Fortsetzung...
„Menschenfreundlich“ war das Wort, das er benutzte. Daß er es überhaupt kannte, war mir völlig unverständlich. Seit dem Tag, an dem er mir diesen wahrlich kurzen Besuch abstattete, war er auf Nummer Sicher gegangen. Die Kette, die meinen Fuß mit dem Rohrwerk zur Rechten des Raumes verband, trug ich jetzt Tag und Nacht. Er duldete es nicht mehr, daß ich mich im Zimmer frei bewegte. Die Fessel an scheuerte und juckte entsetzlich an meinem Knöchel. Sie lag zu eng an meinem Fußgelenk, als daß ich mit dem Finger darunter kommen konnte, um zu kratzen und wenn ich schlafen wollte, brachte mich dieses Gefühl schier um den Verstand.
Es verstand sich von selbst, daß ich alles in meiner Macht stehende versucht hatte, diese Kette zu lösen. Vergebens. Das Rohr, an dem sie befestigt war, war in die Wand hinter mir eingelassen und endete im Boden zur Mitte des Raumes. Es war unmöglich, es herauszureißen. Aber selbst wenn es mir gelungen wäre, änderte es nichts an der Tatsache, daß die Tür weiterhin verschlossen war. Wenn ich schlief, betäubte er mich wie gehabt mit Gas um sich sicher zu sein, daß ich nicht wieder aufwachte, wenn er mir Essen brachte.
Über seine Motive, mich hier festzuhalten, wußte ich nach wie vor nichts. Auch sein Name, Masakazu Nakagawa, hatte in etwa soviel Aussagekraft wie etwa John Doe, oder das deutsche Äquivalent – Thomas Mustermann. „Vier Monate“ hatte er gesagt. Vier Monate war ich also schon in diesem Zimmer, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß er mich zermürben wollte. Er wartete auf den Zeitpunkt, an dem mein Wille gebrochen, und ich bereit war, alles zu tun. Wie genau dieses „alles“ aussehen sollte, wußte ich nicht. Bereit zu reden sollte ich sein. Das waren seine Worte. Ein Teil in mir sehnte sich danach, einen Gesprächspartner zu haben, mit dem man reden konnte. Jedoch war dieser fürchterliche Nakagawa nicht die Person meiner Wahl, wenn ich überhaupt das Privileg hatte, mir eine Wahl erlauben zu können.
Ich haßte diesen Mann.
Seit geraumer Zeit jedoch beschäftigte mich ebenso die Frage, ob er allein es war, der mich gefangen hielt, oder ob ich nicht doch Opfer einer kriminellen Organisation geworden war, und er nur derjenige, der die Aufsicht über mich hatte. Abwegig schienen diese Gedanken nicht zu sein, denn aus meiner Position konnte ich nichtmal raten, was genau sich hinter der verschlossenen Tür befand. Eine Wohnung, ein Labor oder der Sitz eines Bouryokudan Syndikats…
„Meide diesen gottlosen Ort lieber!“ hatte Kaori gesagt, als ich spät abends noch nach Kabukichou wollte, um in der Bibliothek Grenze Tenkaichistraße ein Buch für mein Studium zu leihen. „Kabukichou ist voller Rowdies und außerdem weißt du nie, ob du nicht einem Vertreter irgendeiner Bouryokudan über den Weg läufst.“
„Bouryokudan?“ hatte ich gefragt, denn dieses Wort war mir damals völlig neu gewesen.
„So nennt die Regierung jetzt das elende Yakuzapack!“ antwortete Kaori mit einem abfälligen Blick, als wäre das Wort an sich schon ein Tabubruch erster Klasse. „Sie glauben, wenn sie es besser umschreiben, nehmen die Leute die Gefahr ernster und vermeiden so potentielle Angriffe auf unschuldige Bürger.“ Ich hatte seit jeher gedacht, daß unsere Freunde im Land der aufgehenden Sonne ihre Yakuza ein wenig zu ernst nehmen. Immerhin konnte man auch ohne Probleme nach Italien reisen, ohne gleich in die Finger der Mafia zu geraten. Warum sollte das also in Japan anders sein?
Ich versuchte wieder, den Finger unter die Metallschelle an meinem Fußgelenk zu schieben. Ich brauchte keinen Arzt, um mit Gewißheit sagen zu können, daß die Schürfungen darunter näßten und rot geschwollen waren. Dieser fürchterliche Juckreiz war absolut intolerabel und ich befürchtete, wenn die Fessel weiterhin an meinem Fuß blieb, sich ein Dekubitus bilden würde. Der Gedanke daran bereitete mir Sorgen und das Wissen, daß Nakagawa allein den Schlüssel für die Kette hatte, machte mir fast Kopfschmerzen. Seine Art zu reden hatte mir mehr als deutlich gezeigt, daß er kein Mensch war, den man zu einer Milderung erweichen konnte. Würde es sich also lohnen, nach ihm zu rufen, damit er die Fessel lockerte? Andererseits war ich zu stolz, den Mann, der mich seit Monaten zu brechen versuchte, um Hilfe zu bitten.
