Kapitel 002 - Fortschritte
Ein paar Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster ins weisse Zimmer auf das neben mir stehende Bett. Es war leer. Schon seit einigen Tagen. Zuvor hatte ich mal eine Zimmergenossin gehabt, doch da war ich noch nicht in der Lage gewesen, mich mit jemandem abzugeben. Aber jetzt wünschte ich mir jemanden, mit dem ich die Langeweile vertreiben könnte.
Ich war schon seit bald sechs Wochen im Krankenhaus. Wobei ich die ersten dreieinhalb anfangs im Koma und später praktisch nur mit Schlafen verbracht hatte. Also blieben da nur diese anderen zweieinhalb Wochen, an die ich mich wirklich erinnern konnte. Ein halber Monat, der stellvertretend für mein ganzes Leben stehen musste. Denn sonst war da nichts. Nicht mal der kleinste Schimmer einer Erinnerung.
Die Ärzte und Frau Conelly, meine Therapeutin, sagten, dass ich an einer Amnesie leide und sie nicht sagen könnten, wie lange es dauere, bis ich mich wieder an die Zeit vor dem Unfall erinnern könne, oder ob ich es überhaupt je wieder könne.
Nachdem ich nach diesen dreieinhalb Wochen aufgewacht war und richtig realisiert hatte, dass mein gesamtes Leben aus meinem Gedächtnis gelöscht war, war es für mich unerträglich gewesen, damit umzugehen. Dieses Gefühl kann man gar nicht beschreiben, wenn man so orientierungslos und verloren ist, ein Niemand ohne jegliche Erinnerung. Ein Nichts.
Ich hatte mit niemandem reden wollen, das Essen verweigert, Heulkrämpfe und Wutanfälle bekommen. Nicht selten hatte man mir eine Beruhigungsspritze verabreichen müssen.
Doch in den letzten Tagen war es mir gelungen, mich etwas zu fangen. Das heisst nicht, dass ich mich mit meiner Situation abgefunden hätte. Nein, das hatte ich ganz und gar nicht. Ich war immer noch verzweifelt und musste oft weinen, doch ich hatte eingesehen, dass ich nicht viel daran ändern konnte. Schon gar nicht, wenn ich mich so sehr gegen jede Hilfe sträubte.
Ich musste mich also zusammenreissen und mich für den Moment mit diesem halben Monat zufrieden geben. Zwar war es eine ziemlich schreckliche Zeit gewesen, doch wenigstens konnte es so nicht mehr schlimmer werden. Das hatte Diego bei einem unserer Cafeteriabesuchen gesagt.
„Von jetzt an wachsen deine Erinnerungen mit jedem Tag und jeden Tag werden sie schöner. Du wirst sehen, sobald du mal aus dem Krankenhaus raus bist, wird alles besser.“, lauteten seine aufbauenden Worte.
Diego war der junge Mann, der mich vor sechs Wochen nach dem Unfall gefunden hatte. Er kam oft zu mir ins Krankenhaus und ich genoss seine Anwesenheit. Seine lieben Worte bauten mich auf und halfen mir mehr als die Therapiestunden bei Frau Conelly. Es war schön, zu wissen, dass da jemand war, der sich um mich sorgte und für mich da war, obwohl er nicht dazu verpflichtet war und mich noch nicht mal richtig kannte.
Ein paar mal, als es mir besser ging, hatte er mich hinunter in die Cafeteria mitgenommen, wo wir zusammen warme Schokolade getrunken und leckere Gebäcke gegessen hatten. Die Blumen und der kleine Teddy auf meinem Tischchen waren auch von ihm.
Er war mein einziger Besucher. Wer sollte mich denn auch sonst besuchen? Ich kannte ausser ihm ja gar niemanden mehr.
Die Polizei hatte nach Verwandten und früheren Freunden von mir gesucht, doch bis jetzt war die Mühe umsonst gewesen. Es war schwer, denn ich hatte keinerlei Hinweise bei mir getragen. Keinen Ausweis, keine Hausschlüssel und auch sonst nichts. Die einzigen Anhaltspunkte waren mein Aussehen, eine zerschmetterte Armbanduhr und die Schätzung meines Alters auf etwa zwanzig Jahre.
Einmal war eine Frau, deren Tochter spurlos verschwunden war, zu einer Gegenüberstellung mit mir gekommen. Doch als sie mich gesehen hatte, hatte sie enttäuscht den Kopf geschüttelt und mit einer sehr schwachen, müden Stimme erklärt: „Das ist nicht meine Kleine.“
Ihr trauriger Blick hatte einen stechenden Schmerzen in meinem Herzen verursacht. Gab es auch jemanden der sich so um mich sorgte? Der so verzweifelt nach mir suchte? Irgendjemanden? irgendwo?
Die Zimmertür sprang auf und eine Krankenpfelgerin betrat den Raum.
„Na? Wie fühlst du dich?“, fragte sie mich freundlich. „Besser.“, murmelte ich und stand auf.
„Das freut mich. Dann wollen wir doch mal schauen, ob es deinem Arm auch besser geht.“ Sie begann meinen rechten Arm abzutasten, der bei dem Unfall einen leichten Bruch erlitten, nun aber nach sechs Wochen schon wieder fast normal belastbar war.
„Tut das weh?“, fragte sie, als sie an ihm herumdrückte. Ich schüttelte den Kopf.
„Sehr gut.“
Mein Blick schweifte zum Fenster. Man konnte ein paar Bäume und Häuser sehen. Der Himmel war hellblau und fast wolkenlos. Ich verspürte den Drang, endlich an die frische Luft zu kommen.
„Wie lange muss ich noch im Spital bleiben?“, fragte ich. Die Krankenschwester hielt inne und sah mich aufmunternd an.
„Hab noch ein wenig Geduld. Alle deine Verletzungen sind zum Glück gut verheilt. Jetzt müssen wir nur noch ein paar Tests abwarten. Wenn diese in Ordnung sind, kannst du schon in den nächsten Tagen gehen.“
„Ist Diego da? Er hat gesagt, er komme heute und gehe mit mir in den Park.“
„Er ist bestimmt bald hier.“ Die Krankenpflegerin lächelte. „Du kannst dich glücklich schätzen, dass du jemanden wie ihn hast.“
„Das weiss ich.“ Und ich musste auch lächeln.
„Siehst du? Er ist sogar der einzige, der bei dir ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann.“ Sie zwinkerte mir zu.
Ich musste ihr Recht geben: Wenn Diego bei mir war oder ich an ihn dachte, ging es mir gleich viel besser.
„Ich werde dir dann ein paar Kleider bereitlegen. In diesem Hemd kannst du ja schlecht raus.“
„Das ist lieb, danke.“, sagte ich erleichtert über den Gedanken, mal endlich etwas anderes als dieses hässliche Krankenhaushemd tragen zu dürfen.
Da sie sich noch um andere Patienten kümmern musste, verabschiedete sich die Krankenschwester von mir.
Während ich meinen geheilten Arm hielt und der Schwester nachschaute, bemerkte ich erstaunt, dass meine Mundwinkel immer noch nach oben gezogen waren. Ich lächelte tatsächlich.
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Sogar noch zehn Minuten vor dem angekündigten Freitag..
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