Gang 4 – Lammcarré – Teil 2
Gang 4 – Lammcarré – Teil 2
«Es war katastrophal, was du da gespielt hast», sagte Astrid, während das Lammcarré aufgetragen wurde – endlich! «Du Angeberin.»
«Ich weiss», meinte Smilla und strahlte sie an. «Es war echt schlimm. Aber», sie senkte die Stimme, «wenigstens ist es vorbei. Zweimal werden sie mich bestimmt nicht spielen lassen. Doch vielleicht ist ihnen nach dem Nachtisch nach einem Violinvortrag?»
Astrid schüttelte vehement den Kopf. «Das kannst du vergessen.»
Jedoch wussten beide, dass Astrid es nach Ingeborgs Standpauke nicht wagen würde, sich zu widersetzen.
«Was-s-s redet ihr denn da?», mischte sich Nils, der nur den ersten Teil des Gesprächs gehört hatte, ein. «Nur keine falsche Besch-sch-scheidenheit.» Er redete laut in seiner Politikerstimme, wenn auch immer noch mit schwerer Zunge. Wahrscheinlich versuchte er, die Anwesenden so gut wie möglich vergessen zu lassen, welchen Betrug er begangen hatte. «Is’ doch nicht zu fassen, diese Necke… Necke… Necker’n unter Gesch-schwistern! So sch-schön ist das! Da s-sieht man, wie gut sie sich verstehen. Weil sie auch alle so talentiert sin’, da nimmt der ein’ nichts dem and’ren.» Dabei sah er die ganze Zeit in Ingeborgs und Gustafs Richtung.
Glaubte er, sie würden ihm verzeihen, wenn er ihre Kinder in den Himmel lobte?
Ingeborg klang relativ kühl, aber selbstverständlich immer noch höflich, als sie antwortete. «Wir legen auf eine umfassende Bildung in vielen Bereichen Wert. Von Talent halten wir erst einmal gar nichts. Vieles davon ist harte Arbeit.»
Obwohl sie wusste, dass dies leere Phrasen ihrer Mutter waren, die von Musik oder anderen Künsten überhaupt nichts verstand, musste Smilla ihr zustimmen, wenn sie an die vielen Stunden dachte, die sie am Klavier verbracht hatte, an die immergleichen Tonfolgen, bis sie ihr zum Hals raushingen, an die schmerzenden Handgelenke, wenn ihre Übungsstunden viel zu lange angedauert hatten, an den Ärger, wenn eine Passage einfach nicht gelingen wollte. Daran dachte niemand, wenn er sie um ihr «Talent» beneidete. Dennoch entschädigte sie die Musik tausendfach für alle Strapazen, die sie manchmal auf sich nehmen musste, um sie ordentlich zu studieren. In all ihren Facetten.
Während dieser Gedanken hatte sie gar nicht mehr aufs Tischgespräch geachtet, doch die Gesellschaft hatte Nils’ Ausspruch zum Anlass genommen, ihre Bewunderung über den Gyldenløver Nachwuchs auszudrücken.
«Ich finde durchaus, dass ein Grundtalent vorhanden sein muss, das natürlich zu fördern ist», sagte Taro. «Wenn ich mich an ein Klavier setzen würde – Gott bewahre! Da würde es keine Rolle spielen, wie lange ich üben würde. Köstlich, dieses Lamm.»
In der Tat war auch das Lammcarré vorzüglich zubereitet worden, doch Smilla sass die Anstrengung ihres Vorspiels noch zu sehr in den Knochen, um es wirklich geniessen zu können. Überhaupt kam es ihr vor, als schmeckte heute Abend alles gleich.
«Hast du es überhaupt mal versucht?», hielt Astrid dagegen. «Ich konnte auch keinen geraden Ton spielen, als ich zum ersten Mal eine Geige in der Hand hielt.»
«Und jetzt bist du eine solche Künstlerin», sagte Eva, obwohl sie sie vermutlich noch nie hatte spielen hören. Bei ihr wirkten solche Bemerkungen immer noch unechter als bei ihrem Mann. «Woher haben eure Kinder das bloss? Dich, Inge, oder auch Gustaf, habe ich nie musizieren hören.»
«Wir wissen es nicht, aber wir sind sehr dankbar», behauptete Gustaf.
«Ist die Kleine denn auch schon fleissig dabei?»