Angesichts des Schmerzes und des unerträglichen Juckreizes kam ich zu der Schlußfolgerung, keine andere Wahl zu haben, als nach meinem Entführer zu rufen. Er wollte mit mir reden, er sollte es bekommen! Immerhin konnte ich das Ultimatum stellen, nur mit ihm einen Dialog zu beginnen, wenn er mir im Gegenzug die Metallschelle abnahm. Nach kurzer Überlegung schien mir das ein fairer Kompromiß zu sein, der auch meinen Stolz nicht zu sehr ankratzte. Vielleicht konnte ich so die Rollenverteilung ein wenig zu meinen Gunsten drehen. Ich mußte mir genau überlegen, was ich sagte, denn immerhin wollte ich mein Ziel möglichst schnell erreichen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm das anzubieten, was er von mir haben wollte:
„NAKAGAWA!“ rief ich. „WENN DU MICH HÖREN KANNST, OKAY, ICH REDE MIT DIR!“
Ich hielt inne und lauschte. Tatsächlich – ich hörte die unverkennbaren Schritte sich der Tür nähern und kurze Zeit später klickte das Schloß.
Ich kann nicht behaupten, daß ich erfreut war, sein kaltes Gesicht wiederzusehen, aber ich war auf irgendeine Art und Weise erleichtert, es geschafft zu haben, daß er ins Zimmer kam.
Er hatte seinen Stuhl wieder mitgebracht und nahm in sicherem Abstand zu mir darauf Platz.
Dann blickte er mir fordernd in die Augen, als verstehe es sich von selbst, daß ich nun ein Gespräch anfange. Ich quälte ein Lächeln hervor um die Spannung ein wenig zu lockern und die Situation zu entlasten.
„Du hast gesagt, ich wäre nicht bereit, zu reden… Nun, ich bin es jetzt. Aber du hast mir nicht gesagt, worüber ich reden soll. Was willst du wissen?“ Zugegeben war dies nicht der beste Anfang für ein Gespräch, aber ich fühlte mich in seiner Nähe unwohl und je mehr Zeit verging, in der wir uns anschwiegen, desto dichter schien die Luft zu werden.
„Bist du glücklich“ fragte er mit monotoner Stimme und starrte mir dabei tief in die Augen.
Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, ertönten in meinem Gehirn imaginäre Karnevalsfanfaren um die Ironie zu untermauern und ich stieß ein gespielt herzhaftes Lachen aus.
„Das war eine rhetorische Frage, stimmts?“
Ich lachte, als hätte er den besten Witz erzählt, den ich je gehört hatte, doch er veränderte keine Miene, was mich letzten Endes dazu bewegte, mein Lachen abrupt zu beenden und genauso kalt zurück zu starren, wie er es tat. „Eine unpassendere Frage hättest du mir nicht stellen können, oder?“ Mein Tonfall war nun wieder vollkommen ernst. Er antwortete nicht.
„Ich war das glücklichste Mädchen der Welt…“ begann ich nun, etwas wehmütig, da ich an Kaori denken musste. Was er wohl ohne mich machte?
„Wo lebst du hier? Wohnst du allein?“ riß er mich aus meinen Gedanken.
Eine Weile schaute ich ihn an, etwas unglücklich darüber, daß er mich nicht zuende hatte reden lassen, aber Wehmut und Sorgen gehörten wohl nicht zu dem, was er hören wollte.
„Nein.“ antwortete ich schließlich. „Ich wohne mit meinem besten Freund in einer Wohngemeinschaft… oder sollte ich besser sagen ‚wohnte’? Immerhin hast du mich hier eingesperrt. Weißt du eigentlich wie es ist, wenn man auf einen Schlag alles verliert, was einem wichtig erschien?“ Ich ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern antwortete stattdessen für ihn: „Nein, das weißt du nicht. Sonst hättest du es nicht getan.“
Er legte den Kopf schief, als würde er mir zu verstehen geben wollen, daß er nicht nachvollziehen konnte, wovon ich eigentlich sprach. Ich stieß einen Seufzer aus.
„Was bist du eigentlich?“ fragte ich. „Ein Roboter? Eine Maschine? Ein Cyborg? Von Gefühlen scheinst ja nie was gehört zu haben, was?“ Ich untermauerte meine Frage mit einem sarkastischen angedeuteten Lachen.
„Du wohnst also mit deinem Freund zusammen in einer Wohngemeinschaft“ faßte er zusammen. „Wie lange kennst du ihn?“
„Ist das in irgendeiner Form von Bedeutung für dich?“ platzte es aus mir heraus. „Willst du ihn etwa auch noch kidnappen?“ Sofort legte er wieder sein mißbilligendes Grinsen auf und gab mir deutlich zu verstehen, daß dies als Antwort genügen mußte.
