33.
Doktor Lengert lächelte Eileen sanft und aufmunternd an. Diese strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rieb sich die Arme.
„Bei Frau Doktor Heinrichsen sind Sie sehr gut aufgehoben, glauben Sie mir. Es ist jetzt einfach wichtig herauszufinden, wie fortgeschritten die Schwangerschaft schon ist. Nach den Blutwerten zu schätzen, könnten Sie bereits im vierten Monat sein.“
Eileen schauderte zusammen und merkte, wie ihr die Beine wieder schwach wurden. Sie war froh, dass der sympathische Arzt mit den blitzblauen Augen neben ihr stand und sie verständnisvoll beobachtete. Es schien ihr irgendeine Kraft einzuflössen.
Sie nickte, dann klopfte sie sachte an die Tür, an der ein Schild mit den Worten „Dr.med.A.Heinrichsen, Gynäkologie und Geburtshilfe“ hing.
„Herein!“, hörte sie eine helle, freundliche Stimme von innen. Sie warf ihrem Begleiter einen unsicheren Blick zu und dieser nickte erneut aufmunternd.
Gemeinsam betraten sie das Zimmer.
„Fabian!“ Die Frau im weißen Kittel erhob sich von ihrem Schreibtisch und lächelte Doktor Lengert zu. „Guten Morgen.“ Sie wandte sich Eileen zu und schüttelte ihr sanft die Hand.
„Sie sind sicherlich Frau Viersen, nicht wahr? Mein Kollege hat mich bereits informiert.“
„Ja“, sagte Eileen verunsichert und sah zu, wie Doktor Lengert seiner Kollegin ihre Patientenakte überreichte.
„So, ich verabschiede mich nun von Ihnen“, sagte er und lächelte Eileen wieder an, wobei erneut das Grübchen in seiner Wange erschien. Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden Hände und drückte sie, als wolle er ihr damit Kraft und Mut geben.
Seine Hände fühlten sich fest und doch weich und warm an.
„Ich habe jetzt Feierabend“, fügte er erklärend hinzu. „Da wir ja nun wissen, was der Grund für Ihre Ohnmacht war, spricht erst einmal nichts dagegen, Sie zu entlassen. Jedenfalls nicht von meiner Warte aus – die letzte Entscheidung liegt natürlich bei meiner Kollegin.“
Er zwinkerte ihr zu. „Wenn Sie mir also versprechen, sich zu schonen und alles zu tun, was Frau Heinrichsen Ihnen sagt…“
Diese lächelte verständnisvoll bei diesen Worten.
„Dann können Sie heute Mittag mit Ihren Eltern nach Hause fahren. Diese werden sich bestimmt noch um Sie kümmern - und das ist auch nötig.“
Er wurde wieder ernst. „Sie brauchen jetzt vor allem Ruhe, nicht nur wegen der Schwangerschaft, auch um wieder ganz von Grund auf zu Kräften zu kommen.“
„Aber… ich muss arbeiten gehen“, sagte Eileen hilflos.
Er nickte verständnisvoll, als habe er sofort begriffen, wieso dies in der momentanen Situation so wichtig sei.
„Von meiner Seite aus rate ich Ihnen mindestens den Rest der Woche zu Hause zu bleiben. Alles Weitere muss meine Kollegin entscheiden, denn das kann ich nicht beurteilen.“
Er lächelte und drückte ihre Hand noch einmal fester.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Viersen. Und ich hoffe, wir sehen uns zumindest hier nicht wieder.“ Er lächelte und sah sie einen ganzen Moment fest an. Eileen spürte ihr Herz erneut schneller pochen und fragte sich, ob ihr Kreislauf schon wieder schwach zu werden begann oder dies gar einen anderen Grund haben konnte.
„Ist gut“, sagte sie langsam und nickte. „Ich versuche, mich zu schonen. Versprochen.“
Sie lächelte und er nickte zufrieden, lächelte seine Kollegin noch einmal an und schloss dann die Tür hinter sich.
Doktor Heinrichsen berührte Eileen sanft am Arm. „Setzen Sie sich doch, Frau Viersen. Wie mein Kollege mir sagte, sind Sie erst seit einigen Stunden wieder auf. Sie sind sicher noch wacklig auf den Beinen.“
Eileen nickte, denn sie fühlte sich wirklich ziemlich schlapp.
