„Also, erzähl mir deine Geschichte.“
Ich blickte Henry stirnrunzelnd an. Trotz meiner Versicherung an Louisa war ich mir noch immer unschlüssig, ob ich diesem Menschen vertrauen wollte.
Wir hatten an einem Tisch in seiner winzigen Küche Platz genommen und musterten uns gegenseitig mit unverhohlenem Interesse. Louisa war nebenan wieder eingeschlafen.
„Wie wär’s, wenn du mir zuerst deine erzählst“, entgegnete ich bissig.
„Meine Geschichte?“ Er lachte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin, wie man unschwer erkennen kann, Junggeselle, arbeite als Reinigungskraft im städtischen Krankenhaus und in meiner Freizeit erforsche ich gerne übernatürliche Phänomene. Nichts, was du nicht schon vorher gewusst hättest.“
„Und deine Familie? Hast du Geschwister? Wo sind deine Eltern?“
Seine Miene verfinsterte sich ein wenig bei diesen Fragen und ich bereute schon, sie gestellt zu haben.
„Meine Eltern sind gestorben, als ich noch sehr klein war und ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Keine Geschwister.“
Ich schluckte. Fettnäpfchen waren wohl tatsächlich mein Fachgebiet.
„Das tut mir sehr leid.“
Er zuckte die Achseln und sein freches Grinsen erhellte erneut sein Gesicht.
„So, jetzt bist du dran.“
„Nun…es ist ziemlich kompliziert.“
„Kompliziert ist gut, das macht es umso spannender. Fangen wir doch damit an, warum du völlig verloren durch diese Stadt streifst und dir Probleme einhandelst.“
„Ich bin weggelaufen. Von zu Hause.“
Ich war von meiner eigenen Ehrlichkeit überrascht. Hier saß ich nun bei einem Menschen, den ich gerade mal seit ein paar Minuten kannte und war bereit, ihm alles über mein elendes Leben zu erzählen. Henrys neugierige grüne Augen und sein ehrliches, liebes Gesicht machten es schwierig, sich vor ihm zu verschließen. Es war, als hätte ich endlich jemanden gefunden, der nicht nur aus Pflichtgefühl auf meiner Seite stand.
„Vor was muss ein hübsches Mädchen wie du wohl davonlaufen?“
Ich ignorierte sein Kompliment.
„Das ist…“
„Kompliziert, ich weiß. Versuch’s trotzdem zu erklären…bitte…wenn du magst, meine ich.“ Er kratzte sich nervös lächelnd an der Nase. „Mich interessiert das alles wirklich brennend.“
„Also gut. Ich gehöre einem Clan an, der zu den ältesten Blutlinien Nordenglands gehört. Da wir in den letzten Jahrhunderten durch die Menschen großflächig ausgerottet wurden, gibt es kaum noch „echte“ Vampire unter uns – Reinblüter, wie wir sie nennen.“
„Reinblüter?“
„Vampire, in denen nur Ältestenblut, also das Blut unserer Urväter fließt. Die meisten Blutlinien wurden irgendwann mit Menschen vermischt, entweder aus einem reinen Arterhaltungstrieb oder, weil einige so dumm waren, zu glauben, eine Liebesbeziehung zwischen Mensch und Vampir könne funktionieren.“
„Und du glaubst nicht daran, dass das so ist?“
„Ich habe nicht gehört, dass es je so gewesen wäre. Mein Großvater mütterlicherseits war ein Mensch und ich betone war, denn er hat kein sehr langes Leben geführt. Außerdem ist es Vampiren untersagt, eine Bluthochzeit mit Menschen einzugehen. Sie dienen einzig und allein der Fortpflanzung.“
„Okay…was ist eine Bluthochzeit?“
Ich seufzte. Das konnte noch die ganze Nacht dauern. Zum wiederholten Male fragte ich mich, was zum Teufel mich überhaupt dazu trieb, Henry das alles über meine Rasse zu erzählen. Fühlte ich mich schuldig, weil er uns gerettet hatte und wollte mich revanchieren? Oder genoss ich es einfach nur, dass mir ausnahmsweise mal jemand anderes zuhörte als Louisa?
„Vampirpaare, die einen Bund eingehen wollen, feiern Bluthochzeit. Dabei schneiden sich beide selbst und lassen die Wunden sich dann berühren, damit sich ihr Blut verbinden kann. Dieser Schwur hält so lange, bis einer der Partner stirbt.“
„Wow, Scheidung ist dann wohl nicht drin, was?“ Henry wirkte beeindruckt.
„Was ist eine Scheidung?“, fragte ich verwirrt und verstand nicht, warum ihn das zu amüsieren schien.
