Kapitel 27 – Seltsame Geschehnisse
Einen Moment lang beobachtete Dr. Francine Manson den Körper des Jungen, der ohne Bewusstsein auf dem Boden lag. Dennoch hob und senkte sich sein Brustkorb. In, wie sie beruhigt feststellte, regel- und gleichmäßigen Abständen.
Mit dem Tee hatte sie ihm ein leicht toxisches Mittel verabreicht, das „Schenker von Visionen“ genannt wurde. Es bewirkte eine temporäre Trennung von Körper und Geist und war, in der richtigen Dosierung angewendet, harmlos. Dennoch war die „Geistreise“, die Dennis gerade unternahm in gewisser Weise auch gefährlich, denn hielt sich der Geist, die Seele zu lange ausserhalb des Körpers auf, oder wurde dieser in der Zeit verletzt, konnte es passieren, dass die Seele die Rückkehr in den Körper verweigerte. Sollte das geschehen, würde der Junge wirklich sterben. Es blieb der jungen Ärztin nur zu hoffen, dass Dennis geistig stark genug war, diese Reise auszuhalten, und bei seinem Körper Wache zu halten. Das konnte, und das würde sie für ihn tun. Permanent ruhte ihr Blick jetzt auf ihm, und ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Jetzt würde der Junge sein Schicksal kennen lernen. Was alle ihm vorenthalten hatten, weil sie es entweder selbst nicht wussten, oder weil sie es sich nicht getrauten, würden die Zauberschwestern, die Eingeweihten weisen Frauen, ihm endlich enthüllen.
Sie trank einen weiteren Schluck Tee, ohne ihren Blick vom Körper des Jungen abzuwenden. Auch wenn der Junge noch lebte, körperlich lebte, das hieß seine Vitalfunktionen im grünen Bereich waren, kam sie sich wie bei einer Totenwache vor, denn vor ihr, das war ihr klar, lag nur eine seelenlose Hülle, ein einfach immer weiter schlagendes Herz in einem kindlichen Körper ohne Empfindungen. Sie drängte diesen Gedanken bei Seite, und versuchte, sich vorzustellen, was Dennis dort, wo sein Ich jetzt war, alles erlebte und zu hören bekam.
Sie legte sich neben ihn. „Ich passe auf dich auf!“, flüstere sie leise.
„Wohl an Schwestern, es geht los! Spüren kann ich Dennis‘ Gegenwart und Nähe!“, sagte die alte Frau mit einem leisen Lächeln. Ihre Schwestern nickten bestätigend. „Heute wird er erfahren was ihm bestimmt ist!“ „Wenn er bereit ist!“, warf eine der Schwestern ein. „Wäre er nicht bereit, dann hätte SIE ihn nicht zu uns geschickt!“, fegte die augenscheinliche „Anführerin“ des Trios den Einwand bei Seite. „Dann heissen wir als Freund ihn willkommen, und begrüßen wir ihn auf unsere Weise!“
Die Schwestern kicherten, und murmelten einige magische Worte. Eine grüne Rauchwolke quoll auf, und die Körper der magischen Geschwister flackerten kurz, wurden immer durchsichtiger, und verschmolzen schließlich vollends mit ihrer Umgebung, waren als Personen nicht mehr zu sehen.
„Ich passe auf dich auf!“ Dieser Satz, gesprochen von einer vertraut erscheinenden Stimme, dröhnte Dennis plötzlich in seinem Kopf.
Wo war er denn hier? Mitten im Wald! Überall lag Laub, und permanent rieselte weiteres von den vielen Bäumen, die hier standen. Er blickte sich um. Schön war es hier. Ein kleiner See war da, und Obstbäume standen lose angeordnet zwischen den Laub und Nadelbäumen. Plötzlich, einer inneren Eingebung folgend, schaute er an sich herab, und stellte fest, dass er keinen Körper mehr hatte. Zum minderst nicht im eigentlichen Sinne.
