29. Kapitel
Ich schlug die Augen auf. Leise hörte ich den Wasserfall rauschen, der nicht weit von hier in die Tiefen des Bergsees stürzte. Ich war hellwach. Es fühlte sich gut an, nach Tagen auf der Couch endlich wieder eine feste und saubere Matratze unter sich zu spüren.
Durch die Wand konnte ich Shadys Stimme vernehmen, sie sprach wohl gerade mit Latisha.
Sie erklärte ihr, dass sie gut angekommen seien und sich Latisha keine Sorgen machen müsse.
Ich fühlte mich wie neugeboren. Mein Kopf war frei, mein Herz schlug gleichmäßig und ich war bereit, diesen Tag voll und ganz zu genießen.
Doch wieder schlich sich der Gedanke an diese Tür in meinen Kopf. Ich nahm mir vor, gleich noch einmal hochzugehen, doch zuvor musste ich mir wenigstens noch etwas anziehen.
Ich stellte mich vor den Spiegel.
Im Hintergrund hörte ich die Kaffemaschine in der Küche surren.
Kaffe brauchte ich nicht. Ich sah gut aus. Ich war ausgeschlafen, gesund und hatte Pläne.
Mein Leben fühlte sich gut an. Es würde noch so viel kommen, da war ich mir sicher.
Ich öffnete den Schrank, kramte ein paar Sachen hinaus, die ich aus meinem Koffer einfach in die Schubfächer verteilt hatte und stapfte munter ins Bad.
Kurze Zeit später stand ich erneut vor einem Spiegel, bekleidet und mit einer praktischen und schönen Frisur. Flechten war so ziemlich das Einzige, was mir meine Mutter hatte beibringen können, bevor sie gestorben war. Außer der Tatsache, dass ich ohne sie und meinen Vater nie hätte laufen oder sprechen gelernt.
Ich öffnete die Badtür und stieg die Treppe hoch.
Nun stand ich da... vor dieser geheimnisvollen Tür.
Ich wusste gar nicht genau, warum sie mir so geheimnisvoll vorkam. Vielleicht, weil Leighton mich praktisch davon abgebracht hatte, die zu öffnen.
Es war doch immer das Gleiche mit uns Kindern. Wenn man uns etwas verbot, taten wir es erst recht. Nur das Verbotene war interessant. Auch für mich... mich Kind.
Ich berührte den Türgriff und versetzte ihm einen leichten Stoß. Die Tür öffnete sich.
Mein Herz klopfte schneller, wie damals beim Versteckspielen. Man war kurz davor, denjenigen zu finden, der sich versteckt hatte, man kniff die Augen zusammen, um alles wahrzunehmen, alles zu sehen.
Ich war kurz davor, der Tür einen weiteren Stoß zu geben, damit sie sich weiter öffnete.
Doch plötzlich, ich war noch so in meiner Gedankenwelt versunken, rief mich Shady zum Frühstück. Wie ein ertappter Dieb kam ich mir vor, als sie mit dieser Stimme nach mir rief, mit der man gut und gerne die Luft zerschneiden konnte.
"Okay, ich komme!", schrie ich schnell, damit nicht noch jemand nach oben kam, um nach mir zu suchen.
Ich schloss die Tür wieder und stieg dann die Treppe hinab.
Ich betrat die Küche und wurde wieder fröhlich, als ich diese vier Menschen da sitzen sah. Sie schmatzten und redeten und... ich wusste gar nicht, warum, aber ich war froh.
"Morgen! Da stehen die Pfannkuchen, nimm dir welche und setz dich!", begrüßte mich Shady.
Ich setzte mich und fing an, zu essen, während ich den Gesprächen der anderen zuhörte.
"Ich hab die total versalzen.", erklärte Ian sauer. Alle widersprachen ihm und erklärten, dies seien die besten Pfannkuchen aller Zeiten. Ich aß einfach nur, ich hatte schließlich kein Abendbrot gehabt.
