Kapitel 45
Neue Freundschaften
In der Nacht schlief Tessa unruhig. Immer wieder geisterten Bilder von Jess durch ihre Träume, vermischt mit der wütenden Fratze von Niklas, Erinnerungsfetzen an ihre Abiturzeit und seltsamen Bildern im Zusammenhang mit der Universität.
Als sie am Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Mit etwas MakeUp schaffte sie es jedoch, sich einigermaßen frisch aussehen zu lassen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass der Schnee über Nacht vollkommen getaut war. Die Bäume hatten sich bereits mit einigen Blättern geschmückt und das Gras leuchtete grüner denn je.
Irgendwie schien das ein gutes Omen zu sein, dachte Tessa sich und machte sich auf den Weg zum Campus.
Einige Minuten später stand sie vor dem großen, rot verklinkerten Gebäude und verharrte einen Moment unschlüssig.
Hinter ihr ertönte das beruhigende Plätschern des großen Springbrunnens, der sich in der Mitte des Vorplatzes befand. Tessa atmete tief ein und aus. Sie fühlte sich mit einemmal wieder sehr nervös und unruhig. Für einen Moment blitzten die Bilder der letzten Monate durch ihren Kopf. Als sie sich vor mehr als einem Jahr hier beworben hatte, schien sie ein völlig anderer Mensch gewesen zu sein. Passte dies alles denn jetzt noch zu ihrem Leben?
Sie dachte an Jess und daran, dass er eine solche Chance nie bekommen hatte – eine Ausbildung, eine gesicherte Zukunft.
Der Gedanke an Jess löste gleichzeitig wieder Wehmut und Trauer bei ihr aus. Wie so oft jagte die Frage durch ihren Kopf, ob sie nicht noch mehr hätte tun können, um ihn zu finden. Doch immer wieder musste sie sich eingestehen, dass ihr die Hände gebunden waren… er blieb verschwunden.
„Ich muss diese Gedanken jetzt zur Seite schieben“, flüsterte etwas in ihr. „Wenn ich weiter daran denke, werde ich mich auf der Stelle umdrehen und nach Hause laufen, weil ich weinen muss und keine Kraft mehr haben werde, etwas anderes zu tun als zu weinen oder mir den Kopf zu zerbrechen.“ Sie verschränkte wie zum Trotz gegen ihre eigenen Gedanken die Arme und holte noch einmal tief Luft.
Dann setzte sie sich in Bewegung und betrat das Gebäude. Hier herrschte bereits ein reges Treiben, unzählige Studenten liefen an ihr vorbei, lachten miteinander und tratschten. Tessa fühlte sich für einen Moment ziemlich unsicher und einsam. Ein Blick auf ihren Zettel verriet ihr, dass ihr Kurs im zweiten Stock stattfand. Nach einigem Suchen hatte sie schließlich den Raum gefunden und nahm in der ersten Reihe Platz. Der Saal war zuerst noch recht leer, doch es dauerte nicht lange, bis weitere Studenten ankamen und sich auf den Plätzen verteilten. Ein blondes Mädchen fragte Tessa freundlich, ob neben ihr noch frei wäre und Tessa bejahte. Bevor sie aber noch ein weiteres Wort mit ihrer Tischnachbarin wechseln konnte, erschien der Dozent und die nächsten anderthalb Stunden war Tessa zu konzentriert auf das, was er erklärte. Als er schließlich den Raum verließ, blieben Tessa und ihre Sitznachbarin, sowie zwei Mädchen am Nebentisch noch einen Moment sitzen, um ihre Notizen zu vervollständigen. Der Rest der Studenten verließ murmelnd den Raum, bis wieder Stille einkehrte. Fast zur selben Zeit packten die vier Mädchen ihre nun vollgeschriebenen Notizblöcke ein und als Tessas Blick den ihrer Tischnachbarin traf, lächelte diese ihr zu und sagte: „Ganz schön viel, was wir uns nun merken müssen, was? Ich bin übrigens Susanne.“
Tessa lächelte zurück. „Ich bin Tessa und was deine Frage betrifft… Oh ja, mir brummt der Schädel. Ich hoffe, dass ich mir all diese neuen Dinge bald vertraut machen kann. Im Moment glaube ich noch, es erschlägt mich förmlich. Ich habe keine Ahnung, wie ich das mit dem Zusammenstellen des Stundenplans hinkriegen soll. Du?“
Susanne schüttelte lachend den Kopf. „Nicht wirklich!“ Sie wandte sich den beiden Mädchen am Nachbartisch zu.
