er jedenfalls nicht, das hatte mir Ceilith erzählt.
Jetzt griff er nach meiner Hand und schenkte mir ein schiefes, klägliches Lächeln.
„Es tut mir leid", sagte er leise.
„Ist schon gut", erwiderte ich.
„Nein." Er schüttelte den Kopf.
„Es ist nicht gut, überhaupt nicht. Ich hätte mich nicht so benehmen dürfen. Es wird nicht wieder vorkommen."
Er schwieg einen Moment.
„Es ist eben so, wie es ist", fügte er dann hinzu.
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In diesem Moment wurde das große Tor der Halle geöffnet, und ein junger Bote trat ein. Er sah sich um, und als er Rhiannon entdeckte, kam er mit raschen Schritten auf uns zu. Er sah bleich und verstört aus, und er war schmutzbedeckt.
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Als er die Empore erreicht hat, sank er auf ein Knie.
„Herrin", sagte er tonlos.
„Aldric!" Rhiannon sprang von ihrem Stuhl auf, sie sah erschrocken aus. „Was ist geschehen?"
„Ich bringe schlechte Nachrichten, Herrin", sagte Aldric.
„Die Schlimmsten."
Rhiannon wurde kreidebleich, und Gwern sagte heiser: „Caitlin?"
Der Bote nickte unglücklich.
„In der Nacht des letzten Vollmonds fühlte die Kronprinzessin, dass ihre Stunde gekommen war, und Prinz Morcant, der die letzten Tage kaum von ihrer Seite gewichen war, schickte nach den Hebammen", erzählte er stockend.
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„Ich hielt Wache vor ihren Räumen, und als die Hebammen ankamen und die Gemächer betraten, konnte ich die Prinzessin auf ihrem Bett ruhen sehen, sie war guter Dinge und scherzte mit ihrem Gemahl."
Aldric wischte sich über die Augen, und als er weiter sprach, zitterte seine Stimme.
„Kaum drei Stunden später gebar die Prinzessin eine gesunde Tochter, und Mutter und Kind ging es gut. Die Geburt war leicht, und es gab keine Komplikationen. Eine der Hebammen blieb noch eine Stunde bei ihr, und dann brachte sie die verschmutzte Wäsche nach unten. Als die Tür sich öffnete, sah ich Prinz Morcant, der auf dem Bett neben der Kronprinzessin saß, den Arm um sie gelegt hatte und seinen Blick nicht von ihr und seiner Tochter abwenden konnte. Prinzessin Caitlin hielt ihre Tochter im Arm und sang ihr ein Lied vor."
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Aldric hatte Tränen in den Augen.
„Nur ein paar Minuten später kehrte die Hebamme zurück, und als sie den Raum betrat, hörte ich sie schreien. Und als wir in das Zimmer stürzten, da fanden wir…"
Aldric konnte nicht weiter sprechen und rang um Fassung.
„Wir fanden Prinzessin Caitlin und ihre Tochter auf dem Bett liegen, und Prinz Morcant lag auf der Erde vor dem Kamin. Sie waren alle drei tot."
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Am Tisch herrschte fassungsloses Schweigen. Niemand sagte etwas, aber jedem von uns war das Entsetzen deutlich auf dem Gesicht abzulesen.
„Herrin", flüsterte Aldric, „ich schwöre bei meinem Leben, dass ich nicht eine Sekunde in meiner Wachsamkeit nachgelassen habe, und niemand hat die Räume von Prinzessin Caitlin betreten. Niemand."
„Steh auf, Aldric. Niemand zweifelt daran", sagte mein Vater, und ich erkannte seine Stimme kaum wieder.
Aldric stand auf und sah ihn dankbar an.
„Wir riefen sofort nach den Heilern und nach der Priesterin, aber sie konnten nichts mehr tun."
„Woran sind sie gestorben?" Die Stimme meiner Mutter klang brüchig.
„Wir wissen es nicht", sagte Aldric leise, „sie fanden keine Erklärung, weder für den Tod der Prinzessinnen, noch für den von Prinz Morcant. Es gab… keinen Grund."
Die Erschütterung in der Halle war fast greifbar.
„Aber als die Hebamme wieder etwas zu sich gekommen war, fiel ihr etwas auf", fuhr Aldric fort und sah Rhiannon an, „das Feuer, das hell gebrannt hatte, als sie das Zimmer verlassen hatte, war vollständig erloschen. Und in der Asche fand sich ein Zeichen."
Er griff in sein Wams und holte ein Pergament hervor. „Ich habe es aufgezeichnet."
Er entrollte das Pergament und legte es auf den Tisch. Rhiannon entfuhr ein entsetzter Schrei, während Mártainn und Shainara aufsprangen.
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Artair stand auf und strich das Pergament glatt. „Was ist das für ein Zeichen?", fragte er ruhig.
Mártainn schwieg einen Moment, und dann sagte er kalt: „Das ist Runcals Zeichen."
Rhiannon sank auf ihren Stuhl und sah benommen auf die Erde. Shainara kniete sich vor sie und nahm ihre Hände in die ihren.
