Als Ausdruck ihres Entsetzens fuhr sich Jessica über ihre blau geschminkten Lippen, obwohl diese doch ein Zeichen der Rebellion waren – gegen was auch immer sie sich gerade wieder aufbegehrte. Aber so war Jessica. Während ich mich in lange, bunte Röcke einwickelte und versuchte, ein guter Mensch zu sein, indem ich jeden Tag einen unimportierten Apfel ass und an Horoskope glaubte, sah sie es als ihre Aufgabe, sich für ihre Rechte einzusetzen. Das bedeutete, dass sie gegen alles war, was immer jemand sagte.
«Lilly», sagte sie ruhig und kramte in der Tasche nach ihrem blauen Lippenstift, um die verschmierte Schminke zu korrigieren. «Du bist dir tatsächlich sicher, dass du dort teilnehmen willst? Es ist eine Schulveranstaltung.»
Aus ihrem Mund hörte es sich wie etwas Schlechtes an, was es wohl auch war. Ich meine, da sagt einem die Schulleitung, man solle sich in die Aula setzen und zuhören und eventuell mal klatschten und höflich tun. Eine Zumutung!
«Ich verstehe dich nicht», seufzte sie noch, als ich nicht reagierte und nur blöd vor mich hingrinste. Offenbar war nicht nur die Schulveranstaltung, sondern auch ich eine schlimme Plage.
Ich wog den Kopf hin und her, was keine so gute Idee war, weil sich nämlich eine blonde Strähne aus meinem Zopf löste. «Tja, ich muss halt», versuchte ich mich zu verteidigen. «Der Direktor hat es selbst gesagt.»
«Du musst?» Jessicas Stimme glich dem unangenehmen Quietschen der Schaukel, die in meiner frühsten Kindheit, als ich noch jung und schön war, in unserem Garten gestanden hatte. Bis mein Vater sie demontierte. Unverzeihlich.
«Was soll denn das heissen?», mischte sich Adrian ein.
«Was?», gab Saskia als Letzte unserer netten kleinen Zusammenkunft noch kurz und bündig wie immer ihren Senf dazu.
«Was was?», brummte ich. «Er hat’s ja nicht so direkt zu mir gesagt… sondern allen… Na ja, er hat es eher geschrieben. Auf die Anzeigetafel.»
Saskia unterbrach kurz das Glattstreichen ihres violetten Kleides und zitierte: «‹Alle Kunstschüler und Kunstschülerinnen und Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kunstwettbewerbes und der Kunstwettbewerbin› – ach nein, so hiess es nicht – ‹Perlen der Natur sind verpflichtet, an der Siegerehrung heute Nachmittag in der Aula teilzunehmen. Es sind aber auch alle anderen herzlich eingeladen.› Pöh, wahrscheinlich haben zu wenige mitgemacht, um eine ganze Aula zu füllen.»
«Na, Kunstschülerin bist du auf alle Fälle nicht», stellte Adrian scharfsinnig fest.
Ich fragte mich, ob ich das als eine Anspielung auf meine ausgeprägten zeichnerischen Künste werten sollte, entschied mich aber dagegen.
«Nein, bin ich nicht», bestätigte ich, «aber ich habe am Kunstwettbewerb teilgenommen.» Erwartungsvoll sah ich in die Runde, erhoffte aber keine allzu, sagen wir mal, positive Reaktion.
«Was? Du? Du hast denen etwas gemalt?», fragte Jessica ungläubig. «Echt ein Bild mit Farben und so?»
Sollte ich nun beleidigt sein? Vielleicht war ich unbegabt, aber irgendein Bild zustande zu bringen, dazu sollte sogar ich fähig sein. Meinte ich zumindest.
«Oh Gott, das glaube ich nicht! Eigentlich wollte ich ja nach Hause, aber falls Lilly etwas gewinnt…», rief Adrian, was ich nett von ihm fand. Immerhin schloss er die Möglichkeit eines Gewinnes nicht aus.
«Das wird schon nicht passieren», beruhigte ich ihn dennoch, man soll ja auf dem Teppich bleiben.
«Vielleicht ja doch! Vielleicht bist du ja so ein Talent, wir haben es bloss noch nicht bemerkt, weil du… ähm… halt… kein Aufsehen erregen wolltest», argumentierte er etwas schwach.
«Klar», erwiderte ich. «Ich habe in Bildnerisches Gestalten extra Strichmännchen gezeichnet und schlechte Noten kassiert. Nur damit ich nicht auffalle.»
Adrian grinste.
«Okay. Aber so ohne Vorschriften für dich alleine – könnte ja sein. Und so schlecht kann das Bild ja nicht sein, sonst hättest du es ja nicht eingeschickt.»
«Na ja… Kann schon sein.» Ich suchte krampfhaft nach einem Grund, das Thema zu wechseln. «Findet ihr nicht auch, dass die Bäume… heute so grün sind?»
«Ja, echt unglaublich», bestätigte Adrian augenverdrehend. «Wer hätte das bloss gedacht.»
«Eben, ja doch», sagte ich so halb (so halb, ja, ihr wisst schon, so halb irgendwie).
«Hey, es fängt gleich an! Jetzt bewegt eure Ärsche, sonst kommen wir zu spät!», unterbrach Jessica die geistreiche Unterhaltung. Ich schüttelte den Kopf (wobei sich noch mehr Strähnen lösten). Das Mädchen verwunderte mich immer wieder. Woher nur kam dieser plötzliche Eifer?
«Zuhinterst! Zuhinterst, Mann», wies sie mich aber trotzdem flüsternd zurecht, als ich mich in die zweite oder dritte Reihe setzen wollte.
«Warum befiehlst eigentlich du immer, was wir zu tun und lassen haben?», beschwerte ich mich. «Immerhin ist es mein Wettbewerb.»
«Und wir begleiten dich, obwohl wir überhaupt keine Lust dazu haben. Eigentlich könnte ich jetzt schon in unserem Pool ein paar Runden drehen, wenn du nicht wärst.»
«Klar, weil ihr ja einen Pool habt. Mal abgesehen davon, dass ich nicht gesagt habe, dass du bleiben sollst. Und wenn die Lüthy wieder so schwitzt, hast du dein privates Schwimmbad auch hier drin.»
«Was, die Lüthy kommt auch?» Jessica war schon im Begriff, wieder umzukehren.
«Äh, ja? Sie ist sozusagen die Chefin der Zeichnungslehrer. Wer soll denn hier sein, wenn nicht sie?»
«Oh. Mein. Gott», stöhnte Jessica und liess sich theatralisch auf einen Platz in der hintersten fallen. Offenbar hatte sie zu viele amerikanische Serien gesehen. Oder warum sonst sollte sich jemand theatralisch auf irgendeinen Sitz niederlassen?
«Psst!», begann es plötzlich überall im Saal zu flüstern. Ich wunderte mich, schliesslich hatte – ungewöhnlich für uns pubertierende Teenager – kaum jemand ein Wort gesagt. Aber anscheinend war das die Art, seinen Respekt gegenüber dem Höchsten, dem Wunderbarsten, dem Unfehlbarsten, auszudrücken: unserem Direktor.
Der Herr Direktor trat nämlich angemessenen Schrittes auf die Bühne, auf der schon ein Rednerpult und einige Staffeleien standen. Ich vermutete, dass das die Bilder der (mehr oder weniger) glücklichen Gewinner waren. Wie unlustig, denn so wussten die Sieger ja von Anfang an, dass es sie getroffen hat! Aber vielleicht wollte man ihnen auch noch die Gelegenheit geben, in letzter Sekunde eine Sieges- und Ich-bin-ja-so-überrascht-und-hätte-nie-damit-gerechnet-und-danke-allen-die-mir-geholfen-haben-Rede vorzubereiten.
«Ist deins dabei?», fragte Adrian und deutete auf die Bilder.
Ich kniff die Augen zusammen, aber von hier hinten konnte ich es nicht so recht erkennen. «Keine Ahnung. Ich glaube eher nicht.»
«Tja, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lehrerinnen und Lehrer und natürlich vor allem liebe Künstlerinnen und Künstler. Vielen Dank, dass ihr alle den Weg hierher gefunden habt. Es ist eine wahre Freude, euch alle im Rahmen eines so grossen Ereignisses begrüssen zu dürfen.»
Ich bemühte mich um ein ernstes Gesicht, obwohl er mich so weit hinten sicher ohnehin nicht sehen konnte. Aber dafür, dass es ein «so grosses Ereignis» war, war die Aula relativ schlecht gefüllt.
«Lange haben wir gezögert. Wir waren uns nicht sicher, ob wir den Wettbewerb tatsächlich starten lassen wollen. Mangelndes Interesse, Faulheit, äh…» Wahrscheinlich fiel ihm nichts mehr ein. «Jedenfalls, ich war mehr als nur skeptisch. Umso mehr hat es Frau Lüthy, die Jurorin, und mich gefreut, dass so viele daran teilgenommen haben.
Es war uns sehr wichtig, dass…»
Ich stöhnte auf. Wie lange noch? Wie lange kann ein Mensch eine Rede halten, ohne umzukippen?