«Wir drängen unsere Kinder nicht. Es muss von ihnen kommen. Linnea wird schon die Lust daran entdecken, und wenn nicht, wird sie ihre eigene Bestimmung finden», sagte Gustaf steif, und Smilla liebte ihn in diesem Moment.
«Ich bin mir sicher, dass auch sie ein herausragendes Talent zeigen wird. Wie die drei anderen. Lasse war ja auch so ein Künstler.»
Smilla erstarrte. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Eva verformte ihre Mundwinkel zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte, offenbar völlig ahnungslos darüber, wie pietätlos ihre Bemerkung war.
Aber niemand sonst schien darauf zu reagieren. Ingeborg und Gustaf verzogen keine Miene und Astrid verdrehte sogar die Augen, als nervte es sie, mit einem Toten verglichen zu werden.
«Ja, ihm beim Klavierspiel zuzuhören, war auch immer eine solche Freude. Und dann konnte er dazu noch singen», sagte Taro.
«Eine wunderbare Gesangsstimme», stimmte Eva zu. Da musste Smilla ihr allerdings Recht geben. Das Singen war nie ihr Gebiet gewesen, aber Lasse hatte irgendwie alles gekonnt, was mit Musik zu tun hatte.
«Ich finde es sch-sch’ecklich, dass heutzutage nur noch diese – diese Castingshows ’n Stellenwert zu hab’n scheinen. Gerade bei den Jungen. Dort wird Hinz und Kunz berühmt für nichts, ohne einen Funken Talent zu besitzen», sagte Nils mit wichtiger Miene. Das könne gerade er natürlich beurteilen, dachte Smilla.
«Oh ja, diese Popsternchen. Gutes Aussehen ist da viel wichtiger. Oder tiefe Ausschnitte.» Eva lachte hinter verschämt vorgehaltener Hand, als hätte sie etwas besonders Anstössiges gesagt. «Und so einer wie Lasse, der wirklich etwas kann, der wird nicht bekannt. Es ist einfach nicht gerecht.»
«Vielleicht liegt das auch daran, dass er unpassenderweise verstorben ist», platzte Lex plötzlich heraus. Erschrocken drehte Smilla den Kopf zu ihm und sah, dass sich eine steile Falte auf seiner Stirn gebildet hatte.
Natürlich. Zu behaupten, Castingshowgewinner seien grundsätzlich schlechte Sänger, musste ihn gekränkt haben.
«Jacob Alexander!», rief Ingeborg aus. Nun wirkte sie schockiert.
Seelenruhig führte Lex eine Gabel voll Spargel zum Mund, doch ihm war anzusehen, wie verärgert er war.
«Natürlich kann man das nicht verallgemeinern», sagte Gustaf schnell, der Lex’ Verstimmung offensichtlich auch bemerkt hatte. «Manche gehen zu Castingshows, weil sie darin die Möglichkeit sehen, ihren Traum zu leben. Heutzutage ist es ja schwierig, auf anderem Wege so bekannt zu werden, um sich seinen Lebensunterhalt mit der Kunst zu verdienen.»
Lex lachte auf. «Lieb von dir, Gustaf, aber gib dir keine Mühe. Ich habe zwar jahrelang nette Vorstellungen in trauter Runde gegeben, gemeinsam mit den ach so begabten Gyldenløve-Kindern, da fand man alles wunderbar, was ich machte. Aber während die armen Gyldenløves als Anwälte versauern müssen, war ich der Einzige, der sein Glück selber schmieden wollte, der Risiken einging, der versucht hat, sich eine Zukunft aus dem zu bauen, das er liebt.» Er warf die Gabel auf den Tisch und verfehlte nur knapp seinen Teller, der wohl zersprungen wäre, hätte er ihn getroffen. «Aber sicher, solange ich brav war und die Damen und Herren hier unterhielt, fand man mich vorzüglich und begabt. Dann besuchte ich eine Castingshow und jetzt bin ich nur noch ein geldgeiles Popsternchen, das durch sein gutes Aussehen gewonnen hat.»
Die gesamte Runde starrte ihn an, bis auf Eva, die verlegen wegblickte, um zu zeigen, wie wenig sie seinen Ausbruch goutierte. Nils hingegen glotzte offen und hatte dabei das Kauen vergessen.
«Warum regst du dich über so was auf?», versuchte Smilla ihn leise zu beschwichtigen.