"Wer kommt heute Abend mit in die Stadt, Leute? Ich muss mal wieder ein bisschen feiern gehen.", erklärte Shady nun.
Ich aß weiter, fühlte mich trotz der herzlichen Einladung zum Frühstück aber wie in einer fremden Familie.
"Mal sehen, Schatz.", erwiderte Leighton.
Als wir fertig waren, deckte ich den Tisch ab.
Mir fiel ein, dass ich Aramea noch gar nicht gesehen hatte.
"Wo ist die Kleine?", fragte ich, in der Hoffnung, Shady oder Leighton hätten sie nicht vergessen.
Ich war mir nicht sicher, ob ich auch im Urlaub den Babysitter spielen sollte.
"Die schläft noch.", erklärten mir alle im Chor. Ich lachte und stellte anschließend die Teller in die Spülmaschine.
Nach dem Essen wollte ich mir diese schöne Landschaft einmal im Tageslicht ansehen, also ging ich nach draußen.
Und ich war unglaublich berührt von der Schönheit dieser Landschaft und diesem riesigen Berg, von dem der Wasserfall in die Tiefe fiel.
Ich sah mich um. Eigentlich fand ich, dass es eine Schande war, hier solch ein Schlösschen zu erbauen. Aber nun war ich hier und fand es wunderschön. Ich erschrak, als ich ein dumpfes Geräusch wahrnahm.
Erst jetzt bemerkte ich Ian, der im Garten stand und ein Spiel spielte, dessen Sinn es anscheinend war, mit einem Stock Figuren umzuwerfen.
Ich schmunzelte, wollte nun aber einmal zum See gehen.
Diese kühle Bergluft war so ein Unterschied zum Staub der Vorstadt. Ich wollte sie einfach nur einatmen, meinen Körper fluten lassen und nie wieder ausatmen.
Dies war ein anderes Leben, ein ruhiges, langsames, bedachtes Leben. Ich wollte dies hier als Neuanfang sehen. Ich wollte mir selbst ein paar Ziele setzen. Dieses In-den-Tag-leben hatte ich satt. Ich brauchte Aufgaben.
Aber für diese wollte ich hier Kraft sammeln.
Ich erschrak, als ich angesprochen wurde.
"Schöner See, nicht? Diese Umgebung... einfach atemberaubend.", sagte Leighton.
"Du atmest doch noch.", erwiderte ich etwas gehässig und drehte mich um. Leighton stand skeptisch da.
"Was meinst du?", fragte er. Ich winkte ab.
"Ja, ist schön hier.", sagte ich nun, um auf seine anfängliche Rede zurückzukommen.
"Hör zu, das mit uns... bei mir zu Hause, als wir...", fing er nun an.
Ich wusste, was er meinte. Wir hatten uns zu sehr angenähert.
Ich hatte das alles verdrängt, aber nun schossen die Bilder zurück in meinen Kopf.
Jedoch spürte ich, dass sich seitdem etwas geändert hatte. Ich fühlte nichts mehr für diesen Mann, der verlegen vor mir stand und aussah, wie ein Fisch.
"Ähm, vielleicht... sollten wir die Sache vergessen und... unser Leben weiterleben, so, wie es war.", schlug ich vor und erntete ein dankbares Nicken. "In Ordnung.", erwiderte er. Nun herrschte betretenes Schweigen.
Ich wollte etwas finden, das für mehr Gesprächsstoff sorgte, also widmete ich mich wieder meinem momentanen Lieblingsthema.
"Um nochmal auf diese Tür zurückzukommen, die zum Turm führt... Sicher, dass sie abgeschlossen ist und man da nicht hinkommt?", fragte ich misstrauisch.
"Ja! Und selbst, wenn es nicht so wäre, wäre es zu gefährlich, da hochzugehen. So hat man es mir zumindest gesagt... Also, Frank, der mir dieses Anwesen vermietet hat, meinte das.", antwortete Leighton.
