X
Es schien wie ein Traum. Nicht nur, weil die Farben merkwürdig blass waren, und alles so aussah, als würde es leicht glitzern, sondern auch, weil sie sich nicht erinnern konnte, wieso und warum und
wann sie an den Südstrand gefahren war, und warum Jasper und Romeo zu ihren Seiten saßen.
Sie blickte sich um, sah Jasper – er wirkte viel älter, reifer und fröhlicher als sonst – an ihrer Linken sitzen; seine Hand lag über ihrer auf ihrem Oberschenkel und streichelte sie vorsichtig. Er lächelte. Ihr Magen drehte sich.
Zu ihrer Rechten saß Romeo, lässig und wunderschön wie immer, und er berührte sie nur ganz unauffällig; sein kleiner Finger zeichnete kleine Kreise auf ihrem Bein. Wie war das noch gleich?
Wackelpudding in den Beinen, Rosinen im Kopf…?
Keiner von Beiden sprach; sie schienen äußerst beschäftigt damit zu sein, Victoria aus der Fassung zu bringen. Sie blickte zum Wasser, von dem ein wunderschöner Glanz ausging und dann fiel ihr die Sandburg auf. Die Sandburg stand direkt am Wasser, hielt den Wellen stand, die gegen sie klatschten.
„Was ist mit der Sandburg?“ fragte sie, ihre Stimme klang merkwürdig fremd und hohl.
„Die Sandburg“, sagte Romeo.
„Die Sandburg“, lachte Jasper in sich hinein.
„Was ist nun mit ihr?“ hakte Victoria nach und die beiden Jungs zogen ihre Hände von ihrem Körper. Kaum hatten sie das getan, fühlte sie eine merkwürdige Leere in sich, ihr Herz fing an zu rasen und die Sandburg, die vorher so standfest gewesen war, wurde vom Wasser überrascht; der Hof lief mit Wasser voll und sie stürzte zusammen.
Victoria sprang auf, lief zum Wasser und weinte, obwohl keine einzige Träne an ihrer Wange runter lief. „Nein! Nein! Nein! Nein!“
Sie versuchte das Wasser mit ihren Händen von der Sandburg – oder eher von dem Stück Matsch, das von ihr übrig geblieben war – fernzuhalten, doch es gelang ihr nicht.
„Nein“, flüsterte sie, und weinte immer noch, obwohl sie nicht so recht wusste, warum, „Nein, nein, nein, nein, nein.“
Plötzlich stand Jasper hinter ihr und zog sie auf die Beine. „Lass gut sein, Vicks“, flüsterte er.
„Aber die Sandburg!“ schrie sie verzweifelt, „die Sandburg – sie ist kaputt!“
„Vicks“, sagte nun Romeos ruhige Stimme, er stand auch an ihrer Seite, „du kannst nichts mehr für die Sandburg tun.“
„Was soll ich machen? Soll ich zu sehen, wie
sie kaputt geht?“ Sie blickte erst zu Jasper, dann zu Romeo, die einen flüchtigen Blick austauschten. „Eben stand sie noch da – seelenruhig und hat den Wellen stand gehalten, und jetzt—“ Der Haufen Matsch vor ihren Füßen fühlte sich klebrig an.
„Zeig’s ihr“, sagte Romeo zu Jasper, der vorsichtig nickte.
„Jazz? Was sollst du mir zeigen?“
Ohne eine Antwort zu geben zog Jasper sie an sich und drückte seine Lippen auf ihre.
Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich
zu gut an. So leidenschaftlich, so feurig, und doch so unschuldig. Jasper war ein zärtlicher Küsser, bedacht, sie nicht irgendwie zu verletzen oder zu drängen.
Ihre Zungen vereinten sich zu einem langsamen Tanz, und es war so einfach,
so was von einfach.
Als sie sich voneinander lösten, starrte sie fassungslos in seine Augen. „Wow“, machte sie.
Er lächelte.
Dann spürte sie etwas Ungewohntes an ihren Füßen und sie blickte runter. Die Sandburg stand wieder – halbwegs.
Sie blickte wieder zu Jasper. „Ich liebe dich, Jazz.“
Er lächelte erneut, diesmal ein etwas Breiteres. „Ich liebe dich auch.“
Fast automatisch drehte sie sich zu Romeo, der hinter ihnen stand und das Schauspiel mit zusammengezogenen Brauen beobachtet hatte. Kaum hatte sie sich zu ihm gewandt, da verdunkelte sich der Himmel.
Warum sollte sie sich entscheiden? Warum
musste sie sich entscheiden? Konnte sie nicht einfach beides haben – Lust
und Liebe, Tag
und Nacht, Schwarz
und Weiß, Feuer
und Wasser?
Konnte sie nicht einfach
Beide haben?
Ihre Lippen vereinten sich auch zu einem Kuss, einem viel, viel lustvollen und gierigerem Kuss. Seine Fingernägel in ihre Hüfte bohrend, zog er sie näher an sich.
Sie zog die Lippen kurz weg, weil sie etwas sagen wollte, etwas sagen
musste. „Dich liebe ich auch“, hauchte sie.
„Hat ja ziemlich lange gebraucht, bis du das endlich gemerkt hast.“ Er lachte in sich hinein und drückte seine Lippen erneut auf ihre.