«Ich rege mich darüber auf, weil mich diese Leute hier schon den ganzen Abend lang wie einen Menschen zweiter Klasse behandeln.» Lex sprach immer noch laut. «Sie grüssen mich nicht. Sie sprechen mich nicht direkt an, wenn es sich nicht unbedingt vermeiden lässt. Sie schauen nicht mal zu mir, wenn ich sie nicht gerade mit meinem rebellischen Benehmen schockiere und aus ihrer heilen Welt zerre. Ich bin minderwertig, weil die Presse über mich geschrieben hat, ich sei mir nicht treu geblieben mit dem Album.» Er schnaubte. «Wahrscheinlich haben die sich meine Musik gar nie angehört. Aber sie haben gelesen, dass ich mit dem Erfolg nicht klarkomme, dass ich alkohol- und drogen- und weiss-nicht-was-abhängig bin, dass ich nachts auf der Strasse herumstreune und einbreche und klaue. Sie amüsieren sich darüber, dass ich mich vor der königlichen Familie blamiert haben. Sie ergötzen sich an ihrer Schadenfreude.»
«Lex», flehte Smilla, doch er ignorierte sie.
«Aber, wisst ihr was? Ich habe meine schlechten Zeiten hinter mir. Ich beginne eine Berufsausbildung. Ich trinke nicht mehr. Ich singe noch – als Hobby. Ich habe für eine Gesangskarriere gekämpft und verloren. Na und? Jetzt mache ich weiter. Ihr aber –», nun wurde seine Stimme leise und eindringlich, «– ihr habt doch alle Dreck am Stecken. Zumindest die meisten von euch. Und was tut ihr?» Er wies auf Taro und Nils, die beide schon lange nicht mehr nüchtern waren. «Ihr besauft euch. Lenkt die Leute ab. Und macht genau gleich weiter wie vorher. Ja,
ihr könnt alle besser mit schwierigen Situationen umgehen als ich.» Er hielt inne, richtete sorgfältig das Besteck vor sich, bevor er alle der Reihe nach langsam ansah. Smilla spürte, dass er damit das Finale seiner Rede einleitete, dass er bald eine Bombe platzen liess – und sie hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei.
«Jeder hat Dreck am Stecken – je vornehmer er tut, desto schmutziger ist er hinten rum. Ein paar Dinge sind sogar heute Abend ans Licht gekommen. Taro, Eva, Nils … Und wisst ihr, wer noch Dreck am Stecken hatte?»
Smilla krallte sich an der Tischplatte fest.
«Ein grossartiges Talent. Ein berufener Pianist. Ein begnadeter Sänger. Und dennoch wäre er niemals von dem ihm vorbestimmten Weg abgerückt, hätte niemals etwas so Obszönes getan, wie sich für eine Castingshow zu bewerben.» Lex machte noch eine Pause. Er nahm einen Schluck Wasser und stellte das Glas peinlich genau an seinen Platz zurück. «Aber wisst ihr, was Lasse getan hat?» Nun wandte er sich geradewegs Nils zu. «Er ist eingebrochen. Und wisst ihr, wo? – Bestimmt habt ihr es erraten. Bei Nils und Eva. Ach.» Theatralisch seufzend lehnte er sich zurück. «Das hätte wohl niemand gedacht, oder?»
Obwohl er sich betont lässig gab, konnte Smilla sehen, wie seine Beine unter dem Tisch zitterten. Vor Wut. Sie vermochte nicht zu sagen, was sie mehr erschütterte: Lex’ Anschuldigungen oder dass er dermassen ausser sich vor Zorn war, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Seit wann nahm er sich so sehr zu Herzen, was die Leute dachten? Hatte er nicht kurze Zeit zuvor, draussen auf dem Gang, gesagt, es sei völlig egal, was die Gesellschaft von einem erwartete?
«Lasse ist bestimmt nicht irgendwo eingebrochen.» Astrid war die Erste, die sprach, und die Sternchen, die immer in ihren Augen glänzten, wenn sie Lex ansah, waren erloschen. «Wie kommst du überhaupt darauf?»
«Natürlich glaubt ihr mir nicht. Aber ich habe ihn gesehen.» Lex gab sich salopp wie immer, aber Smilla konnte seine Anspannung spüren. Irgendwie sah er so aus, als bereute er die Worte bereits.
«Wann war das?», fragte Eva.
«Schon vor einer Weile», druckste er herum.
«Raus mit der S-sprache!», rief Nils. «Dieser Junge ist bei uns eingebrochen? Dann s-sind wir ja quitt, Gustaf!»