„Wenn Paare bei uns heiraten, dann behaupten sie zwar, dass es für immer und ewig wäre, aber die meisten lassen ihre Ehe dann doch wieder auflösen. Das nennt man dann eine Scheidung. Ist ziemlich teuer und oft auch sehr hässlich, aber heutzutage gar kein Problem mehr.“
„Nun, bei der Bluthochzeit geht man einen Schwur ein, der wirklich ewig hält. Denn, wenn man ihn bricht, stirbt man, weil das Blut des Partners in den eigenen Venen einen dann vergiftet.“
„Mann, und ihr wundert euch, warum ihr vom Aussterben bedroht seid…“, murmelte Henry. Dann: „Also, was hast du mit dieser ganzen Sache zu tun?“
„Obwohl meine Mutter nur ein Halbblut ist, da ihr Vater ja ein Mensch war, bin ich als Reinblut geboren. Eigentlich sollte das gar nicht möglich sein, aber hier bin ich nun, die einzig reinblütige Erbin des Ravendale-Clans.“
„Und ich schätze mal, das ist nicht gut?“
„Keine Freiheiten. Ich stehe immer unter Beobachtung, darf ohne Begleitung das Haus nicht verlassen. In die Menschenwelt darf ich erst recht nicht und bewahre, dass ich von einem trinken sollte.“
„Hast du das nicht soeben getan?“
„Und ich hoffe sehr, dass es mein Blut so stark verunreinigt hat, dass ich jetzt nichts mehr wert bin.“ Ich grinse boshaft.
„Das passiert?“
„Keine Ahnung. Aber das ist die große Befürchtung, die alle haben. Sie sagen, es ginge dabei um die Erhaltung unserer Rasse. Dass wir nicht zulassen dürfen, dass der Anteil an Vampirblut in unseren Blutlinien immer geringer wird. Aber ich denke, in Wirklichkeit geht es dabei um Politik.“
„Politik? Wie das?“
„Es gibt einen Rat der Ältesten hier. Diese Vier sind die mächtigsten Vampire Nordenglands, da nur sie allein das Sagen haben. Und es gibt exakt drei Voraussetzungen um ein Ratsmitglied zu werden: Erstens, du musst ein gebürtiges Mitglied einer der Ältesten-Familien sein – Ravendale, Blood Moon, Nightfall und Crescent Moon -, zweitens, du musst reinblütig sein und drittens, du musst mindestens einen Nachkommen mit einem Vampir gezeugt haben. Auf meinen Vater trifft das natürlich alles zu, doch was ist, wenn er mal nicht mehr ist? Da kommt ihm ein reinblütiges Kind doch sehr gelegen, dass später einmal seinen Platz im Rat einnehmen und für den Fortbestand des Einflusses von Clan Ravendale sorgen wird.“
„Mann-o-mann.“ Henry lehnte sich pfeifend zurück. „Das ist ja verdammt viel Stoff für ein einziges Leben.“
„Jetzt weißt du, warum ich weggelaufen bin.“
Er nickte. „Da hätte ich wahrscheinlich auch die erstbeste Gelegenheit zur Flucht ergriffen. Aber eins verstehe ich nicht: Wenn es deinem Vater so wichtig ist, reinblütige Kinder in die Welt zu setzen, warum hat er sich dann für eine Halbblüterin als Frau entschieden?“
„Wer weiß. Vielleicht war er ja tatsächlich mal zu so etwas wie Gefühlen imstande und hat noch nicht über seine politischen Pläne nachgedacht, als er meine Mutter getroffen hat. Oder es wollte ihn einfach niemand anders. Ich habe ihn nie danach gefragt und der Blutschwur macht es schließlich unmöglich, seine Meinung zu ändern.“
„Und werden sie dich nicht suchen?“
„Natürlich werden sie das. Aber ich werde alles daran setzen, dass sie uns nicht finden. Wir haben ein besseres Leben verdient als dieses, vor allem Louisa.“
„Erzählst du mir auch ihre Geschichte?“
Ich zuckte die Achseln. „Eigentlich ist meine Geschichte auch ihre. Ein Ghul wird quasi aus Versehen erschaffen, wenn ein Vampir zu gierig ist und zu viel von einem Menschen trinkt. Ein Mensch wird dadurch nicht zum Vampir – das geht nur, wenn ein Vampir ihm sein Blut zu trinken gibt – aber es macht ihn zu einem unterwürfigen Sklaven. Seine Erinnerungen an sein menschliches Leben werden gelöscht. Bei einem Kind, wie Louisa es damals war, geht das ziemlich schnell. Der Ghul hat nicht die gleichen Fähigkeiten wie ein Vampir und ist sehr viel schwächer, darum ist er auf seinen Meister angewiesen, wenn er überleben will. Der Meister geht jagen und der Ghul bekommt etwas vom Kuchen ab. So funktioniert das System. In den Augen der Vampire sind Ghule nichts wert und dienen im Gegenzug gerade einmal dazu, unseren Dreck wegzumachen oder als billige Nahrungsquelle ohne unser Blut zu verunreinigen, weil sie nun weder richtig Mensch noch richtig Vampir sind. Das ist Louisa seit meiner Kindheit, seitdem sie vom Crescent Moon-Clan an uns verkauft wurde, für mich gewesen, meine Nahrungsquelle. Aber auch meine beste Freundin. Ich schulde ihr mehr als mein Leben. Was meine Familie ihr wegen mir schon alles angetan hat… Man könnte sagen, dass sie mein einziger Schwachpunkt ist und das wissen sie genau.“
Ich ballte die Hände zu Fäusten, als ich an das letzte Mal dachte, als mein Vater Louisa als Druckmittel benutzt hatte um mich zur Heimkehr zu bewegen. Ich wusste, dass ihre Narben und alles, wofür sie standen, meine Schuld waren; sah ihn noch immer über ihr stehen wie ein lebendig gewordener Albtraum, die Peitsche in der Hand und ein bösartiges Grinsen im Gesicht, so als hätte er Spaß daran, sie meinetwegen zu foltern. Ich hasste mich noch immer dafür. „Sie bedeutet mir alles auf der Welt.“
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