Kapitel 67 – Lebwohl
Kapitel 67 – Lebwohl
Zwei Briefe waren heute gekommen, einer davon trug Adams Absender. Naike zerriss ihn ungelesen und ließ die Schnipsel in den Sand rieseln. Der andere machte einen offiziellen Eindruck, diesen nahm sie mit ins Haus. "Post war da! Irgendetwas Amtliches, scheint mir." Nicolas und Julia, die gerade frühstückten, schauten interessiert auf.
"Hola, ein Strafbescheid wegen verantwortungsloser Missachtung der vorgeschriebenen Sperrstunde", gab Naike überrascht von sich, "das Strafmaß beträgt sieben Tage Bootcamp für uneinsichtige Mitbürger. Ich habe mich ab Montag um acht Uhr in der ehemaligen Kaserne Blauseidigheide im Wehrbüro einzufinden."
"Selbst Schuld, sage ich da nur. Was hast du auch mitten in der Nacht in anderer Leute Häuser zu suchen", bemerkte Nicolas streng, grinste dabei aber unmerklich ein wenig verschmitzt. "Nö, da gehe ich nicht hin. Die können mich mal, ich habe Besseres zu tun."
"Hm, ich fürchte, du musst aber, sonst kriegste nur noch mehr Probleme. Und weißte was? Ich komme mit! Wollte der Heiligen Barbara eh mal wieder einen Besuch abstatten."
"Welcher Heiligen Barbara?"
"Tja, der Schutzpatronin der Artilleristen! Während meiner Zeit beim Bund haben wir ihr oft gehuldigt – sprich
gesoffen!", lachte Nicolas laut. Naike räusperte sich.
"Gibt es da echte Bomben?", fragte Julia mit großen Augen. "Quatsch, die Kaserne Blauseidigheide steht schon seit langem leer. Inzwischen ist das halt eine Einrichtung für ... äh … nunja ... sagen wir mal Mitbürger, die die Gesetze nicht so genau nehmen, aber in kein Gefängnis gehören." Naike räusperte sich erneut. "Fein! Das wird bestimmt lustig, ich will auch mit!"
"Aber Julia, die nehmen einen dort ganz schön hart ran, das ist nix für Teenager."
"Och, Nicolas, bitte! Ich packe schon mal meinen Koffer, ja?"
"Mich brauchst du nicht bitten, das musste dann schon mit deinen Eltern klären", meinte Nic. "Aber Moment ... Adam war doch bei deinem "Ausflug" dabei, Naike, dann ist er doch mit im Lager, oder?" Naike verschluckte vor Schreck ein paar noch nicht zerkaute Cornflakes und schüttelte dann den Kopf. "Wenn Adam auch im Camp ist, werde
ich dort
nicht sein, das steht mal fest. Und mit Joseph schon gar nicht, ich bin doch nicht irre!"
"Komm, jetzt bleib mal ruhig, ich regle das schon mit den Behörden."
Da Naike anschließend mit Carla das Telefon heiß quatschte, beschloss Julia, ihre Mutter persönlich aufzusuchen, um sich die Erlaubnis für das Camp zu holen. Sie zog sich leise an und schlich, ohne dass ihre Mitbewohner etwas bemerkten, alleine aus dem Haus. Nach dem Gespräch mit Carla, wählte Naike noch eine andere Nummer, denn sie hatte beschlossen, ab sofort ihr Leben zu verändern, und kündigte als erstes ihren ungeliebten Job als Lehrerin. Vielleicht, so dachte sie, könnte ja der Aufenthalt in diesem Camp neue berufliche Möglichkeiten eröffnen, war sie doch schließlich früher durchaus gerne beim Militär. Und noch etwas musste weichen. "So, Schluss, ab auf den Sperrmüll damit!" Naike machte also Nägel mit Köpfen, entfernte ihren Ex von der Wand …
… und hing schnell ein Poster einer ihrer Lieblingsschauspielerinnen an den freigewordenen Platz. Allerdings schob sie anschließend das nun überflüssig gewordene Gemälde dann doch lieber hinter einen Schrank, statt es, wie zuerst geplant, von der Müllabfuhr abholen zu lassen. Sie seufzte erleichtert, als es außer Sichtweite war.
