Kapitel 79 – Das kleine Ei
Kapitel 79 – Das kleine Ei
Nach einer knappen halben Stunde hatte Dr. Blythe die Untersuchung abgeschlossen. "Bist du ganz sicher?"
"Na, guck dir den Streifen doch an! Superblau, würde ich sagen, und deine Gebärmutter ist auch schon leicht vergrößert."
Mit einem Mal hatte Naike all ihren Kummer vergessen und hüpfte wie ein übermütiges Kleinkind auf der Untersuchungsliege herum. "Ja, ja!"
"Vorsicht, Mademoiselle ... äh ... Naike! Du willst es diesmal doch sicher gerne behalten, oder?", lachte Gil ...
… und fing seine überglückliche Patientin anschließend behutsam auf.
Paul hörte den Lärm im Untersuchungszimmer und klopfte besorgt an die Tür.
"Komm ruhig herein!" – "Was ist los?" – "Rate mal, Schatz!"
Gilbert zwinkerte seinem Freund zu und schwenkte dabei bezeichnend seine Arme, so als würde er etwas ganz Kleines schaukeln. Für einen Moment stand Paul ganz ruhig und ernst da, beinahe in sich gekehrt. Dann fragte er: "Du bist ... du bist wirklich ... also, wir bekommen ..."
"Ja, wir werden Eltern!"
Paul strahlte wie ein Christbaum und küsste seine Freundin überschwänglich. Doktor Blythe ging leise an den beiden vorbei in seine Wohnräume und ließ sie ein paar Minuten alleine. Er seufzte erleichtert und war sehr glücklich darüber, dass Naike sich dieses Mal sehr über die Nachricht freute und nun offensichtlich endlich in ihrem Leben die Kurve gekriegt hatte.
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Einige Zeit nachdem sie wieder daheim angekommen waren, betrachtete sich die werdende Mutter im Spiegel und stellte fest, dass sie wieder gut Farbe im Gesicht hatte, und auch der Appetit war inzwischen zurückgekehrt. Sie zog sich an und verabschiedete sich von Nicolas Kappe, der seinen letzten Abend in der Simlane 10 bedauerlicherweise mit seinen Verwandten verbringen wollte, mit dem Verdacht, dass er sie und den zukünftigen Vater ihres Kindes die wundervolle Neuigkeit lieber alleine feiern lassen wollte.
Naike war mit dem Essen noch nicht ganz fertig, als Paul auch schon in der Tür stand. "Mmmh, Hähnchen! Und du siehst toll aus! Warum hast du nichts gesagt, dass du dich so in Schale wirfst, dann hätte ich mir auch etwas Feineres angezogen!"
"Ach Paul, das macht doch nichts. Hauptsache, wir sind beisammen, hm?"
Dann machten sie es sich gemeinsam am Tisch bequem, schwatzten über alles Mögliche, und Paul fragte doch tatsächlich, ob man mit Zauberei eine Schwangerschaft beschleunigen könnte, was Naike lachend verneinte. Verliebt in eine Hexe – das konnte ja was werden, dachte er bei sich und grinste.
Nachdem sie abgespült und auf ihre gemeinsame Zukunft angestoßen hatten, durfte natürlich ein Tänzchen nicht fehlen, denn beide liebten es sehr, sich zu schöner Musik in alle Richtungen zu drehen und auf diese Weise besonders romantisch nahe zu kommen.
"Du, eigentlich wollte ich mir ein Haus suchen, weil ich ja jetzt mit meiner Ausbildung fertig bin und Gil nicht mehr zur Last fallen möchte. Und deshalb ... ja ... äh ... sollten wir nicht zusammen nach etwas Schönem schauen?"
"Oh Paul ... du ich darf, äh ... will die Simlane nicht verlassen. Ich liebe dieses Haus und wohne hier seit meiner Ankunft auf der Insel, als es noch ein kleiner grüner Schuhkarton war. Ich könnte mir nie vorstellen, woanders zu leben."
"Ach so." Paul blickte nachdenklich zu Boden. "Möchtest
du nicht hier bleiben? Nicht über Nacht meine ich, sondern so richtig?", fragte Naike dann vorsichtig. Seine Miene hellte sich im Nu wieder auf. "Würdest du das
wirklich wollen?"
"Natürlich, wir werden doch Eltern! Und außerdem ist hier doch Platz satt, und ich wollte eh mal wieder ausbauen lassen."