Die Sandburg hinter ihnen stand wieder, genau so stark, genau so standhaft wie vorher…
Victoria schreckte hoch und setzte sich senkrecht im Bett auf, atmete tief ein und aus. Das Zwitschern der Vögel draußen und ein Blick auf die Uhr, verriet ihr, dass wohl der schlimmste Tag ihres Lebens immer noch nicht vorbei war.
Sie war heute Morgen nach Hause gekommen, komplett aufgelöst, mit verweinten Augen und Gwyneth hatte sie fassungslos angestarrt.
„Victoria? Was ist passiert? Was ist los?“ Sie hatte alarmiert geklungen, ihre Nichte auf das Sofa im Wohnzimmer gedrückt und ihr besorgt übers Gesicht gestrichen. „Victoria, rede mit mir!“
Victoria wollte antworten, wirklich, doch stattdessen hatte sie erneut angefangen zu weinen, hatte ihr Gesicht gegen die Brust ihrer Tante gepresst und noch mehr geweint.
„Victoria, rede mit mir, bitte.“ Tantchen Gwyneth hatte ebenfalls angefangen zu weinen, weil sie nicht wusste, was ihrer Nichte soviel Kummer bereitete.
„Es tut so weh“, hatte Victoria geantwortet, „alles tut so weh.“
Gwyneth hatte sie unter die Dusche gestellt, ihr Beruhigungstabletten gegeben und sie dann ins Bett verfrachtet, damit sie ausschlafen konnte.
Victoria rutschte vom Bett runter und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Herz schmerzte immer noch. Vor ihrem geistigen Auge blitzen vereinzelnd Bilder von der gestrigen Nacht auf, vermischt mit Bildern von Jaspers Wut, seinem blanken Hass, seiner eiskalten Worte, die sie mitten im Herzen getroffen hatten…
Sie schaute in den Spiegel und ein rothaariges, blasses Mädchen mit verweinten Augen blickte traurig zurück. „Schau nicht so“, fauchte sie ihr Spiegelbild an, „du bist selber Schuld dran. Eiskaltes, gefühlsloses Miststück.“
Sie spuckte den Spiegel an und sah zu, wie es runter lief.
Victoria sah keinen Sinn darin, noch länger als nötig in ihrem Zimmer zu verweilen. Die Wände, vollgeklebt mit Postern, schienen immer näher zu rücken. Die Luft war stickig.
Vielleicht sollte sie einfach zu Hannah fahren und mit ihr gemeinsam Wiederholungen von
South Park oder
Family Guy anschauen – auch wenn das heißen würde, dass Hannah sie wegen gestern Nacht ausquetschen würde, sie dazu zwingen würde, jedes einzelne Detail zu erzählen, jede einzelne Berührung genau zu beschreiben, jedes einzelne Gefühl, jeden einzelnen Kuss, jeden einzelnen Stoß…
Victorias Mundwinkel zuckten kurz bei der Erinnerung auf, als sie an ihrer Gitarre, die Syd und Craig letzte Woche vorbeigebracht hatten, vorbeiging und die Tür öffnete.
Kaum hatte sie die Tür geöffnet, trat sie automatisch einen Schritt zurück, starrte perplex die Person an, die vor ihr stand. Nun, zugegeben, ihn hatte sie hier nicht erwartet – aber nicht, dass sie nicht froh darüber war. Im Gegenteil, sie fühlte ein angenehmes, warmes Gefühl in ihrem Magen und lächelte von einem Ohr zum Anderen. „Jazz!“
„Hey Vicks“, sagte er leise. „Deine Tante hat mich angerufen.“
Er war also nicht von alleine hergekommen. War das nicht offensichtlich? Was hatte sie denn erwartet? Dass er nach den Worten, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, freiwillig zu ihr kommen würde?
„Ach so“, sagte sie.
„Dir geht es nicht gut?“
Sie zuckte mit den Schultern.
Er zögerte. „Das wird schon wieder.“
„Jazz, es tut mir so Leid“, stieß sie hervor, trat einen Schritt nach vorne und wollte die Arme um seinen Hals werfen und ihn umarmen, doch er drückte sie von sich.
„Lass gut sein, Vicks, bitte“, brummte er, eine Hand fest auf ihrer Schulter, die andere an seine Stirn gepresst. „Es ist nicht alles gegessen, nur weil ich auf das Bitten deiner Tante hier aufgekreuzt bin.“
Sie schwieg und biss sich auf die Unterlippe.
„Und ich weiß selber nicht, wieso ich überhaupt eingewilligt habe“, Jasper seufzte, „Nachdem du mir oft genug weisgemacht hast, dass du mich hasst.“
„Ich hasse dich nicht.“
Skepsis lag in seinem Blick und er zuckte nur unwirsch die Schultern. „Wollen wir Playstation spielen? Ich hab’ dein Lieblingsspiel mitgebracht,
Little Big Adventure.“
Wieso tat er das? Wenn er doch so sehr davon überzeugt war, dass sie ihn hasste, wieso verbrachte er dann trotzdem Zeit mit ihr, versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen?
„Nur weil
du mich hasst, heißt das nicht, dass
ich dich auch hasse“, murmelte er als Antwort auf ihre unausgesprochenen Gedanken.