Kapitel 19/ Finale Teil 2 "Antworten und Bitten"
Leider dauerte es Monate, bis wir endlich den genauen Aufenthaltsort von Hildegard- oder Susan Sullivan, wie sie sich nun nannte- herausfanden. Sie wohnte immer noch in Amerika, in Charlottesville, Virginia, genau gesagt und war derzeit weder verheiratet noch sonst irgendwie familiär verknüpft (Wie mir Carmilla erklärt hatte, wurden manchmal eingeweihte Familien gebeten, insbesondere junge Vampire bei sich aufzunehmen.). Nun waren Sommerferien, alle Welt wollte nach Amerika und wir standen am Abfertigungsschalter 7a) am Flughafen- Katharina, Jonathan, Carmilla, ich und Lydia, welche soeben mit den Flugtickets zu uns gelaufen kam. Wir hatten sie nicht eingeweiht; sie dachte, wir wären zusammen mit unserer Lehrerin auf dem Weg zu einer biochemischen Messe oder irgendetwas anderem- ich hatte nicht aufgepasst, da Carmilla sich um den Teil gekümmert hatte. Während Lydia erneut von dannen stolperte, um die gefühlten 100 Koffer aufzugeben, gingen wir noch einmal den Plan durch. Wir wollten Hildegard möglichst schonend beibringen, wer wir waren und warum wir gekommen waren. Zum tausendsten Mal an diesem Tag las ich den schon zerknitterten Brief, den ich mittlerweile schon fast auswendig kannte: „Ihre Worte schienen durch den Raum zu schweben. Wie auf sanften Flügeln. Sie umspielten ihr Gesicht, ihre Wangen. Er lächelte……Ich hoffe dein Interesse geweckt zu haben. Bitte helfe ihr. Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Suche nach ihr. H.S.“, murmelte ich leise vor mich hin, so dass ich zuerst nicht bemerkte, dass wir beobachtet wurden.
Dann jedoch spürte ich Blicke in meinem Nacken, und als ich mich umdrehte, um einen Blick auf meinen Beobachter zu erhaschen, trafen sich vor einige Sekunden die Blicke von mir und einem blonden Mädchen. Sie kam mir bekannt vor, doch bevor mir einfiel, woher ich sie kannte, rief mir Lydia etwas zu. Ich antwortete ihr; als ich mich wieder umdrehte, war meine Beobachterin verschwunden. Ich schüttelte den Kopf und wand mich wieder Lydia zu. Jetzt sah ich schon Menschen, wo niemand war.
Viele, viele Stunden später hatten wir einen anstrengenden Flug hinter uns und lagen in unseren Hotelbetten. Neben mir hörte ich den leisen, regelmäßigen Atem von Katharina und Lydia, während ich wach lag. Ich dachte über das Geschehene nach, an alles, was sich in dem letzten halben Jahr verändert hatte; es gab so vieles, was ich nicht verstand: Wer hatte mir den Brief geschrieben, wer war diese Hildegard eigentlich, wie konnte sie ein Vampir sein, wo sie doch als Mensch geboren worden war (oder?), warum musste Susanne Smied sterben und an wen erinnerte dieses Mädchen, welches ich an dem Abfertigungsschalter gesehen hatte? Schließlich fiel ich trotz meiner Sorgen in einem unruhigen Schlaf. Doch ich wurde immer wieder von Alpträumen aufgeschreckt, und so kam es, dass ich am nächsten Morgen nicht sehr ausgeschlafen war.
Lydia war im Hotel geblieben, als wir ihr erzählt hatten, wo wir angeblich hinwollten. Sie sagte, dass Biochemie nicht wirklich ihre Welt war. Interessant fand ich, dass sie noch nicht einmal bemerkt hatte, dass Carmilla keine Biochemie- sondern Geschichtslehrerin war. Und selbst wenn sie es wusste, Lydia war es gewohnt, keine Fragen zu stellen. Nun fuhren wir die Vororte von Charlottesville ab auf der Suche nach 124 Finniganboulevard. Allmählich wurde ich ungeduldig: Nun waren wir so kurz vorm Ziel und dann sollte es daran scheitern, dass wir die Straße, in der sie leben sollte nicht fanden?