„Wenn du das wagst….“ drohte ich.
„Dann was?“ fiel er mir ins Wort.
Es schien eine schlechte Eigenschaft von ihm zu sein, mir immer wieder meine Position vor Augen zu halten, um sicher zu gehen, daß ich mir stets bewußt war, daß ich mich nicht in der Lage befand, Forderungen zu stellen.
Ich blickte zu Boden und schwieg.
„Dein Freund…“ begann er wieder, „bist du glücklich mit ihm?“
Langsam fragte ich mich, was das alles sollte. Warum wollte er unbedingt, daß ich ihm Informationen über Kaori gab? Anscheinend interessierte er sich nicht für mich als Person, sondern für mein Umfeld, das ich hier in Tokyo hatte. Welchen plausiblen Grund er dafür auch haben mochte, war mir unklar.
„Laß Kaori aus dem Spiel!“ sagte ich barsch und merkte sofort, daß es unklug war, seinen Namen genannt zu haben.
„Kaori?“ sagte er nun sichtlich überrascht. „Dein Freund ist eine FreundIN?“
Es dauerte eine Weile, bis ich verstanden hatte, warum er so reagierte, dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen und eine Welle der Erleichterung überkam mein Herz.
Kaori hatte seinen Namen mir zu verdanken, da wir uns bei meinem Einzug in die WG über Deutschland unterhielten und ich Kaoru kurzerhand eindeutschte indem ich ihm die verniedlichte Endung –ri andichtete. Daß Kaori jedoch außerdem ein gewöhnlicher japanischer Frauenname war, verriet er mir erst später. Ich hatte ja nie geahnt, daß dieses Wortspiel mir einmal so aus einem geglaubten Fettnapf helfen würde. Voller Selbstbewußtsein schaute ich Nakagawa in die Augen und sagte: „Jawohl! So ist es!“
Er grinste sein herabwürdigendes Grinsen statt zu antworten.
„Wie wärs, wenn du mir zur Abwechslung mal was von dir erzählst!“ wechselte ich schnell das Thema, damit er nicht weiter über Kaori nachdenken konnte. „Ist das hier deine Wohnung, oder wo sind wir hier? Und außerdem – du könntest mal ein wenig Gnade walten lassen im Gegenzug, daß ich mit dir rede. Diese Fußfessel scheuert enorm…“
Er veränderte seinen Blick nicht.
Eine Zeit lang wartete ich auf eine Antwort, ein Statement oder auf irgendwas anderes aus seiner Richtung und als ich begriff, daß er nicht vorhatte, sich dazu zu äußern, platzte mir der Kragen.
„Hör mal, Nakagawa-kisama!“ wurde ich jetzt etwas lauter, mir der Worte genau bewußt, die ich wählte. War die Anrede „Kisama“ zur Edo-Zeit in Japan noch mit einem überhöflichen „verehrter, hochgeschätzter Herr“ vergleichbar, hatte es in der heutigen Zeit ironischerweise die selbe Bedeutung wie „du Lump“. „Diese Fußkette trägt nicht gerade zum Wohl meiner Gesundheit bei, und wenn du es genau wissen willst, ist meine Haut darunter gerade im Begriff, einen Dekubitus zu bilden! Du weißt, was das ist, nehme ich an? Was hältst du von der Idee, mir diese verfluchte Fessel abzunehmen, bevor ich eine Sepsis bekomme und elendig verrecke? Es war doch in deinem Sinne, keine 60kg totes Fleisch entsorgen zu müssen!“
Statt in irgendeiner Form auf meine Äußerung einzugehen, beschloß er wortlos, daß unser Gespräch beendet war. Er verließ den Raum samt Stuhl und das letzte, was ich von ihm hörte, war das Einrasten des Türschlosses, bevor er wieder eine seiner Enka-CDs einlegte und vergaß, daß es mich gab.
Ich hatte schon wieder verloren. Mein Plan, ihm ein Ultimatum zu stellen, war grandios gescheitert. Ich mußte mir jedoch eingestehen, nicht optimal an die Sache herangegangen zu sein. Ich hätte erst meine Forderung stellen sollen, bevor ich auf seinen Wunsch einging, mit ihm zu reden. Dennoch kam mir dieser Nakagawa immer seltsamer vor. Was für ein Typus Mensch er sein mochte, konnte ich mir nichtmal im Traum ausmalen. Von seinem Motiv, mich gefangen zu halten, ganz zu schweigen. Das nächste mal mußte ich sorgfältig planen. Ich mußte sichergehen, daß mein Plan absolut wasserdicht war, bevor ich ihn wieder ins Zimmer rief.
...to be continued