"Darf ich mir etwas ausdenken, wie es ausschauen soll?",fragte Paul. "Architektur ist nämlich mein Hobby!"
"Ehrlich? Na, da habe ich mir ja den richtigen Kerl an Bord geholt!", freute Naike sich. "Klar kannst du dich austoben. Nur zweckmäßig und kindgerecht sollte es sein."
"Na, das brauchste mir nicht zweimal sagen!" Glücklich umarmte sich das Paar, alles passte wunderbar. Das Leben in der Sim-Welt konnte also doch wunderschön sein!
"Julchen, jetzt mach doch mal 'ne Pause, du malst ja schon seit heute Nachmittag!"
"Es macht mir halt so Spaß. Ich denke, ich kriege eine dicke Eins im Kunst LK!"
"Das gönne ich dir von Herzen, Süße, du hast ja in letzter Zeit enorm aufgeholt. Aber jetzt iss mal was, in der Küche steht noch Hähnchen mit Gemüse."
"Gerne, werde ich tun. Und was macht ihr zwei Beiden noch diesen Abend?", zwinkerte Julia verschwörerisch. "Wir feiern gerade, dass Paul bei uns einzieht, bist auch herzlich auf ein kleines Glas Schampus eingeladen." Paul protestierte gleich. "Nix da Schampus, du kriegst O-Saft, Schatz, du willst doch kein hyperaktives …?", mahnte er und hielt dabei abrupt inne. Julia bekam sogleich große Augen. So intelligent wie sie war, hatte sie sofort verstanden, was er gemeint hatte. Paul schämte sich für den versehentlichen Versprecher und ruderte hilflos mit den Armen. Aber Naike nickte verständnisvoll, wer kann sowas denn schon länger für sich behalten?
"Oh echt? Dann darf ich euch also gratulieren?"
"Darfst du", strahlte das Paar. Julia freute sich gleich sehr und äußerte ihr Bedauern, dass sie Naikes Baby nicht aufwachsen sehen würde. Aber dann trat sie ebenso versehentlich ins Fettnäpfchen wie Paul zuvor und fragte ihre Pflegemutter: "Und was sagt Papa dazu?" Naike schnappte kurz hörbar nach Luft, fing sich dann jedoch gleich wieder und antwortete sehr geschickt: "Was soll Adam dazu sagen? Sicher wird er doch bald selbst eine Familie gründen mit dieser ... äh ... dieser ..." Sie tat, als würde sie überlegen und war jetzt sehr neugierig. Würde sie von Julia etwas über die Frau vom Café heute Morgen erfahren?
"Ach ja, die Eva Montez. Der Papa hat ordentlich Feuer gefangen, dauernd ist er mit ihr unterwegs, er hat sie auf irgendeiner Präsentation kennen gelernt, wo sie modelte", erklärte Julia freimütig.
"Na dann ist ja alles in Butter", bemerkte Naike trocken, nahm hektisch Pauls Hand und führte ihn schnell in den gegenüberliegenden Raum. Dem Gespräch hatte er nicht so recht folgen können, ließ sich aber bereitwillig mitziehen.
"Du kannst also entweder Jessicas ehemaliges Zimmer haben, in dem Nicolas bisher geschlafen hat, oder es dir hier gemütlich machen, sobald Julia ausgezogen ist. Aber da dies noch eine Weile hin ist, wird wohl erstere Lösung besser sein."
"Ich darf nicht bei dir im Bett schlafen?", guckte Paul betrübt. "Natürlich darfst du das. Aber es soll mein Zimmer bleiben, ich mag keine gemeinsamen Schlafzimmer, mein Mann und ich ..." Naike stockte und schluckte, selbst erschreckt über ihre Wortwahl. "Häh, wie jetzt? Welcher Mann?", war Paul nun völlig irritiert.
"Äh .. hehe … ich hab doch nur einen Spaß gemacht", lenkte Naike den peinlichen Versprecher, der sie nach langer Zeit mal wieder an die Welt erinnerte, aus der sie hierher gekommen war, wieder ins vorherige Gespräch um. "Im Fernsehen war letztens eine Reportage über Langzeitbeziehungen, die zeigte, dass Paare, die getrennt schlafen, deutlich länger zusammenleben als welche, die alles teilen! Ja, ja."
"Na ja, gut, wenn du meinst, Schatz. Aber heute in der ersten Nacht möchte ich mit dir in deinem Bett schlafen und es ist mir völlig egal ob du willst oder nicht." Naike beschwerte sich scherzhaft. Aber das mochte sie – Männer, die nicht vorsichtig anfragten, sondern klar artikulierten was sie wollten.
