Kapitel 3
Unten angekommen muss ich feststellen, dass eine ganze Horde junger Studenten an unserem Esstisch sitzt und lautstark über irgendwelche Vorlesungen diskutiert. Mir fällt ein, dass ich noch meinen Jogginganzug anhabe und ungeschminkt bin, wie peinlich!

Ich hoffe also, dass sie mich noch nicht bemerkt haben, renne wieder hoch und ziehe mir etwas einigermaßen Vorteilhaftes an, das die kleinen Speckröllchen über meinem Hosenbund ein wenig kaschiert.

Vor dem Spiegel ziehe ich mir einen dünnen Kajalstrich und tusche meine Wimpern.
Wenn ich so drüber nachdenke, sehe ich eigentlich gar nicht so schlecht aus. Okay, mal abgesehen von meinem Körper ab dem Bauchnabel abwärts. Aber mein Gesicht finde ich ganz okay, ich habe relativ reine Haut und auf meine langen Haare bin ich auch stolz. Wenn ich doch nur 10 Kilo weniger wiegen könnte. Ich möchte gerne so aussehen wie Liza. Sie hat den perfekten Körper, ein makelloses Gesicht und tolle Kleidung. Ihre grünen, hohen Stiefel bewundere ich am meisten. Die hat sie ja angeblich in London bei einem Designer gekauft. Beneidenswert.
Ich seufze mal wieder und laufe noch einmal die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Dort angekommen, bleibe ich kurz stehen, atme tief ein und aus, wische meine mittlerweile etwas schwitzigen Hände an der Hose ab und betrete das Wohnzimmer.

In der Erwartung, dass Brian mich freudig begrüßen wird, laufe ich zu ihm und schlinge ihm die Arme um den Hals. Er erwidert meine Umarmung nur lasch und flüstert „Hey, Alyssa“ . Na toll, was soll das bitte für eine Begrüßung sein? Er windet sich aus meinen Armen, setzt sich wieder und hat anscheinend schon vergessen, dass wir uns seit zwei Wochen nicht gesehen haben und ich mich freue, dass er endlich wieder daheim ist.

Resigniert gehe ich in die Küche, mache mir ein Sandwich und will mich mit an den Esstisch sitzen, als Brian mich ein Stück wegschiebt und sagt „Nicht hier, geschlossene Gesellschaft“. Die Tränen schießen mir in die Augen. Warum ist er so gemein zu mir? Ist es wegen seinen Freunden? Schämt er sich vor ihnen für seine kleine, mollige Schwester? Ich nehme meinen Teller, stelle ihn mit dem Sandwich in den Kühlschrank und gehe hoch in mein Zimmer.
Ich glaube, es ist Zeit für Ineya. Zeit für wahre Freunde und ein Leben „sans soucis“, wie meine Französischlehrerin zu sagen pflegt.

Ich lege mich auf mein Bett, fixiere eine Weile die Wand und schon gleite ich hinüber nach Ineya.
Ich muss einige Male blinzeln, bis ich mich an tiefstehende Abendsonne gewöhnt habe.

Ich laufe den schmalen Weg hinunter zur kleinen Lagune, an der Raven und ich oft sitzen und hoffe, ihn dort anzutreffen. Aber ich sehe keinen meiner Freunde. Liam und Shatri sind wahrscheinlich wie jeden Abend in der Bucht, um sich den Sonnenuntergang anzusehen, aber Raven wartet normalerweise auf mich.

Ich sehe mich suchend um und rufe ein paar Mal leise seinen Namen. Als ich auf einmal ein Rascheln hinter mir höre, fahre ich herum.

Ich blicke in das Gesicht von Raven. Er hat, abgesehen von seinen üblichen Kratzen, blutige Striemen im Gesicht. Ttrotz der einbrechenden Dunkelheit, meine ich, auch Tränen in seinen Augen zu sehen. „Raven...was ist passiert?“, stammle ich. Ich würde ihn gerne umarmen, aber ich habe Angst, ihm wehzutun, weil er auf einmal so zart und zerbrechlich aussieht.

„Anouk ist zurückgekommen“, sagt er leise. Ich glaube, mich verhört zu haben, also frage ich „Anouk? Sie war hier?“ Raven weicht meinem Blick aus und nickt.

„Aber...was wollte sie hier?“
Raven tut so, als interessiere er sich sehr für das Gras vor seinen Füßen und ignoriert meine Frage. Ich packe ihn am Arm. „Raven! Was wollte Anouk hier?“
- Ende 3. Kapitel –