Kapitel 3
Im fahlen Licht des Morgengrauens hatte sich mein Entsetzen zumindest teilweise wieder gelegt, allerdings war nun mein
gesamter Vorrat an Süßigkeiten und Knabberzeug verbraucht, so daß ich heute wohl oder übel würde einkaufen gehen müssen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr; die ersten Geschäfte würden erst in einer Stunde öffnen - einer der Nachteile, wenn man
in so einer kleinen Ortschaft lebte, wie ich es im Moment tat. Um mich zu beschäftigen, begann ich damit, die Fenster zu putzen
und da im Fernsehen sowieso nur Werbesendungen liefen, schaltete ich den CD-Player an und drehte die Lautstärke voll auf.
Glücklicherweise war das Ehepaar, in dessen Haus ich als Untermieterin wohnte, zur Zeit auf einer mehrwöchigen Kreuzfahrt,
so dass die Musik niemanden stören würde, außer vielleicht die Hauskatze, doch die konnte sich zum Glück nicht bei mir beschweren.
Die beiden Eheleute waren recht umgängliche Zeitgenossen und hatten mir sogar angeboten, dass ich während ihrer Abwesenheit kostenlos hier wohnen könnte,
wenn ich ihre Katze versorgen und mich um die Blumen und den Frühjahrsputz kümmern würde. Nach kurzem Überlegen hatte ich schließlich zugestimmt,
denn auf diese Weise konnte ich das Geld, das sonst für die Miete verbraucht worden wäre, anders verwenden.
Als ich einige Stunden später mit dem Mofa Richtung Ortskern fuhr, stand die Sonne bereits über dem kleinen Hügelkamm, der südöstlich des Dorfes lag.
Der Himmel war kristallklar und es war ein warmer, milder Tag geworden und vielleicht würde das Licht und die Wärme dieses Tages sogar
bis in mein finsteres Inneres vordringen und die Schatten der Erinnerungen zumindest ein wenig vertreiben können.
Der Ortskern bestand im Wesentlichen aus einer Ladenzeile, einem Bäcker, einem Café und zwei Restaurants, sowie dem Rathaus samt Rathausplatz.
Etwas abseits befanden sich eine Schule und die beiden Kirchen, mit den dazugehörigen Friedhöfen. Es überraschte mich immer wieder,
dass so eine kleine Ortschaft über zwei Kirchen und zwei Friedhöfe verfügte, doch vermutlich war ich durch meine Kindheit zu sehr
an größere Städte gewöhnt, als dass ich mich wirklich in ein Kleindstadtleben einfühlen konnte.
Ich stellte mein Mofa auf dem Parkplatz in der Nähe des Rathauses ab und schlenderte dann zu Fuß durch die Altstadt.
Manche Häuser waren erstaunlich gut erhalten und an einer Stelle sah man sogar noch die Überreste der alten Stadtmauer.
Ich setzte mich auf die Terrasse des Cafés und bestellte mir heißen Kakao und Buttercroissants. Wäre dies eine Großstadt,
so wäre das Café sicherlich gut besucht gewesen und auch der angrenzende Platz und Park wären voller Menschen gewesen.
So jedoch sah man nur vereinzelt eine Mutter, die ihr Kind von der Schule abholte oder einen Spaziergänger, der seinen Hund ausführte.
Nachdem ich mich gestärkt hatte, kaufte ich die benötigten Lebensmittel für mich und neues Futter für die Katze ein.
Während ich an der Kasse stand und gedankenverloren durch die Glasscheibe nach draußen sah, glaubte ich auf der gegenüberliegenden Seite
eine Gestalt in dunkler Kleidung vorbeilaufen zu sehen. Hastig bezahlte ich und stopfte meine Einkäufe in zwei Taschen,
bevor ich nach draußen lief und mich in alle Richtungen wandte, doch von der Gestalt war nichts mehr zu sehen.
Vielleicht hatte mir das Spiel von Licht und Schatten nur einen Streich gespielt? Ich schüttelte verärgert den Kopf,
als könne ich so mehr Klarheit erlangen, als mein Blick auf einen bunten Wimpel fiel, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite
neben einer Ladentür befestigt worden war. Seltsam, dass ich den Laden bisher nie wahrgenommen hatte, dachte ich bei mir.
Der Laden beherbergte neben einem Reparaturservice für Elektrogeräte erfreulicherweise auch eine kleine Videothek
und so deckte ich mich mit einigen meiner Lieblingsfilme ein, um mir die langen, einsamen Abende zu verschönern,
denn die wenigen Sender, die man ohne SAT-Anlage empfangen konnte, trafen nicht unbedingt meinen Geschmack.
Hinter der Ladentheke entdeckte ich noch ein Sonderangebot für eine Videospielkonsole inklusive dreier Spiele,
die ich mir spontan selbst als Geschenk kaufte.
Der Ladenbesitzer, ein dicklicher Mann mittleren Alters, war so erfreut darüber, den "Staubfänger" endlich los zu sein,
dass er mir sogar noch ein Video als Bonus dazugab.
Schwerbepackt, doch durchaus wieder besserer Laune, ging ich zu meinem Mofa zurück, leise eine Melodie vor mich hinsummend.
Vielleicht würde zumindest dieser Tag ein guter Tag werden und wenn dieser Tag so war, vielleicht würde der morgige dann ebenfalls so sein …
Frohgemut erreichte ich das Mofa, gerade, als meine Einkäufe anfingen zu schwer zu werden und ich schon befürchtete,
dass sie mir aus den Händen fallen würden. Vermutlich bemerkte ich deshalb auch nicht sofort, dass der Deckel der Gepäckbox
nicht eingerastet war und der Zipfel eines Stoffes hervorlugte. Ich schlug den Deckel auf und erstarrte, konnte mich nicht vom Anblick
des bunt gemusterten Tuches lösen, eines Halstuches, dass jenem meiner Mutter auf frappierende Weise glich …
"Sieht so aus, als hätten wir denselben Filmgeschmack", riß mich unvermittelt eine Stimme aus meinen finsteren Erinnerungen
und somit auch aus meiner Erstarrung. Ich sah auf und begegnete dem dunklen Blick eines Augenpaares. Offensichtlich war mir,
ohne dass ich es bemerkt hatte, die Tüte mit den Videos entglitten und mehrere Videohüllen waren über den Asphalt gerutscht.
Mein Gegenüber musste sie, ohne dass ich es bemerkt hatte, aufgehoben haben und hielt sie mir nun entgegen.
So, Das war es auch wieder.