Kapitel 1 (geschrieben von Jucara)
„Ich habe dir doch gesagt, dass die öffentliche Schule nicht gut für ihn ist!“ Schon wieder streiten die beiden und wie immer geht es um mich. Meine Eltern haben mir noch nie gesagt, dass sie enttäuscht von mir sind. Auch haben sie mir nie Vorwürfe gemacht, doch ich bin nun mal kein kleiner Junge mehr. Wann jemand mir etwas vorspielt weiß ich ganz genau. Jeden Tag sagen sie mir beim Essen, dass bald alles besser werde und dass sie stolz auf mich seien. Sobald ich dann oben bin höre ich sie diskutieren, wer von ihnen an meinem verkorksten Leben Schuld ist.
Eigentlich ist es Unsinn, dass ich mich abends überhaupt noch jedes Mal vor ihnen ins Bett lege. Es verläuft doch immer gleich: Kaum liege ich unter der weichen Decke, beginne ich auf jedes Geräusch zu achten, denn was sollte ich sonst auch weiter tun? Wenn ich dann so in die Stille lausche, höre ich meine Eltern streiten. Monat um Monat, Woche um Woche, Tag um Tag. Es ist immer das selbe. Wenn der Versuch es zu ignorieren wie immer nicht gelingt, gehe ich zurück an den Computer. Dieser ist eine kleine Zuflucht. Mein ganz persönlicher Schutzraum.
Es ist ein teurer Computer mit Flachbildschirm und schmalem Tower. Als ich ihn gekauft habe war er von der Leistung her deutlich schlechter, als er jetzt ist. Wer sonst kann von sich behaupten, einen Computer und somit eine wertmäßig stark vom Alter Abhängige Sache nach drei Jahren im Wert verdoppelt zu haben? Ich schalte ICQ ein und dann Skype. Eigentlich sind diese Programme reine Platzverschwendung, denn ich habe in beiden Listen keinen einzigen Namen. Ab und an schreiben mich User an, die meinen Namen kennen, mich gesucht haben und dann mit Beleidigungen und Drohungen bombadieren oder mich um Geld bitten.
Ich bin es längst gewöhnt, dass die Leute mich nicht leiden konnten. Auf dem Gymnasium haben die, die Geld hatten Zeit mit mir verbracht, damit ich ihre Hausaufgaben machte, wogegen die, welche weniger Geld hatten ihre Freizeit dazu nutzten, mich mit vergammeltem Essen zu beschmeißen, zu schlagen oder sonst wie zu demütigen. Das ist damals Alltag gewesen. Komischerweise haben meine Eltern sich zu der Zeit noch vertragen. Sie haben einfach zu wenig Zeit für mich, um zu bemerken, wie es mir geht.
Dass ich es nicht mehr aushielt, haben die beiden erst gemerkt, als sie angerufen und darüber informiert wurden, dass ich im Krankenhaus lag. Hin und wieder war ich geschlagen worden, dies wussten sie, haben es aber als Antwort auf dumme Zankereien unter Jugendlichen abgetan und somit einfach hingenommen. Als sie dort hin kamen rechneten sie daher wohl bloß damit, dass einer der Jungen aus meiner Klasse es übertrieben hatte und ich vielleicht einen gebrochenen Finger hätte. Noch heute frage ich mich manchmal, was wohl in den Köpfen der beiden vorging, als sie hörten, dass ich aus dem Fenster des vierten Stocks in der Schule gesprungen war.
Ich wollte kein Mitleid und auch nicht mehr Zuwendung, mir war einfach nur wichtig, dass diese Quälerei aufhört. Eine halbe Stunde haben die beiden bei mir am Krankenbett gesessen und mit mir gesprochen, danach mussten beide wieder arbeiten. Meine Mutter arbeitet als Fillialleiterin bei einem Juwelier und mein Vater arbeitet im Management einer Elektronikfirma, deren Hauptumsatz mit Handys gemacht wird. Noch heute wissen meine Eltern nicht, wieso ich damals versucht habe mich umzubringen, sie haben sich aber auch nie die Mühe gemacht mich danach zu fragen. Sie sind bloß sauer, weil ich sie mit meinen unwichtigen Problemen beide aus einem Meeting geholt habe.
Immerhin habe ich seitdem einen Privatlehrer, der mir alles notwendige beibringt und wenn ich etwas brauche spreche ich meinen Butler, Walter, an. Es ist daher seit zehn Monaten nicht mehr notwendig für mich das Haus zu verlassen und seit dem tue ich dies auch nicht mehr. Die meiste Zeit verbringe ich am Computer. Zwar bin ich kein Freund von Computerspielen, aber ich verbringe meine Zeit gerne im Internet und lese mir durch, was in der Welt passiert. Es ist ein schönes Gefühl, zuzusehen, wie alles um mich herum zerfällt und genau zu wissen, dass ich hier drinnen sicher und aus der gesamten Welt mit all ihren Dramen und Tragödien mehr oder minder verschwunden bin.
Es tut mir gut, zu wissen, was andere Leute so durchmachen. Dies lässt das eigene Leben in einem nicht mehr ganz so schlechten Licht erscheinen. Manchmal klinke ich mich auch in fremde Computer ein oder schickte Viren, die mir den gesamten e-Mail verkehr offen legen. Es ist verboten und mit Sicherheit ist es auch irgendwie krank, doch wenn man sein eigenes Leben schön finden soll, muss man mit jemandem sprechen, der sein eigenes Leben völlig schrecklich findet und in allem schlechter dar steht, als man selbst.
Zu meiner Überraschung findet man auch im direkten Chat mit den Leuten einiges mehr über sie heraus, als sie einem von Angesicht zu Angesicht verraten. Auch ich selbst traue mich im Chat deutlich mehr von mir Preis zu geben, denn, wenn man dort beleidigt wird oder ähnliches, so kann man die Kontakte sperren oder sich völlig andere Chatroom suchen. Natürlich hat man dort nie die Sicherheit, dass die Informationen stimmen, doch ich bin in meinem Leben auch so oft von Leuten belogen worden, die direkt vor mir standen, dass es mittlerweile egal ist.
Der Computer bietet eine Sicherheit, die einem das normale Leben nicht geben kann: Man kann von sich erzählen, so wie man wirklich ist, ohne dass man dem anderen die Chance geben muss, einem selbst einen Strick daraus zu drehen. Man hat einfach nicht das Gefühl sich so durchsichtig zu machen, obwohl man es doch tut. Man verlässt sich lediglich auf das Gefühl, dass das Gegenüber einen nicht kennt. Es ist unglaublich, wie gut es tut zu lesen, dass auch nur ein einziger die eigene Meinung teilt, denn was würde ich nicht alles tun, für etwas Liebe, etwas Verständnis, etwas Freundschaft...
… und vielleicht ein bisschen Leben.
So, das war´s jetzt auch von mir.
Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen.