Teil 33 - Zu viel Harmonie
Kevin
Beinahe jeden Tag um 19 Uhr passiert die gleiche Scheisse. Mama oder Papa rufen zum Abendessen.
Was wir serviert bekommen? Schmackhafte Gerichte auf Sterneniveau von Papa. Darüber will ich mich gar nicht beklagen, aber es muss natürlich auch immer total gesund, nahrhaft und was weiss ich alles sein. Eine Cola für uns Kids? Viel zu ungesund.
Was während den Abendessen besprochen wird? Das neuste vom Tag. Die vielen tollen Erlebnisse. Wie grossartig die Schule ist, wie viel Spass der Unterricht macht, wie gut Johannas Noten sind. Ätzend.
Was ich dazu sage? Nichts. Oder dasselbe. Damit sie nicht weitere Fragen stellen. Gar nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn sie von meinem Fünferschnitt erfahren würden.
Also esse ich jeden Abend brav mit. Gebe ihnen zu hören, was sie hören wollen und lausche dann den Geschichten meiner Schwestern und lasse Mamas und Papas stolze Kommentare über mich ergehen.
Wie gut, dass ich selbst ein guter Schauspieler bin. Bisher haben sie selten Verdacht an meinen erfunden Geschichten geschöpft. Und wenn doch, fand ich noch immer eine Ausrede. Aber mit jedem Tag fällt es mir schwerer.
Vor ein paar Tagen kam nach dem Abendessen Papa in mein Zimmer und wollte wissen, was mit mir los ist.
"Nichts", antwortete ich kurz und knapp. Aber er bohrte weiter nach.
So lange, bis ich mich nicht mehr beherrschen konnte.
"Verpiss dich aus meinem Zimmer und lasst mich einfach in Ruhe! Dann geht es mir schon viel besser!"
Als Reaktion bekam ich Unverständnis. Wieso verstehen sie nicht, dass ich einfach nur meine Ruhe haben will?
Für meinen kleinen Ausraster bekam ich zusätzlich Hausarrest. Wow.
Er konnte mich mal! Wer war er schon? Wer waren sie alle schon, dass sie mich so behandeln konnten?
Ich legte mich hin und konnte mir gerade noch so ein paar Tränen verkneifen. Aber den Gefallen tat ich ihnen bestimmt nicht.
Ausserdem konnte es ihnen so oder so egal sein, was mit mir geschah oder noch geschehen würde.
Hauptsache sie waren stolz auf Kara, die schon ihr fünftes Abzeichen im Pfadfinder-Verein bekommen hatte und
so süüüüss in ihrer Uniform aussah.
Oder Johanna, die ständig nur Einsen und Zweier schreibt, die einen tollen grünen Daumen hat und die jeder so gerne mag, weil sie immer fröhlich ist.
Am selben Abend hatte Jerry Geburtstag. Ich hörte von draussen, wie Mama mit ihm spielte und ihm Geburtstagsleckerli gab.
Ich mag den kleinen Kerl wirklich gern und hätte ihm auch gerne einen von den Keksen gegeben, die er so mochte.
Aber ich konnte einfach nicht mehr.
Als ich dann noch Mama hörte, wie sie mit dieser ätzenden Babystimme mit der Katze sprach und sie wahrscheinlich zu Tode kuschelte, war es ganz vorbei. Ich musste hier raus. Sofort!
Also schlich ich mich davon. Immerhin war ein Zimmer direkt neben dem Hauseingang für sowas ziemlich praktisch.
Ich fuhr ins Jugendzentrum und traf Arjun, mit dem ich in eine Klasse ging.
Wir spielten eine Runde am Spielautomaten. Ich verlor, weil an meinem Platz irgendeine beschissene Taste geklemmt hatte. Also schlug ich mit dem Fuss gegen diesen sowieso schon kaputten Automaten.
Das führte Arjun dazu, mich zu fragen, was mit mir los sei. Es scheint die beliebteste Frage der Welt zu sein.
Ich erzählte ihm von meiner tollen Familie, aber es interessierte ihn nur mässig.
Stattdessen bot er mir an, mit zu ihm zu kommen, um ein wenig Wasserpfeife zu rauchen. Er sagte, er könne auch beruhigende Mittel reinmischen.
Ich lehnte ab. Mit Drogen wollte ich nichts zu tun haben.
Weil nichts los war und ich keine Lust hatte, neue Leute kennen zu lernen, ging ich wieder nach Hause. Auf dem Weg nach Hause holte ich mir einen Burger, den ich in meinem Zimmer genüsslich ass.
Es war herrlich, etwas essen zu können, auf das man Lust hatte und nicht essen musste, weil es gesund war.
An einem Wochenende ein paar Tage später, ging ich kurz vor Mittag wieder zu diesem Burgerladen. Mama hatte Salat gemacht, den Johanna angebaut hatte. Wahrscheinlich war es der beste Salat, den alle je gegessen hatten.
Als ich mit meiner Junkfoodtüte zurück kam, waren alle andern zum Glück schon fertig. Also setzte ich mich alleine an den Tisch und ass meinen Burger.
Es dauerte auch gar nicht lange, bis Mama sich zu mir setzte und mir die allseits beliebte Frage stellte: "Kevin, was ist los mit dir?"
Meine Antwort lautete: "Nichts."
Ganz vorbei war es, als sie mich fragte: "Willst du dich jetzt nur noch von Burgern ernähren?"
Warum. Muss. Sie. Das. Interessieren?
"Lass mich doch essen, was ich essen will. Ich sage auch nichts, wenn ihr nur Johannas scheiss Gartensalat fresst!"
Wütend schob ich den Teller in die Mitte, sprang von meinem Stuhl hoch und ging auf mein Zimmer. Natürlich warf ich die Tür so laut wie möglich ins Schloss. Sollen sie doch merken, dass sie mit mir nicht machen können, was sie wollen!
Doch nur wenig später kam Johanna herein. Und was wollte sie von mir wissen?
"Sag mal, was ist los mit dir?" Ich kanns nicht mehr hören!
"Was ist dein Problem? Warum springst du mit Mama so um? Was hat sie dir getan?"
Ich wusste echt nicht mehr, was ich sagen sollte. Hatte in dieser Familie niemand auch nur ein Mindestmass an Verständnis für Privatsphäre? Wirklich niemand?
"Lasst mich einfach in Ruhe! So schwer ist das doch nicht! Und verschwinde aus meinem Zimmer!"
Weil sie nicht rausgehen wollte, tat ich es. Papa hatte zwar den Hausarrest noch nicht aufgehoben, aber er war sowieso nicht da.
Also verschwand ich. Die Eingangstür schlug ich genauso schwungvoll zu wie die Vorherige.
Ich ging zum Park. Und kaum war ich angekommen, ergossen sich alle Wolken über mir.
"GROSSARTIG! DANKE! IST DENN DAS GANZE BESCHEISSENE UNIVERSUM GEGEN MICH?"
Ich stellte mich an einer Bushaltestelle unter und wartete, bis der Platzregen nachgelassen hatte.
Dort traf ich dann auf Even.
Endlich ein vertrautes Gesicht, mit dem ich was anfangen konnte.
Er erzählte mir, er sei auf dem Weg zum Boxen und lud mich ein, mitzukommen.
Meine ganze aufgestaute Wut entlud sich am Boxsack. Even warnte mich, ich solle es ein weniger ruhiger angehen, aber ich konnte nicht.
Ich erzählte ihm von meiner Familie, dem Bedrängnis, das ich empfand und verprügelte den Boxsack ohne Gnade.
Erst als alle negative Energie aus dem Körper gewichen war, wurde ich etwas ruhiger.
"Geht es dir jetzt etwas besser?", fragte mich Even.
"Ja", antwortete ich. Es ging mir um einiges besser. "Danke für deine Einladung. Das sollten wir öfters machen."
Er stimmte mir zu. Und weil doch noch etwas Energie übrig war, machten wir uns auf den Weg zum Basketballplatz.
Alles war besser, als zurück zu meiner Familie zu gehen.