Aus den Richtlinien Setra’s
in den Sammlungen der Wächter:
Pflicht der Menschheit ist es, alles Dämonische von der Erde zu verbannen.
Das Überleben der Menschheit steht über dem Leben des Einzelnen.
Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist die Menschheit in drei Gruppen zu unterteilen.
Die Krieger. Menschen ohne besondere Fähigkeiten.
Werden ab dem Kleinkindalter ausgebildet. Sind verpflichtet,
alles Böse und Dämonische auf der Erde zu bekämpfen.
Kein Recht auf Verweigerung der Aufgabe.
Kontakt zu den anderen Gruppen strengstens verboten!
Die Auserwählten. Menschen mit besonderen Fähigkeiten.
Die besondere Fähigkeit eines Auserwählten offenbart sich an seinem achtzehnten
Geburtstag. Es ist nicht bekannt, ob ein Mensch ohne besondere Fähigkeit in einer
Familie von Auserwählten geboren werden kann.
Auserwählte helfen durch ihre Fähigkeiten, das Land aus sicherer Entfernung
zu verteidigen oder bekleiden andere wichtige Stellungen.
Die Wächter. Ehemalige Auserwählte, welche die Sammlungen Setra’s verwalten
und die Geschehnisse beobachten. Sie überprüfen die Fähigkeiten eines Auserwählten
an seinem achtzehnten Geburtstag.
Strengste Schweigepflicht!
Ich lag auf meinem Bett und versuchte, mich die letzten Stunden meines siebzehnten Lebensjahres zu entspannen.
Morgen war mein achtzehnter Geburtstag und ich würde erfahren, in welche Richtung sich mein Leben verändern
würde. Würde ich eine Heilerin werden, so wie meine Mutter eine war? Oder würde ich nach meinem Vater kommen und
die Schatten sehen können? Ich hatte bisher noch keine Anzeichen für irgendwelche Fähigkeiten entwickelt und das
machte mich nervös. Würden meine Eltern enttäuscht sein, wenn ich nur eine unbedeutende, schwache Fähigkeit erhalten
würde? Bestimmt. Unsere Familie gehörte schließlich zu einen der angesehensten Familien der Auserwählten. Alle
Generationen unserer Familie waren mit sehr mächtigen Fähigkeiten beschenkt gewesen. Die Fähigkeit meines Vaters,
die Schatten zu sehen, hatte ihm sogar einen Platz bei den Wächtern verschafft. Ob ich es auch einmal soweit schaffen würde?
Ein Geräusch ließ mich aufschrecken. Ich hörte Schritte, die meine Treppe hinaufkamen. Langsam setzte ich mich auf
und sah meine Schwester Charlotte in mein Zimmer kommen. Müde lächelte ich sie an. »Störe ich?«, fragte sie.
Ich schüttelte meinen Kopf und zog sie zur Couch. Als ich sie versuchte neben mich zu ziehen, schüttelte sie meine Hand ab.
»Ich bin sowieso gleich wieder weg.«, rechtfertigte sie sich. Gespannt schaute ich sie an und symbolisierte mit meiner Hand, dass sie sprechen sollte.
Sie räusperte sich. »Ich wollte mich nur von dir verabschieden, Lily. Ich weiß, du bist aufgeregt, aber ich bin
mir sicher, dass du eine wundervolle Fähigkeit erhalten wirst.« Schüchtern lächelte sie mich an. »Und was wenn nicht?«,
fragte ich leise. Sie lachte und antwortete: »Mach dir keine Sorgen. Wir sind die Bennett’s, eine der mächtigsten und
ältesten Familien der Auserwählten. Du bist einer der wundervollsten Menschen die ich kenne und genau deshalb
wirst du eine genauso wundervolle Fähigkeit erhalten.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich versuchte, sie zurückzuhalten.
Charlotte wusste immer was sie sagen musste, um mich aufzumuntern. Ich stand auf und zog sie in meine Arme.
»Ich hab dich lieb.«, flüsterte ich und drückte sie fest an mich. »Ich hab dich auch lieb.«, flüsterte sie zurück. Sie gab
mir einen Kuss auf die Wange und drehte sich um. »Wir sehen uns übermorgen!«, rief sie, als sie die Treppe hinunterging.
»Hoffentlich enttäusche ich dich nicht.«, murmelte ich. Kaum war sie außer Sicht, kam meine Mutter die Stufen hoch.
»Bereit?«, fragte sie und lächelte mich an. Ich nickte und hoffte, dass sie mir meine Nervosität nicht ansah. Sie nahm
mich an die Hand und zog mich zum Spiegel. Wie abgemacht half sie mir beim ankleiden und bei den Haaren. Das Gewand
für die Zeremonie bestand aus einem langen braunen Rock und einem weißen Mantel. Kritisch beäugte ich mich im Spiegel. Ich
sah lächerlich aus. Meine Mutter lachte hinter mir und küsste mich auf die Wange.
»Du bist nicht die Einzige, die dieses Gewand tragen muss. Es ist Tradition der Zeremonie.«, flüsterte sie in mein Ohr.
»Ich weiß.«, antwortete ich und seufzte. »Wie spät ist es?«, erkundigte ich mich. »Es ist kurz vor elf Uhr. Du musst gleich
los.« Ich nickte stumm und betrachtete mich abermals im Spiegel. Das war er nun also – der Moment auf den jeder
Auserwählte wartet. Ich atmete tief ein und drehte mich um. Zusammen mit meiner Mutter verließ ich mein Zimmer und
folgte ihr in den Eingangsbereich unseres Hauses. Dort stand bereits mein Vater und wartete auf mich. Stolz lächelte er
mich an. »Bereit?«, fragte er mit einem Grinsen auf dem Gesicht. »Ja.«, antwortete ich nach kurzem Zögern. »Es ist
ganz normal nervös zu sein.«, versicherte er mir und zog mich in seine Arme. Meine Mutter gab mir einen Kuss auf die Wange
und öffnete die Haustür. »Wir sehen uns übermorgen!«, rief sie mir hinterher, als ich meinem Vater zum Auto folgte.
Nachdem ich einen letzten Blick zurück auf unser Haus geworfen hatte, stieg ich ein. Mein Vater startete den Motor und fuhr los.
Bis zum Institut der Wächter war es eine halbe Stunde Fahrt. Den größten Teil der Fahrt verbrachte ich damit, stumm aus
dem Fenster zu schauen und zu versuchen, an nichts zu denken. Ich hatte keinerlei Ahnung was mich erwarten würde.
Das Einzige was ich wusste war, dass ich mit einem Wächter in einen Raum gesperrt werden würde, in dem er mich die
folgenden vierundzwanzig Stunden - meinen gesamten achtzehnten Geburtstag - beobachten und auf Fähigkeiten
testen würde. Eine wirklich goldene Aussicht. Besser hätte ich meinen Geburtstag gar nicht verbringen können. Genervt
seufzte ich. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich mein Vater besorgt. »Ja, alles in Ordnung.«, log ich mit einem falschen
Lächeln. Ich ließ mich tiefer in den Sitz sinken und schloss die Augen. Nur wenig später hielt der Wagen und mein Vater
berührte meine Schulter. »Wir sind angekommen, Lillian.« Ich öffnete meine Augen und erblickte das Institut der Wächter.