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„Du musst stark sein, Liebes", sagte sie sanft.
Rhiannon hob den Kopf und sah sie an.
„Natürlich", erwiderte sie.
„Wie immer. Wie mein ganzes Leben lang."
Es klang entsetzlich bitter.
Ihre Schultern bebten, aber dann straffte sie sich, stand auf und ging zu Gwern, der seinen Arm um sie legte.
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Artair trat zu ihnen und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut", sagte er leise.
„Wenn ich gewusst hätte…"
Gwern machte eine abwehrende Handbewegung.
„Es war ganz allein unsere Entscheidung, hier her zu kommen, und es war die richtige Entscheidung. Nach Eurer Nachricht haben wir für den bestmöglichen Schutz für unsere Familie gesorgt, und ich glaube nicht, dass alles anders gekommen wäre, wenn wir dort geblieben wären."
Er sah besorgt in Rhiannons Gesicht.
„Aber jetzt müssen wir zurück", fuhr er fort.
„Selbstverständlich", sagte Artair ernst.
„Ihr bekommt alles, was ihr braucht."
Er winkte Braghan, der rasch herantrat, und gab ihm leise ein paar Anweisungen.
Gwern nahm sanft Rhiannons Arm und sie wandten sich zum Gehen. Aber nach ein paar Schritten blieb meine Mutter stehen, drehte sich um und sah mir direkt ins Gesicht. Ihre Augen waren voller Schmerz.
Ich wandte den Blick nicht ab und stand auf. In diesem Moment war mir egal, was sie mir angetan hatte.
Ich lief zu ihr und blieb einen Moment zögernd vor ihr stehen, aber dann schlossen sich meine Arme wie von selbst um sie und ich zog sie an mich.
Ich konnte fühlen, wie sie zitterte, als sie meine Umarmung erwiderte; dann ließ sie mich los, nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich sanft auf die Stirn.
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„Pass auf Dich auf, Neiyra", flüsterte sie.
Mein Vater strich mir eine Strähne aus der Stirn, und sein Blick war warm und voller Dankbarkeit.
Ich sah ihnen nach, als sie die Halle durch eine Seitentür verließen, und dann ging ich langsam die Stufen der Empore hinab.
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Meine Schritte, zuerst zögernd und schleppend, wurden immer schneller, und als ich das große Eingangstor erreichte, rannte ich fast. Ich trat ins Freie, lief über den großen Platz und stürzte Richtung Fluss.
Als ich das Flussufer erreicht hatte, ließ ich mich in das weiche Gras fallen. Ich beugte mich vor, schlang die Arme um meinen Oberkörper und starrte ins Wasser; ich atmete schwer.
Ich hatte Caitlin nicht gekannt. Ich hatte nur verschwommene Erinnerungen an ein junges Mädchen, das mir die Haare geflochten und mich gekitzelt hatte.
Aber dennoch wollte mich eine Woge der Trauer schier überrollen.
Sie war meine Schwester gewesen, und ich hatte fast nichts über sie gewusst.
Hatten wir ähnliche Vorlieben gehabt? Über die gleichen Dinge gelacht oder die Augen gerollt?
Hatte sie auch jene kleine Geste mit der rechten Hand gemacht, wenn sie ungeduldig wurde, oder verlor sie niemals die Geduld?
Wie war sie mit der Bürde, Kronprinzessin zu sein, fertig geworden? Oder war es keine Bürde für sie gewesen?
Wo hatte sie ihren Mann kennen gelernt, und hatte sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebt?
Hatte auch sie irgendwo dieses winzige Muttermal gehabt, das Rhiannon und ich hatten?
Ich wusste es nicht, und nun würde ich es niemals mehr erfahren. Die Möglichkeit war vertan, und das war auch meine Schuld. Ich würde sie niemals kennenlernen.
Ich starrte immer noch auf die Wasseroberfläche, und plötzlich schien das Wasser sich… zu verbiegen. Ich kniff die Augen zusammen und sah genauer hin.
Verblüfft nahm ich wahr, dass bunte Wirbel unter der Oberfläche erschienen, die sich rasch ausbreiteten; das Gras, die Bäume und Blätter – alles wirkte verschwommen.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Ränder meines Gesichtsfeldes sich nach innen zu biegen schienen, und dann traf mich die Übelkeit wie ein Schlag, und die Welt kippte weg.
Als die Übelkeit etwas nachließ, öffnete ich vorsichtig die Augen. Götter, was war das denn gewesen?
Und es war noch nicht vorbei.
Die bunten Wirbel, die mich umgaben, sanken langsam zu Boden und verblassten, bis sie wie ein feiner, weißer Nebel auf der Erde lagen.
Wenn da eine Erde gewesen wäre.
Aber die Welt um mich herum war verschwunden, ich saß mitten in einem weißen Nichts, nur umhüllt von diesen Nebelschwaden.
Doch merkwürdigerweise hatte ich keine Angst.
Und plötzlich konnte ich es fühlen.
Er war auch hier.
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Ein ganz fettes Dankeschön geht an meinen Sohn, der sich Runcals Zeichen ausgedacht hat.
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