Langsam setzte sie sich auf den Stuhl und sah der Ärztin zu, wie diese ihre Akte kurz überflog.
Eileen sah sich derweil im Zimmer um und merkte, wie sich plötzlich ihr Hals zuzuschnüren begann.
Seit Februar war sie in keiner gynäkologischen Praxis mehr gewesen. Sie hatte es einfach nicht über sich gebracht, an das, was sie einst in derartigen Räumen an Hoffnungen und Sehnsüchten erfahren hatte, erinnert zu werden.
Nun saß sie wieder hier. Und ihr wurde plötzlich mit aller Macht bewusst, was man ihr gesagt hatte: Sie war wieder schwanger.
Schwanger von Marcel.
Ihre Hände begannen zu zittern und sie versuchte, tief ein und auszuatmen, um nicht schon wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Wie hatte das nur passieren können? Und wann?
Und was sollte sie um Himmels Willen tun? Marcel hatte sie verlassen, sie stand finanziell mehr auf der Kippe denn je – wenn jetzt
alles passte, dann doch bloß kein Baby von ihm!
Wie konnte es nur sein, dass sich der seit dem Verlust immer wieder gehegte Wunsch ausgerechnet jetzt erfüllte?
Jetzt, wo er doch gar nichts mehr wert zu sein schien!!!
„Frau Viersen“, begann die Ärztin langsam. „Sie… ich gehe davon aus, dass die Schwangerschaft nicht gewollt war?“
Eileen schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
„Ich… nein… oder… doch, schon… nein... eigentlich nicht.“
Sie wischte sich über die Augen.
„Weinen Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist“, sagte Dr. Heinrichsen langsam.
Eileen begann nun zu schluchzen und stammelte: „Es… tut mir leid… ich… ich… wissen Sie, eigentlich wollten wir immer ein Baby, aber…“
Sie versuchte, gegen die Tränen anzuschlucken. „Wir … ich war Anfang des Jahres schwanger“, sagte sie dann mit brüchiger Stimme. „Im dritten Monat stellte man fest, dass das Kind nicht mehr lebte und…“
Die Ärztin sah sie mitfühlend an. „Ja?“, ermutigte sie Eileen zum Weitersprechen.
„Dann… kam ich zur Ausschabung. Es … ich habe kaum begriffen, was geschehen war und … schon war alles vorbei“. Sie schluchzte wieder und wusste auf einmal nicht mehr, worum sie jetzt weinte: um sich selbst, über die neue Schwangerschaft und die darum so vertrackte Situation oder über das kleine Wesen, das sie damals hatte gehen lassen müssen und das ihr immer noch fehlte.
„Ich… ich wollte danach wieder schwanger werden. Aber mein Mann… er… wir haben uns danach nicht mehr verstanden“, sagte sie unter Tränen. „Und dann… haben wir uns vor ein paar Wochen getrennt.“
Die Ärztin nickte verständnisvoll und schwieg eine Weile, während Eileen schluchzte.
Als Eileen sich nach und nach wieder beruhigte, reichte die Ärztin ihr ein Taschentuch und sagte dann langsam: „Die Situation ist alles andere als einfach. Das Kind ist vielleicht nicht grundlegend ungewollt, aber im Moment natürlich ein Schock für Sie.“
Eileen nickte.
„Und vielleicht haben Sie den ersten Verlust noch gar nicht recht verdaut“, sagte die Ärztin langsam. „Haben Sie jemals mit jemandem über Ihre Trauer gesprochen?“
„Nein“, sagte Eileen. „Mit wem denn?“
„Freunde? Familie? Was war mit Ihrem Mann?“
„Für ihn war das alles nicht mehr als ein… Fehler… oder ein missglückter Versuch“, schnaubte Eileen traurig.
Die Ärztin nickte. „Ja, das höre ich oft. Leider werden solche Verluste viel zu oft verdrängt.“
Sie lächelte Eileen sachte an. „Aber nun ist das Wunder noch einmal geschehen. Wollen Sie es denn zulassen?“
Eileen schluckte. „Ich… ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wann es passiert ist.“
Die Ärztin nickte, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und nahm ihre Schreibunterlagen zur Hand.