Endlich hielten wir vor der richtigen Adresse, ich war sehr aufgeregt. Als ich mich umsah, merkte ich, dass wir vor einem sehr hübschen, kleinen Haus mit einem großen Garten standen. Gespannt beobachtete ich Carmilla, die gerade auf die kleine Holztür zuschritt. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen, lauschte und rief uns dann zu ihr. Als ich neben ihr stand, zuckte ich zusammen: Im Inneren des Hauses hörte ich Schreie. Carmilla versuchte die Tür zu öffnen, diese war jedoch abgeschlossen. Auch als wir versuchten, die Tür aufzubrechen, erfolglos. Schließlich nahm Carmilla einen Stein aus dem Vorgartenbeet, warf ihm in ein Fenster und stieg durch das zerbrochene Fenster ein. Ich folgte ihr, wobei ich mich an einer Scherbe schnitt: „Verdammt!“ Carmilla hinter mir sah sich die Wunde einmal kurz an, und gab mir dann ein Taschentuch. Hinter uns stiegen Katharina und Jonathan ebenfalls durchs Fenster ein. Das Geschrei wurde immer lauter, und als wir die Tür öffneten, standen wir im Wohnzimmer:
„Sarah!!!“ Sarah stand mit dem Rücken zu uns und schrie eine schwarzhaarige Frau an: „Ich hab dir gesagt, dass ich dir nicht tun werde! Also beruhige dich!“ Zitternd nahm die Schwarzhaarige Platz: „Was wolltest du dann?“ „Ich wollte mit dir reden und dich vorwarnen!“ „Wovor?“ Sarah deutete auf uns: „Dich vorwarnen, damit du jetzt nicht aus allen Wolken fällst!“ Die Frau schüttelte den Kopf: „Ich verstehe nicht.“ Sarah setzt sich neben sie, dann sah sie uns an: „Los.“ Schüchtern trat ich vor: „ Wir wissen, dass Sie Hildegard heißen, und ein Vampir sind.“ Die Frau sank zusammen und weinte leise. Sarah spie uns förmlich an: „Toll gemacht, Lauren!“
Ich erwiderte: „TOLL GEMACHT?! Du hättest uns wenigstens sagen können, dass du sie auch suchst. Oder zumindest, dass du noch am LEBEN bist!“ Sarah war aufgebracht: „Natürlich hätte ich das machen sollen, aber ich wollte sie“, sie deutete auf die weinende Frau, „vorwarnen. Was glaubt ihr, warum ich das getan habe. Stellt ihr euch vor, ihr habt euch ein neues Leben aufgebaut und jemand kommt zu euch, reißt alte Wunden auf und lässt euer gesamtes neues Leben wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Wie fändet ihr das? Außerdem“, sie senkte die Stimme, „außerdem denke ich, dass Hildegard“, die Frau neben ihr schluchzte erneut auf, „lebensmüde ist. Und ihr, “, sie sprang auf, „ihr kommt einfach mit einem Brief zu ihr und-“ Die Frau sah auf und unterbrach Sarah: „Ein Brief?“ Ich nickte. Sofort sprang sie auf und lief in ein benachbartes Zimmer. Sarah folgte ihr grimmig.
Wir warteten, während wir von nebenan laut Schranktüren und Schubladen scheppern hörten. Wenige Minuten später kamen die beiden zurück, die Frau lächelte und gab mir einen Brief: „Lauren heißt du, nicht wahr?“ Ich nickte, sie fuhr fort: „Lies das.“ Während ich ließ, konnte ich spüren, wie drei weitere Augenpaare über meine Schulter mitlasen. Also las ich ihn laut:
Hildegard, ich fürchte, wenn du das liest, bin ich bereits tot. Ich habe meinem Notar gebeten, dir diesen Brief zu überstellen. Dir vermache ich meinen gesamten Besitz. Halte ihn in Ehren und bleibe stark. Ich kenne dich als Mensch und als Unseresgleichen und es hat mir immer viel Freude gemacht, dich zu beobachten. Wenn ich dies sagen darf: Du bist wie eine Tochter für mich geworden.
Natürlich weiß ich dass du mit der Zeit zerbrechen wirst, fast jeder von uns wird davon krank. Ich wünsche mir ein solches Schicksal für niemanden, erst recht nicht für dich. Deshalb werde ich dir mit der Zeit jemanden schicken, der dir gleicht. Wenn sie dich findet, ist sie bereit. Führe sie und hilf ihr, die richtigen Wege zu finden. Auch wenn dies merkwürdig klingen mag: Ich bitte dich hiermit, sie zu Unseresgleichen zu machen. Es ist eine schwere Endscheidung, und selbst wenn sie ablehnen sollte, hast du doch eine Freundin gefunden, solange sie lebt.
In Freundschaft, F.M.
