“Raven! Raven, aufstehen! Heute beginnt das Training!!“
Vage erkannte ich im Halbschlaf Heath’ gehetzte Stimme und wollte mich am Liebsten noch weiter in die Tiefen der Bettdecke graben.
Doch Heath hatte schon gewonnen. Mein Fuß kribbelte erneut und ich unterdrückte einen Kiekser.
Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, in der sich, laut meinem Gehör, mein Bruder befand und dachte an einen Windstoß. Prompt fiel etwas auf den Boden und als ich meine verklebten, schweren Augenlider hob, begrüßte mich Heath’ wütendes, rotangelaufenes Gesicht.
“Was soll das?!“
Ich setzte meinen Körper unter viel Anstrengung in Bewegung und setzte mich unter Heath’ durchdringendem Blick, das spürte ich ganz deutlich, auf.
“Ich hab meine Talente ausprobiert. Stört dich das? Du hättest dich ja mittels deiner neuen, schnelleren Gehirnversion verteidigen können.“
“Raveeeen!“
Aber der Ausruf meines Namens ging in einem Lachanfall unter. Ich traf einfach immer die empfindliche, humordurchlässige Stelle bei Heath.
“Hast du gerade von Training geredet? Was für-…“
Panik wallte in mir auf. Was wollte Sun mit uns trainieren?
“Raven, hör zu. Es führt einfach kein Weg daran vorbei. Wir müssen kämpfen lernen! Wir müssen lernen unsere Fähigkeiten einzusetzen! Sun wollte es uns heute mal zeigen und wir sollen Sportklamotten anziehen, weil-…“
Ich unterbrach ihn abrupt.
“Das ist jetzt unwichtig, Heath! M… meint sie den Kampf? Diese Schlacht?“
In Heath’ Augen spiegelte sich Sorge wider. Er wusste, was das alles in mir entfachte.
Ich stand zu schnell auf und schwankte kurz, dann rasten mir unheimlich viele Gedanken durch den Kopf. Ich brachte nur ein Flüstern zustande.
“Ich schaffe das nicht… ich bin nicht so jemand… es… es geht nicht, alleine wenn ich schon daran denke…“
“Hey.“
Heath kam auf mich zu und schloss seine durchtrainierten, starken Arme um meinen kleinen, zierlichen, verletzlichen Körper. Ein Körper, der im Kampf zerbrechen würde.
In Heath’ Armen fühlte ich mich wohl und behütet. Ich ließ mich hängen und Heath hielt mich weiter.
“Was, wenn ich versage, wenn wir versagen, Heath?“
Ich legte ihm beide Hände auf die Schultern und schaute ihm in die vertrauten grünen Augen.
“Was wäre dann?“
Heath lächelte mich ziemlich entschlossen an, was mich ein wenig erschreckte.
“Das wird nicht passieren. Wir sind wahnsinnig stark, Raven. Und jetzt, mit unseren zusätzlichen Talenten sind wir doch unbesiegbar! Überleg mal!“
“Was, wenn nicht? Wenn wir einen Fehler machen… oder etwas in uns vor lauter Ehrgeiz verloren geht… was ist dann? Das würde den Tod bedeuten.“
Der noch so glänzende Mut in Heath’ Augen schwand zur Hälfte.
“Ja, es wäre vermutlich der Tod. Aber es wird nicht passieren, Raven! Jetzt hör’ doch endlich auf dich selbst einzuschüchtern! Gib’ nicht auf! Es ist unsere Aufgabe! Bitte Raven, ich weiß, dass du es kannst und dafür liebe ich dich.“
Diese Worte waren voller Liebe, Treue und Zuversicht gesprochen, dass mir kurzzeitig Tränen in die Augen stiegen. Mir war klar, dass ich nicht drum herum kam, aber ich musste gründlich nachdenken und mich selbst entdecken.
*
Als ich meine Sportsachen angezogen hatte, ging ich mit Heath vor die Tür, wo schon die anderen, ebenfalls in Sportklamotten, auf uns warteten.
Sun strahlte mich an und gab mir einen Kuss, dann wurde ihr Gesicht wieder ernst.
“Es wird leider schon bald wieder dunkel, deswegen weiß ich nicht, ob ihr schon trainieren könnt, aber vorerst werden Gifiena und ich euch eine typische, einfache Kampfszene vorstellen. Haltet bitte Abstand und achtet schon mal auf die Bewegungen!“
Erst jetzt wurde mir bewusst, was für eine Schlafmütze ich eigentlich war. Zugegeben, ich war ziemlich scharf drauf meine Mum so richtig erdvolkmäßig kämpfen zu sehen. Vor allem, weil sie ja noch die Kraft der Sonne, bzw. das Licht besaß. Ich beschloss für diese Szene meine angeschlagenen Nerven einfach mal zu entspannen und die anderen wilden Gedanken auszuschalten.
Sun und Gifiena nahmen eine Angriffsstellung ein und gaben sich mit der Faust das Zeichen zum Gruß.
Nachdem sie sich ein paar Mal umkreist hatten, sprang Sun plötzlich mit einer undenkbaren Geschwindigkeit nach vorne und hob zu einem Stoß, der Gifiena garantiert umgeworfen hätte, beide Arme vor sich. Doch Gifiena wehrte gekonnt mit einem Luftschub ab.
Sun schoss auf einem grellen, gelben Lichtball in die Luft und wich somit dem gefährlichen Rückschlag von Gifiena aus. Blitzschnell hob sie beide Hände und ebenfalls gelbe, grelle Lichtbälle erschienen unter ihren Handflächen.
Doch bevor sie die Bälle auf Gifiena abschießen konnte, hob diese ihre Hände und zwei hellgrüne Lichtstreifen schossen hervor. Direkt auf Suns Herz zu.
Ich riss reflexartig die Arme in die Luft und hatte plötzlich Angst um meine Mum. Mir war klar, dass ich das nicht musste, aber diese Woge überschwemmte mich beinahe. Die Szene, die sich da vor meinen Augen abspielte war etwas, was ich nicht verkraften konnte. Ich spürte noch deutlicher als zuvor, dass ich das niemals vollführen konnte. Und schon gar nicht das Befreiungsritual. Beim Gedanken an Nontos, der wegen mir wahrscheinlich sterben musste, schossen mir Tränen in die Augen und mein Herz schmerzte unglaublich. Ich war so furchtbar hin- und hergerissen, mein Herz drohte sich aufzuteilen und meine Seele schwebte irgendwo zwischen der verlockenden Chance des Aufgebens und der harten, gefährlichen Realität, der Tat, die mir bevorstand.
Ich bin doch auch nur ein Mensch.
Dieser Satz grub sich mit scharfen Krallen in mein ohnehin schon blutendes Herz und ich sah, dass ich mich entscheiden musste. Sofort.