„Heute Morgen hat mein Kollege Ihren Blut-Hcg bestimmen lassen.“ Sie sah auf und fügte erklärend hinzu: „Das ist das Schwangerschaftshormon im Blut. Daran kann man grob erkennen, wie weit Sie sein könnten. Es kann sogar sein, dass Sie bereits über den dritten Monat hinaus sind.“
Eileen schluckte und sagte leise: „Das heißt… dass ich das Kind behalten muss, egal ob ich will?“
Die Ärztin nickte langsam. „Wenn die Ultraschalluntersuchung dieses Ergebnis bestätigt… ja.“
Sie sah Eileen lange an. Diese fühlte sich völlig bodenlos. Was sollte sie jetzt nur tun? Ihr Kopf schien ein einziger Wattebausch geworden zu sein und sie wusste nicht, was denken oder fühlen.
„Wann hatten Sie denn das letzte Mal Ihre Periode?“, fragte die Ärztin nun langsam.
„Ich… ich weiß es gar nicht“, erwiderte Eileen verwirrt. „Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass Sie regelmäßig kam – sie war das letzte Mal nur sehr schwach, das weiß ich noch genau – das war so… vor drei oder vier Wochen. Ich… ich habe die Pille nach der Fehlgeburt gar nicht erst wieder angefangen und mein Zyklus war danach nicht mehr ganz so wie vor der Schwangerschaft. Aber… ich habe noch einmal etwa drei oder... vier Wochen vor der Trennung meine Periode gehabt“, sie dachte nach. „Ich erinnere mich noch sehr gut, weil ich an diesem Wochenende nicht mit auf das Fußballspiel bin, denn ich hatte ein bisschen Krämpfe und war nicht gut gelaunt. Dann…“
Sie schluckte, als es ihr plötzlich einfiel. Es war das Wochenende danach gewesen. Marcel und seine Jungs hatten ein Heimspiel gewonnen, und Marcel hatte recht viel getrunken. Die Jungs waren mitgekommen und man hatte ausgelassen gefeiert.
Lene und Dirk waren auch dagewesen – und auch Eileen hatte zum ersten Mal seit langem wieder ein bisschen gefeiert und getrunken. Am Abend waren sie und Marcel so gut gelaunt gewesen, dass die Barriere zwischen ihnen zu bröckeln begonnen hatte und sie abends im Bett schnell zur Sache kamen.
Dies war jedoch das letzte Mal gewesen, dass sie miteinander schliefen.
Unter der Woche und im Alltagsstress waren die alten Probleme schnell wieder da gewesen – und zwei Wochen danach hatte sie bereits die verräterische SMS entdeckt
„Ich… ich denke, ich weiß, wann es passiert sein könnte“, sagte sie mit dünner Stimme und wies auf den Kalender.
Die Ärztin nickte. „Dann wären Sie jetzt bereits in der vierzehnten Woche, vielleicht eine Woche weiter nach vorne oder hinten, aber die Blutwerte würden damit übereinstimmen.“
„Und das bedeutet…“
„Wenn Sie auf einen Schwangerschaftsabbruch anspielen, dieser ist nur bis zur zwölften Woche möglich“, sagte die Ärztin sanft. „Aber darüber würde ich jetzt erst einmal gar nicht nachdenken. Lassen Sie uns erst einmal nachschauen, ja?“
Eileen nickte. Die Ärztin stand auf und führte sie zur Ultraschallliege.
Eileen schlüpfte aus der Trainingshose und ihrem Shirt – Ihre Mutter war direkt nach dem Gespräch mit Doktor Lengert zu ihr nach Haus gefahren und hatte ihr neue Kleidung geholt, da Eileen in dem Krankenhaushemdchen fast verrückt geworden war – und legte sich auf die Liege.
Ihr schossen die Bilder an das letzte Mal, als sie auf einer solchen gelegen hatte, durch den Kopf.
Die Ärztin machte den Bildschirm an und begann mit der Untersuchung.
„Das sieht alles gut aus“, sagte sie zu Eileen gewandt, die sie angespannt beobachtete.
„Na also“, sagte sie eine kleine Weile später. „Da haben wir es ja.“
„Sehen Sie nur“, sie drehte Eileen den Bildschirm zu. „Sehen Sie nur – das ist es. Das ist Ihr Baby.“
34.