Ich war verwirrt, als ich aufblickte und merkte förmlich, wie hinter mir Carmilla die Luft einsog. „Das steht außer Frage!“, zischte sie leise. Ich drehte mich zu ihr herum. Auch Katharina und Jonathan waren weiß im Gesicht. Beide starrten mich ungläubig an. Ich drehte mich zu Hildegard und Sarah um. Beide schüttelten den Kopf und sagten im Chor: „Niemals.“ Ich ging langsam auf Hildegard zu: „Würdest du mir einige Fragen beantworten?“ Sie nickte. Wir setzten uns. Zuerst ließ ich sie den Brief lesen, dann begann ich Fragen zu stellen: „Wie wird man ein Vampir? Wir haben viele Spuren gefunden, die darauf hindeuteten, dass du und Sarah früher Menschen wart.“ Hildegard sah mich an: „Ich habe mich dazu entschieden, mit meinem Herren zu fliehen. In unserem Dorf war eine regelrechte Jagd auf uns losgebrochen. Ihm war natürlich klar, dass ich als Mensch nicht sicher wäre, also verwandelte er mich. Wenn ein Mensch sich einem Bluttausch mit einem Vampir unterzieht, wird er selbst zu einem- einem schwächeren, aber zu einem Vampir. Und nicht zu einem Halbwesen. Susanne half uns- sie musste einen Teil von meines Herren Blutes nehmen, und meines damit versetzen. Sie selbst wollte uns nicht folgen. Einige Tage später wurde sie von der Dorfwache getötet, und um den Hass des unwissenden Volkes gegen Unseresgleichen zu schüren, wurde es so hingestellt, als ob meine Herr sie getötet hätten.“
Sie hatte während der Erzählung ihren Blick gesenkt, nun sah sie wieder auf und hatte Tränen in den Augen: „Als mein Herr dann schließlich starb, brach für mich die Welt zusammen. Nun musste ich alleine kämpfen, und dass in einer Zeit, in der aufgrund eines mittlerweile sehr berühmten Vampirbuches alle Welt wieder Angst vor Unseresgleichen bekam. Du musst wissen, dass wir... wie soll ich es ausdrücken…Fastvampire den Wesen, welche in den Büchern beschrieben werden, eher ähneln als normale Vampire. Wir leben zumeist zurückgezogen, haben lediglich zwei scharfe Zähne im Mund- ausgerechnet die Reißzähne- und wenn wir auch kein Blut trinken, so riechen wir es trotzdem. Du hast dich vorhin verletzt, nicht wahr? Ich rieche es. Aber das beschränkt sich nicht aufs Blut, wir riechen alles stärker als Menschen oder Vampire.
„Mein Herr und ich hatten uns schon vor einiger Zeit in die Hände der ‚Regierung‘ Unseresgleichens in London begeben. Zusammen mit einer anderen Fastvampirin, Sarah,“, sie zeigte auf die Nebenstehende, „waren wir in Sicherheit. Als mein Herr dann jedoch starb, wollte ich gehen. Sarah wollte mich schützen. Ich schrie sie an, dass sie nur ihrer Blutrache wegen leben würde, es kam zum Streit und unsere Wege trennten sich.“
Sie schluchzte: „Als ich floh, erfuhr ich, dass Sarah und ich die einzigen noch lebenden Fastvampire waren. Alle anderen waren ermordet worden. Ich ging nach Amerika und baute mir ein neues Leben auf, immer wieder. Ich habe zu keinem meiner Kinder, Enkel oder Urenkeln mehr Kontakt. Sarah hat recht: Ich frage mich, wofür ich überhaupt noch lebe!“ Ich sah sie die weinende Frau an: „Wofür? Lebe einfach, du solltest glücklich sein! Du hast alte Freunde, es gibt Menschen die dich suchen und sich für dich interessieren. Du hast Familie, die dich bestimmt akzeptieren würde!“ Hildegard lächelte: „Fileus hatte recht: Du erinnerst mich tatsächlich an mich. So wie ich früher war.“ Ich zitterte, als ich fragte: „Weißt du, was H. S. bedeuten könnte? Damit wurde der Brief unterschrieben.“ „H. S.? Hildegards Schutzengel vielleicht. Manchmal sagte er zu mir, dass er mein Schutzengel sei und immer auf mich aufpassen würde.“ Weitere Tränen rollten ihr über die Wange: „Was sagst du zu Fileus´ Willen?“ Ich sah meine Freunde an, Carmilla und Sarah: „Vielleicht. Irgendwann!“
Eine alte Legende besagte, dass selbst wenn gute Vampire sterben, ihre Seele erhalten bleibt und weiterhin Gutes tun kann. Viele Vampire haben dies versucht, keiner hat je wieder geantwortet. Wieso ist es gerade mir gelungen? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es der Wille, meiner lieben jungen Freundin zu helfen, vielleicht war es auch nur Glück. Wer sagt mir, dass es nicht vielleicht auch beides war. Ich weiß nur, dass sich mein Wille erfüllt hat, ob das Mädchen dieses Geschenk nun annimmt, oder nicht. Ich bleibe und beobachte sie. Fileus, der Herr, Hildegards Schutzengel oder einfach nur H.S.. Nenn mich, wie du willst.
Ich danke euch fürs Lesen und wünsche euch frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr!!!!
Mit vielen lieben Grüßen, eure Aonda
P.S.: Tut mir leid, die Bilder sind nicht so toll....