„Wie ist es mit euch? Wisst ihr nun, wie ihr den Stundenplan zusammenstellt? Ich bin übrigens Susanne und das hier ist Tessa.“
Das schwarzhaarige Mädchen vom Nachbartisch lächelte.
„Hallo, ich bin Anna. Und ich glaube, das mit dem Stundenplan hört sich wirklich einfach nur kompliziert an, ist es aber gar nicht. Meine Cousine hat auch hier studiert und hat mir im Vorfeld nämlich schon einiges erzählt. Keine Bange, in einer Woche kennen wir uns hier bestimmt schon super gut aus und was jetzt noch neu und mächtig erscheint, ist dann ganz normal für uns.“
„Das hoffe ich!“ seufzte Tessa.
Das Mädchen, das neben Anna saß, lachte leise. „Ich bin Felicitas, aber nennt mich ruhig Feli. Ich gebe dir völlig recht, Tessa – ich bin da auch nicht ganz so optimistisch wie Anna.“ Sie zwinkerte und Tessa fiel auf, mit welcher enormen Lebensfreude ihre Augen funkelten. Für einen Moment fragte sie sich traurig, ob ihre Augen jemals wieder so freudig würden funkeln können und ob man ihr das, was geschehen war, eigentlich in irgendeiner Form anmerken mochte?
Felis fröhliche Stimme riss sie sofort wieder aus ihren Gedanken.
„Sag mal, Anna, wie wäre es, wenn wir unsere Stundenpläne einfach alle mit dir zusammen erstellen, wäre das in Ordnung für dich? Ich meine, du scheinst als einzige von uns einigermaßen verstanden zu haben, worauf wir achten müssen – und vielleicht könnten wir unsere Kurse dann ja auch zusammen besuchen, nun, da wir uns schon kennen.“
Tessa nickte eifrig und strich sich die beiden widerspenstigen Haarsträhnen, die sich bereits wieder aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, aus dem Gesicht.
„Das wäre toll, Anna!“ pflichtete sie Feli bei. Auch Susanne nickte eifrig.
„Wäre das möglich, Anna? Ich habe wirklich keine Ahnung, wo ich mit dem Stundenplan anfangen soll oder wie ich das Ganze kombinieren sollte…“
Anna lachte. „Ich hoffe, ihr erwartet nicht zu viel von mir, ich weiß auch nicht alles und habe nicht alles ganz genau verstanden. Aber natürlich werde ich gerne versuchen, euch zu helfen! Wie wäre es, wenn wir jetzt einfach zusammen runter in die Bibliothek gehen und direkt anfangen?“
Die drei Mädchen stimmten sofort zu und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Bibliothek.
Es dauerte nicht lange und aus den vier jungen Frauen war ein eingeschworenes Quartett geworden. Sie hatten ihre Stundenpläne so erstellt, dass sie die meisten Kurse gemeinsam besuchen konnten.
So kam es, dass sie auch die Zeiten zwischen den einzelnen Kursen und Seminaren meist gemeinsam verbrachten, um zu lernen oder einfach ein wenig zu tratschen.
Wenige Wochen später saßen sie darum wieder einmal zu viert in einer abgeschiedenen Ecke der Bibliothek und lernten.
Tessa blieb ein Stück entfernt am Bücherregal, aus dem sie gerade die geeignete Fachliteratur ausgesucht hatte, stehen und beobachtete die drei jungen Frauen, welche mit den Köpfen über ihre Notizen gebeugt saßen.
Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Noch vor wenigen Wochen hatte sie sich völlig einsam und isoliert gefühlt und nun hatte sie gleich fünf gute Freundinnen um sich – wenngleich Monika auch immer noch ihre beste war und dies wohl auch immer bleiben würde. Zuviel verband die beiden Frauen miteinander, was niemand anders jemals würde verstehen können.