Eileen saß zitternd auf dem Bett und starrte ins Leere. Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er zu einem gigantischen Wattebausch mutiert.
Ihre Mutter trat ins Zimmer und musterte sie sorgenvoll.
„Schatz… kann ich Dir etwas bringen?“, fragte sie sanft.
Eileen schüttelte den Kopf.
"Nein“, sagte sie und lächelte tapfer. „Nein. Ich… bin nur so durcheinander.“
„Du solltest ein wenig schlafen. Ich gehe runter zu deinem Vater ins Wohnzimmer.“
Eileen sah sie einen Moment an und erwiderte: „Ihr müsst eigentlich nicht bleiben, Mama. Ich… fühle mich schon wieder ganz gut und… eigentlich wäre ich jetzt gerne alleine.“
Ihre Mutter dachte einen Moment nach und sagte dann: „Eigentlich möchte ich dich nicht alleine hier lassen, Schatz. Was, wenn du doch noch einmal ohnmächtig wirst?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Du brauchst dich nicht ängstigen. Sowohl Doktor Lengert als auch die Frauenärztin haben gesagt, dass mein Zusammenbruch nur von der Aufregung, der Belastung und dem fehlenden Essen kamen. In der Schwangerschaft…“, sie schluckte und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, genau das gesagt zu haben. „Da braucht man einfach öfter etwas zu essen. Wegen dem Blutzucker.“
Ihre Mutter nickte. „Ich weiß, ich weiß. Aber… das alles…“, sie sah sich im Zimmer um, als stände dieses symbolisch für die Ereignisse der letzten Wochen. „War doch ziemlich viel und …“
„Mama, ihr könnt nicht hier einziehen für die kommenden Wochen. Ich muss jetzt einfach einen Weg finden, besser auf mich zu achten“, erwiderte Eileen müde. „Und ich würde gerne damit anfangen, indem ich ein wenig schlafe und einfach meine Ruhe habe. Bitte, Mama… ich habe euch gerne um mich, aber manchmal möchte man einfach alleine sein. Ich muss das ganze jetzt erst einmal verarbeiten, verdauen.“
Sie sah ihre Mutter ernst an.
„Gut“, erwiderte diese schließlich. „Wir fahren nach Hause. Aber bitte rufe mich noch einmal an, bevor du schlafen gehst. Morgen früh komme ich vorbei und bringe dir Frühstück und ein paar Einkäufe, ja?“
Eileen nickte. „Ja. Ich werde jetzt noch Lene anrufen und ihr erzählen, was los war. Sie muss mich auch bei meinem Chef entschuldigen.“ Eileens Herz sank bei dem Gedanken daran, dass sie nun schon wieder auf der Arbeit fehlen würde. Aber die Ärztin hatte nicht mit sich reden lassen. Den Rest der Woche musste Eileen auf jeden Fall im Bett oder zumindest auf der Couch verbringen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Glücklicherweise war schon Mittwochabend, aber drei Fehltage ließen sich nicht vermeiden.
„Gut, Schatz“, ihre Mutter lächelte und strich ihr über den Kopf, als sei sie wieder ein kleines Mädchen. „Dann ruh dich aus und wenn etwas ist, ruf uns an.“
Eileen nickte und lehnte sich in den Kissen zurück, während ihre Mutter das Zimmer verließ. Sie hörte sie unten gedämpft mit ihrem Vater sprechen – allen Anscheins nach führte sie jetzt fast genau dieselbe Diskussion mit ihm wie Eileen einige Minuten zuvor mit ihr geführt hatte – und schließlich fiel die Haustür ins Schloss. Eine Minute später war das Geräusch ihres Motors in der Ferne verklungen. Eileen seufzte tief. Draußen begann es bereits wieder zu dämmern.
Sie stand auf, griff nach ihrer Tasche und holte ein Ultraschallbildchen hervor, das sie nachdenklich betrachtete.
Das Baby war schon deutlich zu erkennen – kein Wunder, nach den Berechnungen der Ärztin war Eileen auch bereits im vierten Monat, ganz wie die Ärzte es schon vor der Untersuchung vermutet hatten.