Zur gleichen Zeit betrachtete sich ein junger Mann, von sich selbst äußerst angetan, im Spiegel.
"Ramon, nun setz' dich endlich in Bewegung, der Flieger geht in zwei Stunden, wir müssen uns noch von Julia verabschieden. Was treibst du eigentlich da?" Beinahe hätte Ramon Alvarez zu seiner Stiefmutter gesagt, dass er nun endlich ein richtiger Mann sei, nachdem er gestern aufgrund eines Gewitters für einige Zeit in der Simlane 10 festsaß und mit Naike Le Normand sein allererstes Schäferstündchen erlebt hatte. Aber das war ihm dann doch zu peinlich, obwohl er es vor lauter Stolz am liebsten jedem auf der Strasse erzählt hätte. Aber seine Freunde in den Staaten würden sich die Geschichte demnächst wohl gleich mehrmals anhören müssen. Dann klingelte es an der Tür.
"Julia! Wo kommst du denn jetzt her? Und wo ist Nic?"
"Hihi, ich bin entwischt. Hab keinen Bock mehr, dauernd bewacht zu werden, dieser blöde Vergewaltiger ist doch bisher gar nicht mehr aufgetaucht. Find' das Theater lächerlich, vor allen Dingen am Tage, wo sich eh genug Leute auf den Straßen aufhalten. Aber erzähl mal von dir, was gibt es Neues? Du siehst irgendwie anders aus als sonst, strahlst ja wie ein Christbaum! Freust du dich schon auf die Uni?"
"Und wie! Schade, dass du noch nicht mitkommen kannst."
"Ja, das geht halt nicht“, sagte Julia bedauernd, "ich muss die Schule halt noch beenden. Aber so lange ist es nicht mehr hin, ich denke ich komme zu euch rüber, wenn es soweit ist und werde auch studieren."
"Echt jetzt? Spitze! Na, dann leg dich aber mal ordentlich ins Zeug!", freute sich Ramon ehrlich, denn seine fragwürdige Aktion hatte seine Zuneigung zu seiner Freundin keineswegs gemindert.
Die beiden gingen ins Haus, und Julia sprach mit ihrer Mutter über ihren Wunsch, Naikes Camp-Aufenthalt beizuwohnen. Zuerst war Desdemona skeptisch, und ihre Tochter argumentierte wie eine Wilde, aber dann sah sie ein, dass das Mädchen dort genauso gut aufgehoben sein würde wie in Naikes Haus, zumal Blauseidigheide einige Kilometer von der Insel entfernt war und so eine deutlich geringere Gefahr bestand, dass ihr geliebtes Julchen Opfer des Gewalttäters werden könnte.
"Pass auf dich auf, mein Schatz, ja? Ich schicke dir dann ein Flugticket, sobald du das Abi in der Tasche hast. Es wird dir bei uns gefallen. Ramons Vater und ich haben ein wunderschönes Haus in Louisiana. Und sag’ deinem Vater einen Gruß von mir, er ist jederzeit willkommen, an Geld mangelt es ihm ja nicht."
"Danke, Mama", nuschelte Julia ein bisschen traurig, denn es fiel ihr schwer, sich nun schon wieder von ihrer Mutter zu trennen. Aber es waren ja nur noch wenige Monate bis sie sie wieder sehen würde. Und Ramon. Er drückte sie liebevoll. "Mach's gut, Julia, wir chatten sooft es geht, okay?" Dann gab er ihr noch einen Kuss auf die Wange, umarmte sie noch einmal fest und ließ sie anschließend gehen.
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Als Naike abends aus dem Bad in ihr Dachzimmer kam, spürte sie sofort deutlich, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte ihr Gefühl nicht einordnen, es war, als wäre eine vertraute Aura ganz in ihrer Nähe, aber das Zimmer war leer.
Doch dann sah sie etwas und wusste, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Warum hatte sie bloß die Balkontür offen stehen lassen? Aber sonst wäre es zum Schlafen zu stickig geworden, denn der Herbst präsentierte den Bewohnern der Insel dieser Tage noch so manchen recht heißen Tag. Sie starrte auf die massiven Messer, die vor ihr auf der Kommode lagen und musste nicht lange warten, bis sich ihr der späte Besucher offenbarte.