Immerhin muss man hin und wieder etwas trinken. Aber leider hatte Herr Vonlanthen eine Wasserflasche neben sich stehen. Konnte ich ihn ertragen, bis er verhungerte?
Frau Lüthy, die auch irgendwo im Publikum sass (um die Aula etwas voller scheinen zu lassen vielleicht), machte ihm die ganze Zeit unauffällige Zeichen, er solle mal zum Punkt kommen, die alle bemerkten. Nur Herr Vonlanthen nicht.
«Es ist wichtig, ach, so wichtig…»
«…dass die Teilnehmer endlich erfahren, wer gewonnen hat!», unterbrach sie ihn schliesslich. Das war zwar kein besonders logisches Argument, weil man es sich ja schon wegen der Staffeleien auf der Bühne denken konnte, aber sie kletterte dennoch einige Plätze auf Jessicas Beliebtheitsliste nach oben.
Sie schob mühsam eine Staffelei neben das Pult.
«So, der Direktor Friedrich Vonlanthen hat euch viel darüber erzählt, wie wichtig das für den schulischen Sozialismus ist», sagte sie und ihre Stimme klang nach Vonlanthens monotonem Gerede ziemlich angenehm. «Ich sage euch jetzt, welche vier einen kleinen Preis gewonnen haben – und wer mit seiner Arbeit einen ganz grossen Gewinn abgestaubt hat.
Als ich die Bilder gesehen hatte, dachte ich nur: ‹Wow, unsere Schüler haben es ja echt drauf!›» Ich hasste es zwar, wenn erwachsene Menschen einen auf locker-spritzig machten, aber immerhin gab sie sich Mühe.
«Jeder einzelne Teilnehmer hat ein Kunstwerk geschaffen. Und die Bilder, die hinter mir auf der Bühne stehen, gehören den Siegern! Zum Beispiel Vincent N’Dour – komm doch bitte nach vorne und erzähl uns, wie es zu diesem Bild gekommen ist.»
Mir fiel der Kinnladen runter. Nicht im Ernst mussten wir jetzt fünf eingebildeten «Künstlern» zuhören, wie sie die Farbe von diesem Fleckchen links unten gemischt hatten?
Vincent ging tatsächlich nach vorne, behauptete, nie mit einem Sieg gerechnet zu haben, und begann lang und breit zu erklären, wie ihn die Blume in seinem Matheklassenzimmer und das «Licht der Nacht» (was immer das sein sollte) zu diesem wahren Meisterwerk inspiriert habe. Er habe viele Stunden daran gearbeitet und wolle umgehend betonen, dass seine Grossmutter ihm den Tipp gegeben habe, doch Zeitungspapier als Unterlage zu benutzen, um nicht so viel Zeit mit dem Bodenputzen zu verschwenden.
Und so kam ein Gewinner nach dem anderen auf die Bühne, hielt einen Vortrag, holte den Preis ab, dankte artig allen, die ihm geholfen haben und lächelte bescheiden.
Die Zeit rann davon wie das Wasser in der Dachrinne ins Regenfass (wenn man denn den Regen in einem Fass sammelt, wie mein Grosspapa das tut).
Doch schliesslich hatte auch die vierte talentierte Künstlerin ein letztes Mal bescheiden ins Publikum gesehen und Frau Lüthy trat freudestrahlend nochmals selbst ans Rednerpult.
«Und jetzt seid ihr sicher gespannt, wer das letzte, das unserer Meinung nach beste Bild gemalt hat. Nun, ich will euch nicht länger auf die Folter spannen.»
Sie schob die letzte Staffelei nach vorne.
«Das ist es: ‹Die Buche› von Liliana Moor!»
Ich klatschte und tat ganz begeistert. Wie beeindruckend von dieser Liliana Moor!
Bis mich Jessica anstiess. «Lilly, du musst nach vorne!»
Da fiel mir schlagartig wieder ein: Liliana Moor, das bin ja ich!
Ich hatte den «Wettbewerb für begabte Künstlerinnen und Künstler der Bernoulli-Schule» gewonnen! Fast in Trance stieg ich zur Bühne hinauf. Es half mir auch nicht, dass Frau Lüthy zur Überbrückung der langen Wartezeit, weil ich ja so unsagbar langsam war, «Liliana kann uns sicher viel über dieses Bild berichten, schon nur wie es zu diesem erstaunlichen Namen kam» sagte.
«Wie? Ein erstaunlicher Name? Wieso denn das?», wollte ich verständnislos wissen. «Die Buche» – so spannend klang das nicht.
«Nun ja, immerhin ist dieser Baum im Vordergrund ja keine Buche», rechtfertigte sich Frau Lüthy.