Ein schmerzlicher Stich machte sich in Tessas Brust breit. Sie blieb weiter am Bücherregal stehen. Schon oft hatte sie in den letzten Tagen die Frage beschäftigt, ob sie ihren neuen Freundinnen von Jess erzählen sollte oder nicht.
Hatte sie nicht eigentlich die Vergangenheit gelehrt, dass sie Jess nicht mehr verheimlichen sollte? Doch sie musste sich eingestehen, dass es nicht einfach war, offen über das zu sprechen, was geschehen war.
Vielleicht wäre es anders, wenn sie noch immer mit Jess zusammen wäre… doch inzwischen war es Mitte Mai und Jess blieb nach wie vor verschwunden. Sie hatte alles versucht, ihn zu finden… er blieb verschwunden. Sie hatte eine Weile die irre Hoffnung in ihrem Herzen gehabt, Jess könne nicht die Stadt verlassen, sondern einen erneuten Entzug in einer Klinik angefangen haben. Doch seit Jess ihre Wohnung an jenem Februartag verlasse hatte, waren mehr als drei Monate vergangen… hätte er tatsächlich einen Entzug begonnen und geschafft, dann hätte sie schon längst etwas von ihm hören müssen. Tessa seufzte schwer.
Sie musste sich damit abfinden, dass sie Jess vermutlich niemals wiedersehen würde.
Und noch war alles, was mit ihm und ihrer gemeinsam Zeit zu tun hatte, einfach ein viel zu kostbares Stück Erinnerung, als dass sie es leichtfertig jemand anderem als Monika und der Selbsthilfegruppe, die sie immer noch hin und wieder besuchte, hätte mitteilen können.
Nachdenklich schweifte ihr Blick über die drei jungen Frauen am Tisch. Würden sie es verstehen? Würden sie Jess verurteilen, so wie ihre Mutter es getan hatte? Oder Niklas?
Die Erinnerung an die Reaktionen ihres damaligen Geständnisses waren ihr immer noch allzu gegenwärtig.
Langsam schüttelte Tessa den Kopf. Nein, sie konnte es ihnen nicht erzählen… noch nicht. Jess war ein Teil ihrer Vergangenheit, und doch gehörte er immer noch zu ihrer Gegenwart dazu. Er war ein Teil ihres Schicksals und ihrer Lebensgeschichte. Doch was viel entscheidender war – er war in ihrem Herzen. Und noch schien gerade jenes viel zu wund und empfindsam, als dass es eine erneute Enttäuschung oder die Beschmutzung all ihrer kostbaren Erinnerungen an ihren geliebten Jess hätte ertragen können.
Die Zeit war noch nicht reif.
„He Tessa – sag mal träumst du?“ riss Feli´s aufgeweckte Stimme Tessa aus ihren Gedankengängen.
„Nein – nein… ich komme schon.“
Eilig setzte sich Tessa wieder an den Tisch und konzentrierte sich auf den Stoff, den sie durchnahmen.
Nach einer weiteren Stunde stand Feli schließlich auf und sagte: „Wisst ihr was, Mädls, ich glaube, für heute haben wir genug getan. Wie wäre es, wenn das Lernen für heute lassen und gemeinsam ein leckeres Eis essen gehen?“
Anna lachte. „Das ist die beste Idee des Tages!“
Lachend schlugen die Mädchen ihre Bücher zu und machten sich auf den Weg zur Eisdiele.
Und wie so oft in den letzten Wochen gelang es Tessa auch heute wieder, für den Rest des Tages die traurigen Gedanken zu vergessen und tatsächlich etwas wie… ja, etwas wie Freude zu empfinden.
Und so wie die Knospen an den Bäumen unter der wärmenden Kraft der Sonne aufzuspringen begannen, schien auch der Panzer um ihr Herz, den die letzten Monate mit Jess darum gelegt zu haben schienen, immer mehr aufzuweichen… und Freude in ihr Leben zurück zu kehren… auch wenn sie Jess niemals vergessen würde.
Fortsetzung folgt.