"Such dir eins aus. Das kleine? Oder vielleicht lieber doch lieber große!" Naike schloss die Augen und rührte sich nicht vom Fleck. In diesem Moment hätte sie eine der Klingen zum Schneiden der Luft verwenden können, so süsslich-schwer waberte diese durch den Raum, erst wieder durchbrochen von erneuten Lauten der ihr so vertrauten tiefen Männerstimme. "Na, was ist? Nimm es schon in die Hand ..."
Adam kam auf sie zu, drehte sie vorsichtig zu sich herum und nahm ihre Hände, was ihre Schockstarre langsam löste. "Warum zitterst du so? Glaubst du wirklich immer noch, ich tue dir was an?"
"Du bist ein unbelehrbarer Ignorant, Adam, und weißt ganz genau dass ich weder dich noch deine Spielchen hier mehr dulde. Wie oft willst du es noch hören?"
Er ließ sich nicht beirren. "Und du weißt genau, dass du das nicht ernst meinst. Ich sehe es doch an deinen Augen, du begehrst mich mit Haut und Haaren und willst nichts anderes als in meinen Armen untergehen." Naike schnappte nach Luft. Wie dreist und selbstbewusst war der Kerl eigentlich? Und das Schlimmste war, er hatte auch noch Recht, seine Anziehung war ungebrochen. Seine goldbraun-grünen Augen funkelten nicht lüstern wie sonst, sondern strahlten eine zärtliche Wärme aus, so dass sie unweigerlich ins Schmelzen geriet. Aber dann schaffte es der Affe, der ihre Vernunft vertrat, doch wieder die Oberhand zu gewinnen. "Verschwinde auf der Stelle aus meinem Schlafzimmer, Adam Tallis, sonst schreie ich das Haus zusammen und Nicolas ist mit einem Satz oben. Mit ihm würde ich mich an deiner Stelle lieber nicht anlegen."
"Aber ..." Unverhofft ging Adam nun in die Knie und redete schnell und kaum verständlich, während er sich an seinen schrecklichen Traum von letzter Nacht erinnerte.
Doch Naike blieb hart, ging festen Schrittes an ihm vorbei und streifte ihn dabei versehentlich harsch an seiner Schulter.
"Los, raus mit dir! Klettere den Balkon genauso wieder herunter, wie du hinaufgekommen bist!", befahl sie dann streng, wie sie es von ihrer Zeit beim Militär gewohnt war.
Adam versuchte sie erneut mit Beteuerungen umzustimmen ...
... was sein Gegenüber aber lediglich mit einem gezielten Tritt quittierte, der ihr unmittelbar schon wieder leidtat. Und so schlich er ohne weitere verbale Gegenwehr wie ein geprügelter Hund zurück auf den Balkon und schaute über die Brüstung in den Sand. Und während er in den nächsten Minuten dort stand, drangen ihm düstere Gedanken wie regenschwere Wolken in sein Gemüt.
Naike legte sich völlig entkräftet ins Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Jetzt bloß schnell einschlafen und diesen Zwischenfall vergessen. Adam vergessen. Wie bloß? Sie starrte hellwach an die Decke, an der sich wild bewegende Muster abzuzeichnen schienen.
Obwohl die Tage teils noch recht heiß waren, konnte es in den Nächten schon recht kühl werden. Adam war nicht gegangen, sondern stand noch immer, inzwischen in seinem dünnen Hemd ziemlich frierend, auf dem Balkon und wartete bis Naike eingeschlafen war.
Als sie sich nicht mehr rührte, ging er leise zurück ins Zimmer, nahm ihren geliebten alten gelben Teddy vom Bücherstapel unter dem Schreibtisch und legte ihn vorsichtig zur ihr unter die Decke.
"Lebwohl, du einzige Liebe meines sinnlosen Lebens. Es tut mir alles so leid", flüsterte Adam schwermütig und war in diesem Moment der festen Überzeugung, dass er sie das letzte Mal sah.