Ich konnte und wollte das alles nicht glauben und war nun skeptischer als zuvor. Dieses Haus war in einem einwandfreien Zustand, wie konnte der Turm gefährlich sein?
Leighton wandte mir nun den Rücken zu und ging einfach.
Lange war ich jedoch nicht allein, da Ian zu mir kam.
"Was hat er gesagt?", fragte er mich.
"Wir haben nur geplaudert und uns über die tolle Landschaft unterhalten.", log ich.
"Wenn ich ehrlich bin, traue ich ihm nicht.", vertraute sich Ian mir an, während wir auf den See schauten.
"Wieso?", fragte ich.
"Er ist mir unheimlich. Reich, schön... zumindest auf den ersten Blick, und er hat Shady fest in der Hand. Sie vertraut ihm."
Ich verstand, was Ian meinte.
"Er ist anders. Aber bestimmt kein schlechter Kerl.", sagte ich und lächelte Ian an.
Heleny kam zu uns gelaufen.
"Oben steht ein Trampolin, Leute! Ein Trampolin! Wer springt mit mir?", fragte sie ganz aufgeregt.
Ian wurde noch ernster, als er es schon gewesen war. Er sprach zu Heleny wie mit einem Kind.
"Schatz, glaubst du, das ist das Richtige für dich in deinem jetzigen Zustand?", fragte er sanft.
Heleny nickte eifrig.
"Ich bin erwachsen, ich hör auf, wenn's zu viel wird.", erklärte sie.
Dann ging ich mit ihr hoch.
"Okay, dann los!", rief Heleny, als wir auf dem Trampolin standen.
Schon fing sie an, wie wild herumzuhüpfen. Ich wurde automatisch mit in die Luft geworfen, wenn sie aufkam.
Heleny hatte sichtlich Spaß.
Sie weitete die Arme aus und wedelte damit herum, als würde sie fliegen. Vielleicht war sie ja sogar noch mehr Kind als ich.
"Nicht so wild, Süße!", ermahnte ich sie immer wieder.
Ich hatte Angst, sie könne vielleicht einen Kreislaufkollaps bekommen oder noch zu hoch springen und irgendwo am Ende der Welt wieder runterkommen.
Von der Luft aus konnten wir Ian am Seeufer stehen sehen. Heleny winkte ihm und rief seinen Namen, sodass er als Echo von Berg zu Berg flog.
Plötzlich geschah das, was nicht passieren hatte sollen.
Heleny stürzte und fiel auf das Trampolin. Ich erschrak und versuchte, nicht mehr auf und abzuspringen.
"Alles in Ordnung?", fragte ich besorgt, Heleny stöhnte kurz, stand dann durch die Federung des Trampolins aber wieder vor mir.
"Alles okay!", antwortete sie.
Ich atmete auf. Sie sah mich nachdenklich an und wollte dann lieber aufhören. Ich hielt das für eine gute Idee und bot ihr dann an, in der Küche einen Saft zu trinken.
Wenig später saßen wir also da und schlürften zwei Trinkpäckchen.
"Ich war schon geschockt, als du da plötzlich so gefallen bist.", sagte ich.
Heleny kicherte und nickte zustimmend.
"Ehrlich gesagt habe ich mich nur gewundert, dass mein Hut auf dem Kopf geblieben ist."
Wir lachten.
"Du musst unsere Sorge verstehen. Wir können nicht nachvollziehen, was du durchgemacht hast, aber wir wissen, dass du dich schonen solltest. Und dafür bist du hier."
"Das verstehe ich. Und genau deshalb lege ich mich jetzt auch hin.", erklärte sie und verließ den Raum.
Als Heleny den Raum verlassen hatte, kam Shady zu mir.
"Was ist? Kommste mit in die Stadt?", fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern. "Okay."
entschuldigt. Ich hoffe, sie gefällt trotzdem und ihr kommentiert fleißig
S.I.M.S.