Lehrvertrag aus dem Jahr 1864

Felicitas

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Hallo

Als ich eben mal meine Unterlagen durchgeblättert habe, hatte ich den folgenden Lehrvertrag entdeckt.
  • Eduard Groos in Grünberg einerseits und Philipp Walther in Biedenkopf andererseits haben folgende Übereinkunft getroffen:
    1. Groos nimmt den Sohn des Philipp Walther mit Namen Georg auf vier Jahre, und zwar vom 15ten Oktober 1864 bis dahin 1868, als Lehrling in sein Geschäft auf.
    2. Groos macht sich verbindlich, seinen Lehrling in Allen dem, was in seinem Geschäft vorkommt, gewissenhaft zu unterrichten, ein wachsames Auge auf sein sittliches Betragen zu haben und ihm Kost und Logis in seinem Haus frei zu geben.
    3. Groos gibt seinem Lehrling alle 14 Tage des Sonntags von 12 bis 5 Uhr frei; dabei ist es gestattet, dass er auch an dem Sonntage, wo er seinen Ausgangstag nicht hat, einmal den Gottesdienst besuchen kann.
    4. Groos verzichtet auf ein Lehrgeld, hat aber dagegen die Lehrzeit auf vier Jahre ausgedehnt.
    5. Walther hat während der Lehrzeit seines Sohnes denselben in anständiger Kleidung zu erhalten und für dessen Wäsche besorgt zu sein.
    6. Walther hat für die Treue seines Sohnes einzustehen und allen Schaden, der derselbe durch bösen Willen, Unachtsamkeit und Nachlässigkeit seinem Lehrherren verursachen sollte, ohne Einrede zu ersetzen.
    7. Der junge Walther darf während der Dauer seiner Lehrzeit kein eigenes Geld führen, sondern die Ausgaben, welche nicht von seinem Vater direkt bestritten werden, gehen durch die Hände Lehrherrn und der Lehrlinge hat solche zu verzeichnen.
    8. Hat der junge Walther seine Kleidungsstücke und sonstige Effekten auf seinem Zimmer zu verschließen, aber so, dass sein Lehrherr davon Kenntnis hat und diese solche von Zeit zu Zeit nachsehen kann, so oft es diesem gewahrt ist, um ihn gehörige zu überwachen.
    9. Darf der Lehrling während seiner Lehrzeit kein Wirtshaus oder Tanzbelustigung besuchen, er müsste denn ausdrücklich die Erlaubnis hierzu von seinem Vater oder Lehrherrn erhalten haben und dann besonders darf er auch nicht rauchen im Geschäft oder außer demselben, es bleibt ganz untersagt.
    10. Wenn der junge Walther das Geschäft des Groos verlässt, so darf dieser in kein Geschäft in Grünberg eintreten, ohne dass Groos seine Erlaubnis dazu gibt.
    11. Zur Sicherstellung, dass beide Teile diese Übereinkunft treulich halten und erfüllen wollen, ist dieser Contract doppelt ausgefertigt. Jedem ein Exemplar eingehändigt und unterschrieben worden.
    Grünberg und Biedenkopf, den 27 November 1864
Ich denke, dieser Lehrvertrag ist doch recht interessant.

Wenn ich diesen Lehrvertrag lese, denke ich, dass wir trotz der doch sehr schlechten Ausbildungssituation zur Zeit, Glück haben, dass wir nicht mehr zu der damaligen Zeit leben.

Ehrlich gesagt kann ich mir gar nicht wirklich vorstellen, wirklich 7 Tage die Woche zu Arbeiten und nur jeden 2 Sonntag frei zu haben (bzw. den anderen Sonntag nur um zu dem Gottesdienst zu gehen frei haben).

Wie seht ihr das? Könntet ihr euch vorstellen, solch einen Vertrag einzugehen?
 
@Felicitas

Zum Glück sind seit Otto von Bismarck (1815-1898) solche Arbeitsverträge nicht mehr möglich.

PoohBear
 
Original geschrieben von PoohBear
Zum Glück sind seit Otto von Bismarck (1815-1898) solche Arbeitsverträge nicht mehr möglich.
Das solche Ausbildungsverträge heute zum Glück nicht mehr möglich sind, ist mir schon klar.

Mich würde halt nur interssieren, ob sich dies hier noch jemand vorstellen kann, solch einen Vertrag zu unterschreiben, (jetzt für sich selber oder für die eigenen Kinder) jetzt vorausgesetzt, dies wäre möglich.

Halt die ersten Reaktionen beim Lesen dieses Ausbildungsvertrages sind halt auch recht interessant, wir hatten diesen Vertrag ja mal während eines Seminars durchgesprochen und da kamen dann schon recht interessante Reaktionen zum Vorschein.
 
Original geschrieben von Felicitas
Wenn der junge Walther das Geschäft des Groos verlässt, so darf dieser in kein Geschäft in Grünberg eintreten, ohne dass Groos seine Erlaubnis dazu gibt.

das is aber ganz schön hart. Auch das mit dem "jeden 2ten Sonntag von 12-5 Uhr freihaben"
Aber interessant, was es damals so gab - so ein Leben muss ja furchtbar gewesen sein :rolleyes:
 
Mich würde interessieren, wie alt dieser Georg Walther zu dem Zeitpunkt war.

Was ich arg finde ist, das er nicht einmal das Geld, das sein Vater ihm schickt, selbst verwalten durfte.
 
Wie alt dieser Georg damals war weiß ich leider nicht. Ich habe auch nur diesen Lehrvertrag so bekommen.

@ michi5
Die von dir zitierte Stelle finde ich sogar noch relativ human, im Gegensatz zu anderen Fakten dieses Vertrags.

Solche ähnlichen Bedingungen gibt es ja auch heute immernoch. So ist es zum Beispiel bei einigen teueren Ausbildungen so, dass man sich dazu verpflichtet, nach der Ausbildung noch mindestens x Jahre (zum Beispiel 5 Jahre) in dem Betrieb zu bleiben.

Auch würde es meiner Ansicht nach gegen den guten Geschmack verstoßen, wenn man sich erst irgendwo ausbilden lässt und dann gleich nebenan einen Konkurrenzladen zu eröffnen. Gerade bei einem kleinen Laden, wie dies anscheinend ist, kauft man ja auch oft ein, weil man mit dem Verkäufer gut auskommt.

Da Georg ja auch aus einem anderen Ort kommt, denke ich auch, dass er nach der Ausbildung sowieso auch wieder in diesen Ort zurückkehren wird und dieser Passus daher nicht so schwerwiegend ist.
 
So ist es zum Beispiel bei einigen teueren Ausbildungen so, dass man sich dazu verpflichtet, nach der Ausbildung noch mindestens x Jahre (zum Beispiel 5 Jahre) in dem Betrieb zu bleiben.

Ist ja irgendwo zu verstehen. Die Ausbildung ist für das Unternehmen eine Investition und diese Investition sollte auch eine Rendite abwerfen.
 

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