Ups. Verlegen setzte ich ein dümmliches Dauergrinsen auf und tat so, als ob ich das Mikrophon für meine Grösse einstellte, weil das sicher sehr professionell ausgesehen hätte, wenn ich nicht aus Versehen eine Schraube lockerte, sodass das blöde Mikro anfangs gen Boden sackte.
Dann räusperte ich mich (auch sehr professionell!) und begann zu improvisieren. «Äh, also, ja», teilte ich meinen Zuhörern mit. «Mh-hm. Ja. Also. Was ich sagen wollte… äh… ja. Ich hätte nie damit gerechnet, dass ausgerechnet ich etwas gewinne. Und schon gar nicht den ersten Platz.» Ich schluckte. Okay. Ich war also auch eine von denen. «Der Name… der Name…» Was um Himmelswillen soll schon mit dem Namen sein? Ich bin schlecht in Bio, das ist alles. «Natürlich… ist der Baum da im Vordergrund keine Buche», wiederholte ich vorsichtshalber Frau Lüthys Worte.
Diese nickte bekräftigend. «Man sieht sofort, dass es eine Birke sein muss», sagte sie leise.
Ich beschloss, sie ab sofort toll zu finden. Auch wenn es schwer fiel.
«Es ist natürlich eine Birke», sagte ich und hoffte, Frau Lüthy irrte sich nicht. «Aber wer sagt denn, dass man einer Birke unbedingt ‹Birke› sagen muss? Wenn ich sie ‹Buche› nennen will, nenne ich sie ‹Buche›. Das ist das, was ich unter künstlerischer Freiheit verstehe. Und deshalb habe ich sie so genannt.» Jetzt kam ich so richtig in Fahrt. Ich fand mein Argument toll. «Und meine Grossmutter hat…» Fieberhaft suchte ich nach einem Rat, den mir meine Grossmutter hätte geben können, denn bisher hatten alle ihre Grossmütter in irgendeiner Form erwähnt.
«Nun, meine Grossmutter war halt immer für mich da. Als ich das erste Grundkonzept fertig hatte, bemerkte ich einen Fehler und wollte schon wieder von vorne anfangen, und da gab sie mir den entscheidenden Hinweis.»
«Nämlich?», wollte Frau Lüthy wissen.
«Äh…» Jetzt hatte sie mich endgültig aus der Fassung gebracht. «Sie sagte… Sie sagte, ich solle das Bild doch einfach… umdrehen.»
«Umdrehen?» Damit hatte Frau Lüthy wohl nicht gerechnet. Und im Nachhinein musste ich zugeben, dass es sich nicht so wirklich glaubhaft anhörte.
«Ja, und es hat wieder prima gestimmt.» Ich schenkte dem Publikum, das erschreckenderweise – von ein paar Ausnahmen mal abgesehen – aufmerksam zuhörte, ein bezauberndes Lächeln, damit sie glaubten, ich sei nett. Mich schauderte. Bei Referaten und ähnlichem in der Schule tröstete ich mich wenigstens mit dem Gedanken, dass die meisten ohnehin heimlich Musik hörten und nichts von alldem verstanden, was ich ihnen vortrug. Aber jetzt hatte die ganze Schule – na ja, ein Teil der Schule, ein kleiner Teil – gehört, was ich für einen unerträglichen Unsinn verzapft hatte.
«Na ja, das war es denn wohl. Vielen Dank, dass ihr zugehört habt», endete ich angesichts dieser Tatsachen ziemlich kleinlaut und wollte schon von der Bühne verschwinden.
«Warte, Liliana!», hielt mich der Direktor auf. «Hier bekommst du noch deinen Preis.» Er lächelte, wohl aus dem gleichen Grund wie ich vorhin.
«Oh, äh, danke. Das wäre doch nicht nötig…» Ich brach ab, als mir einfiel, dass es ja mein Gewinn war und man diesen Satz bei Gewinnen grundsätzlich nicht sagt. «Ja, vielen Dank auch.»
Und schon war ich von der Bühne verschwunden. Schnell weg von hier! Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Sämtliche Mitstreiter kamen vorbei, um mir zu gratulieren. Sie schienen nicht einmal neidisch zu sein, was mich sehr verwunderte, schliesslich hatten die diesen Wettbewerb ernst genommen.
Und, glaubt mir, es können noch so wenige Schüler zu dieser Veranstaltung gekommen sein, aber wenn jeder Einzelne einem von seinen persönlichen Erfahrungen im Bildumdrehen berichtet und einen fragt, ob man sich denn über den ersten Platz freue, kann es ganz schön lange dauern.
Mal abgesehen davon, dass ich log, wenn ich die letzte Frage mit «Ja» beantwortete.
Denn nicht ich hatte das Bild gemalt.