Smilla stiegen Tränen in die Augen vor lauter Zorn. Mühsam beherrscht schluckte sie sie hinunter. Sie musste ihn ignorieren, durfte sich nichts anmerken lassen. Wenn sie mal eigene Gesellschaften halten musste, würde sie niemals einen Svensson einladen, schwor sie sich. Niemals.
«Im Winter vor zwei Jahren oder so. Nein, im Herbst. Damals, als es so ungewöhnlich kalt war», sagte Lex endlich. «Aber es ist okay. Es tut mir leid. Ich hätte es nicht sagen sollen. Es spielt ja keine Rolle, denn Nils und Eva haben ohnehin nichts bemerkt.»
«Natürlich haben wir es bemerkt!», behauptete Eva sofort. «Wo sind die Sachen, die uns gestohlen wurden? Geld? Schmuck?»
«Er hat nichts geklaut. Keine Wertgegenstände», sagte Lex seufzend.
Smilla sah zwischen den beiden Parteien hin und her wie bei einem Tennismatch, unsicher, ob sie Lex glauben sollte. Vor gut zwei Jahren sollte es gewesen sein … Zwei Jahre. Kurz vor Lasses Tod also. Ob es einen Zusammenhang gab? Warum war ihr Bruder eingebrochen und hatte sich kurz darauf das Leben genommen? Warum hatte er …? Er hatte ihr doch sonst alles erzählt.
Alles. Warum gerade den Einbruch nur Lex?
«Ja, ich weiss, was er genommen hat. Nichts Wertvolles», erklärte Lex zum wiederholten Male. «Es ist egal, okay? Ich hätte es nicht sagen sollen. Es war quasi nichts. Niemand ist zu Schaden gekommen. Wahrscheinlich war ihm bloss langweilig. Wir müssen jetzt nicht mehr darüber reden.» Er wirkte verzweifelt. «Ich habe euch gesagt, was ich sagen wollte. Redet wieder übers Wetter und ignoriert mich, und wenn ich weg bin, sagt einander, wie leid euch die Rosenkvists tun, weil sie so einen missratenen Spross hervorgebracht haben.» Einen Moment lang fürchtete Smilla, er würde aufstehen und gehen, doch er besann sich und legte bloss beide Hände flach auf den Tisch. Sie war erleichtert darüber, dass er bei ihr blieb, denn plötzlich fühlte sie sich unglaublich alleine an der Tafel. Gleichzeitig ängstigte sie sich ein wenig vor ihm – so kannte sie ihn nicht. Von der besonderen Ausstrahlung, die draussen auf der Bank von ihm ausgegangen war, war überhaupt nichts mehr zu spüren.
«Ich werde nochmals alle Schmuckstücke durchgehen, und wehe, da fehlt was», schimpfte Eva vor sich hin.
«Dann was?», patzte Astrid. «Gräbst du ihn aus und trägst ihn vor Gericht?»
Aus Evas Gesicht wich plötzlich jede Regung. Erst dachte Smilla, sie sei über Astrids Worte erschrocken oder es sei ihr sogar aufgegangen, wie unangebracht ihr, Evas, Trotz gegen Lasse war, aber natürlich war das nicht der Fall. «Die Fotos. Ich habe mich schon gewundert, wo sie abgeblieben sind.»
Smilla runzelte die Stirn. Wovon sprach sie? Fotos? Sie sah sich um, ob dies sonst noch jemandem seltsam vorgekommen war, doch es schien niemand davon Notiz zu nehmen. Gustaf und Ingeborg, Letztere mit versteinertem Gesicht, taten so, als ginge sie alles nichts an. Wie immer, wenn Gefahr bestand, die Gyldenløves in Verruf zu bringen. Besonders, wenn es um ihren toten Sohn ging. Leo hatte ohnehin schon seit gefühlten Stunden kein Wort mehr gesagt. Smilla vermutete, dass er sich auch ein wenig zu sehr dem Wein verschrieben hatte, um mit der Situation klarzukommen. Astrid und Taro starrten Lex an, als überlegten sie noch, was sie glauben wollten.
Lediglich Lex schien gehört zu haben, was Eva gesagt hatte, doch sein Gesicht blieb verschlossen. Nur seine Augen huschten unruhig hin und her.
Was hatte das alles zu bedeuten? Was hatte Lex’ coole Fassade zum Bröckeln gebracht?
Wusste er etwas über Lasses Tod?