Er war durchsichtig, aber fühlte noch schwach, dass er körperlich war.
Es dauerte eine kleine Weile bis er begriff, dass er sich in dem Zustand befand, den man feinstofflich nennt. Mit anderen Worten: ein Geist! Diese Erkenntnis lies ihn schaudern. Doch dann bemerkte er das Haus, das im Wald stand. Trotz Feinstofflichkeit war er noch immer 11 Jahre alt, und ein gesunder 11jähriger interessierte sich natürlich für scheinbar einsame Häuser, die mitten im Wald herum standen. Er betrat es.
Schick gekleidet sassen Lady Macbeth und Steven Parker am Abend im Restaurant Botanika. Steven hatte dieses Restaurant ausgewählt, weil er die Atmosphäre hier liebte. Es war teils umzäunt, dennoch speiste man hier unter freiem Himmel. Und unzählige, teils auch recht exotische Pflanzen bildeten eine harmonische Dekoration.
Sie studierten die Speisekarte, und entschieden sich beide für Hummer.
Was die Kellnerin wenig später auf ihrem Notizblock vermerkte, und sich dezent wieder zurück zog.
Lady Macbeth blickte zu Boden, um nicht auf den Platz gegenüber schauen zu müssen, denn dort sass, bzw stand einmal mehr ihr Schatten.
„Also Liebling, was wolltest du mit mir besprechen?“, fragte Steven.
Die Lady schaute ihn kurz an, und sagte dann: „Dass wir in Kürze mal unser Haus verkaufen und in die alte Burg ziehen müssen. Wegen der Festspiele!“
Steven erstarrte. Genau das musste er verhindern! Wären sie erstmal auf der alten Burg, wäre er der Lady gänzlich ausgeliefert. Ohne Verbündete.
Er musste den Vorschlag abschmettern, ohne Verdacht zu erwecken.
„Lass uns heute Abend zu Hause nochmal darüber reden!“, sagte er, um Zeit zu gewinnen.
„Heute Abend zu Hause, hatte ich eigentlich was anderes mit dir vor!“, antwortete die Lady und grinste verführerisch. Steven drehte sich, leicht errötend ab, und das war das Glück der Lady, denn so konnte er ihr Gesicht nicht sehen, das sich kreideweiß verfärbte. Kaum hatte sie ihren letzten Satz nämlich gesagt, war das Geisterbild des Jungen geradezu turmhoch geschossen, und schien strafend auf sie herab zu blicken.
Sie schloss die Augen, und zitterte heftig am ganzen Körper.
Sie war dicht davor, die Nerven zu verlieren, als sie plötzlich spürte, dass irgend etwas, oder irgend jemand an ihrem Körper zog und zerrte.
Dennis blickte sich im Haus um. Es war spartanisch, aber nicht ungemütlich eingerichtet. Er war müde und hungrig, weshalb er, ganz in Gedanken auf einem der vier Stühle Platz nahm, die um den runden Holztisch herum standen. „Essen kommt gleich!“ Dennis zuckte zusammen! Wer hatte das gesagt? „Ist da wer?“, fragte er mit zitternder Stimme. Die Antwort waren unsichtbare Schritte, die durch das Haus eilten, und in Richtung des Kühlschranks gingen. Fasziniert beobachtete Dennis, wie sich der scheinbar von allein öffnete, und ein gefrorener Truthahn durch die Luft in Richtung Ofen zu schweben schien. Der sich wenig später auch von allein servierte.
Der Junge kicherte, schien hin und her gerissen zwischen Erschrecken und Vergnügen. Es wurde noch merkwürdiger. Ein Stuhl neben ihm wurde zur Seite gerückt, ein Teller schwebte nach oben, und scheinbar leere Luft begann, den Truthahn zu verspeisen.
Im nächsten Moment gab es eine rote Rauchwolke, die sich so schnell wieder verzog, wie sie gekommen war. Dafür konnte Dennis jetzt schemenhaft die Umrisse dreier alter Frauen erkennen.