Und so erfüllte sich Pauls Wunsch eine Stunde später. Naike konnte zuerst wieder nicht einschlafen, was aber nicht verwunderlich war, denn als sie hörte wie Nicolas nach Hause kam, wurde sie traurig – morgen würde er endgültig gehen. Außerdem ließ sie ein Name nicht in Ruhe: Eva Montez … Adam und Eva. Naike schloss die Augen.
Paul bemerkte ihre Unruhe und nahm ihre Hand, die eine sanfte, pulsierende Wärme ausstrahlte und die Aufgewühlte im Nu doch noch in den Schlaf hinüber gleiten ließ.
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Das letzte gemeinsame Frühstück. Naike bekam kaum einen Bissen runter, einerseits wegen Nicolas, andererseits wegen ihrer Morgenübelkeit. Sie sprachen kaum miteinander.
Dann zog Nicolas sich an und brachte seine Koffer mit den wenigen Habseligkeiten nach draußen vor die Eingangstür. "Noch mal herzlichen Glückwunsch, Paul, machen Sie was draus, ich will kleine Klagen hören! Wenn sie meiner Naike auch nur ein Haar krümmen, wie ihre Männer zuvor, dann ziehe ich ihnen persönlich die Hammelbeine lang."
Was für eine Ansprache! Naike musste unwillkürlich grinsen. Paul grinste auch, fragte sich allerdings, von welchen "Männern" Nic da wohl gesprochen hatte, denn er wusste von der zukünftigen Mutter seines Kindes bedeutend weniger, als sie von ihm. "Werde ich, Herr Kappe, werde ich", versprach er und beide Herren vollzogen einen absolut perfekten Militärgruß, genau wie bei der Verabschiedung im Camp vor vier Wochen. Naike spürte, wie ihre Tränendrüsen unmittelbar aktiv wurden.
Dann rief Nicolas sein Taxi und Naike verdrückte sich, sich gegen einen Heulanfall wehrend, in ihr Dachzimmer, doch ihr bester Freund kam ihr hinterher. "Auf Wiedersehen, meine Liebe, pass auf dich auf, ja? Ich will aus der Ferne nur Gutes von dir hören und zwar regelmäßig!", befahl Nicolas in sehr harschen Ton, weil auch er gegen seine schmerzlichen Abschiedsgefühle kämpfte."
Sie gingen Arm in Arm die Treppe hinunter nach draußen, wo bereits Julia mit verheultem Gesicht am gerade eingetroffenen Taxi stand. Siegfried sprang hinein, was den Taxi-Fahrer sofortigst dazu veranlasste, seine Nase zuzuhalten, und dann kletterte auch Nicolas Kappe hinterher und schloss die Tür mit einem beherzten Ruck.
"Wir sehen ihn bald wieder, ja?" – "Ach Julia!", schluchzte Naike und beide hielten sich noch eine lange Zeit in den Armen.
*
Naike fühlte sich durch das unter ihrem Herzen wachsende neue Leben schon wieder müde, es war an diesem Vormittag alles ein bisschen viel gewesen. Sie ließ sich ein angenehm warmes Schaumbad ein, um sich ein wenig zu entspannen, aber ihre Gedanken hatten offenbar beschlossen, wieder einmal ordentlich Kirmes zu machen und eine Karussellfahrt zu veranstalten, statt sich mit einem kandierten Apfel in die Hängematte zu legen.
"Naaaa, eigentlich schon mal naaachgerechnet, meine Gute?", fragte der erste Affe in scharfem Ton. Naike nahm einen Waschhandschuh und fuhr sich damit über ihre schweißbedeckte Stirn. "Hat sie natürlich nicht, die feige Memme", lästerte der zweite Affe, worauf der dritte einen kleinen Kalender hervor holte und die drei lästigen Viecher daraufhin gemeinsam die gesamten vergangenen zwei Monate durchgingen und heftigst darüber diskutierten, wo denn überall ein rotes Kreuzchen für ein Schäferstündchen zu machen sei. Naikes Kopf kippte zur Seite, der Waschlappen rutschte ihr von der Stirn und fiel ins schaumige Nass – sie war völlig erschöpft eingeschlafen. Aus weiter Ferne hörte sie es plätschern, obwohl Paul direkt vor ihr stand und ein kleines Wesen aus dem Wasser holte …