„Schlag zu, Dennis! Du musst doch hungrig sein!“, sagte eine von ihnen.
Dennis der sich von dem anfänglichen Schrecken erholt hatte, grinste und tat wie ihm geheißen.
Nach dem Essen sagte eine der alten Damen: „Dein Schicksal zu erfahren ist der Grund, warum dich Dr Manson zu uns sandte.“ Dennis war froh, dass die Frau das Gespräch auf die Ärztin brachte. „Kann ich ihr vertrauen?“, fragte er, gerade heraus. Die Frau nickte. „Du musst ihr vertrauen. Sie liebt dich wie den Sohn, den sie unter ihrem Herzen trägt, und riskiert viel, damit du sicher bleibst! Sie ist deine mächtigste Verbündete, bis jetzt!“ „Wer seid ihr?“, fragte er.
„Oh, wir haben viele Namen. Die, die uns übel gesonnen heissen uns Hexen. Oder Schandweiber! Doch nennen andere uns Zauberschwestern oder auch Schicksalsschwestern. „Dann könnt ihr mir sagen, warum das alles?“ „Ja, das können wir! Doch bevor du das Wissen das du begehrst empfängst, reinige Körper und Geist an der Quelle, die wir beschützen. Komm mit!“
Wenig später standen Dennis, und die drei inzwischen erheblich besser zu erkennenden Frauen an der Quelle. „Jetzt nimm ein Bad!“, sagte eine der Schwestern in gebieterischem Ton.
Dennis, der plötzlich feststellte, dass er wieder körperlich war gehorchte, entkleidete sich und stieg in das heisse, dampfende Wasser.
Wohlige Entspannung breitete sich in seinem Körper aus, gefolgt von angenehmer Müdigkeit. Nach einer Weile sagten die Schwestern synchron: „Du bist jetzt gereinigt. Komm, und schaue, was du wissen willst!“
Dennis entstieg dem Wasser und begleitete die Schwestern bis kurz vor das Haus. Er sah, wie eine leuchtende, schimmernde Gestalt auf ihn zuging. „Das dort, Dennis ist dein Schicksal!“ „Meine Stiefmutter?“, fragte er verwirrt. „Nein!“ Die Schwestern widersprachen. „Sie hört auf den Namen: Lady Macbeth!“ Der Junge zitterte.
Turmhoch schien die Gestalt der Lady plötzlich zu sein, und blickte feindselig auf ihn herab, ging weiter auf ihn zu. „Hab keine Angst! Wir sind hier auf einer Ebene, auf der sie dir nichts anhaben kann. Doch irgendwann wirst du dich, nachdem du ausgebildet worden bist, ihr, und vor allem ihrem Mann, den wiederzuerwecken sie sucht, stellen müssen. Es ist dir, der du ein Nachkomme MacDuffs bist bestimmt, mit dem legendären Schwert deines Vorfahren, dem Macbeth sein Ende zu bereiten. Die Lady stand jetzt direkt vor Dennis, und blickte ihm in die Augen. Dennis, flankiert von den drei inzwischen wieder völlig sichtbaren Schwestern, starrte sie an.
Plötzlich veränderten sich die geisterhaften Konturen der Lady. Ein orangefarbenes Leuchten hüllte ihren Körper ein.
Entsetzt schrie einer der Schwestern: „Sie versucht, Gestalt an zu nehmen! Sie versucht sich zu materialisieren! Tut was!“
In Dr. Francine Mansons Kopf hallte Dennis‘ gellender Hilfeschrei laut wider. In Panik starrte sie auf den Körper des Jungen, der jetzt wild zuckte, und stellte fest, dass sein Herz raste, und sein Brustkorb sich beängstigend schnell hob und senkte.
Irgend etwas ging da drüben, im Zauberreich der Zauberschwestern, fürchterlich schief!