Sie betrachtete das kleine Wesen lange. Es sah fast genauso aus wie das Baby damals, nur um einiges größer. Kleine Ärmchen, die schon kräftig in ihr herumruderten, ein heftig pochendes Herzchen, das eifrig auf dem Bildschirm gezuckt hatte. Das Kleine war wach gewesen, in ihrer Gebärmutter auf und nieder gehüpft, hatte mit Ärmchen und Beinen Schwimmbewegungen vollführt und einmal sogar die winzige Hand gehoben, als wolle es ihr durch den Bildschirm zuwinken und sich mit „Hallo Mama, da bin ich nun also“ vorstellen.
Ob es jedoch ein Junge oder ein Mädchen war, hatte man noch nicht erkennen können.
Eileen seufzte und legte das Bild sorgsam in ihren Nachttisch.
In ihr herrschte ein solches Wirrwarr an Gedanken und Gefühlen, das ihr davon fast schon wieder schwindelig wurde.
Der Himmel hatte sich mit Wolken zugezogen und Eileen war sich sicher, dass es bald wieder zu schneien anfangen würde. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch und hielt ob dieser Bewegung inne. Es war ihr fast, als spüre sie die kleinen Tritte in sich bereits, auch wenn das unmöglich war. Wie konnte es nur sein, dass seit fast acht Wochen ein zweites kleines Herzlein in ihr schlug und sie nichts davon bemerkt hatte?
Sie sah an sich herunter und musste unfreiwillig grinsen. Nun ja – fast nichts aus den enger werdenden Hosen. Wer hätte aber je gedacht, dass daran nicht die Sahnetorten sondern ein kleines Menschlein schuld sein könnte?
Eileen schüttelte den Kopf, immer noch völlig fassungslos. Immerhin hatte sie ihre Menstruation bekommen… sie schluckte. Im Nachhinein war ihr klar, dass das, was sie dafür gehalten hatte, wohl eher Zwischenblutungen gewesen sein mussten. Aber sie hatte gedacht, es sei eine – aufgrund der Umstände eben etwas durcheinander geratene – Periode gewesen.
Wer sollte es ihr schon übel nehmen, dass sie in den stressigen letzten Wochen alles andere im Sinne gehabt hatte als Zykluskalender zu führen? Zumal sie ja abstinent gelebt hatte… nun ja, zumindest
nach der Trennung.
Sie kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob das eigentlich alles nur ein verrückter Traum sei? Aber wo fing er an und wann hörte er auf?
Stöhnend griff sie sich an die Stirn, es fühlte sich an, als platze ihr Kopf, nicht vor Schmerz, sondern von der Fülle an Gedanken darin, die allesamt keinen rechten Sinn geben wollten.
Ihr Magen knurrte, so dass sie das Schlafzimmer verließ und nach unten in die Küche ging. Im Kühlschrank fand sich eine vorsorglich von ihrer Mutter vorbereitete Platte mit belegten Broten, von denen sie sich eines auf einen Teller legte.
Sie wollte keinesfalls riskieren, dass ihr wieder der Boden unter den Füßen verloren ging.
Nachdem sie sich gestärkt hatte, warf sie einen Blick zur Uhr. Es war nun fast halb sechs, und Lene dürfte inzwischen zu Hause angekommen sein. Also griff sie nach dem Hörer und holte tief Luft.
Bisher wusste Lene nur, dass sie heute krank war – ihre Mutter hatte sie kurz von der Klinik aus angerufen, aber nichts Genaues gesagt.
Wie sollte sie ihrer Freundin nur beibringen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden alles geschehen war?
„What a difference a day made. Twenty-four little hours…”, ging Eileen der alte Song von Diana Washington durch den Kopf.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie es tuten und schließlich meldete Lene sich atemlos.
„Hallo?“
„Hei, Eileen hier.“
„Eileen! Wie schön, dass du anrufst. Mensch, ich hab mir den ganzen Tag Sorgen gemacht. Was ist los, wo bist du?“
Eileen schluckte und wusste nicht recht, wo sie anfangen sollte. Schließlich sagte sie langsam: „Das ist eine lange Geschichte, Lene.“
„Was ist passiert?“ Lene klang erschrocken. „Geht es dir gut?“
„Ja, soweit. Ich bin zu Hause.“
„Warst du denn woanders?“
Eileen kratzte sich am Kopf. „Hat meine Mutter dir nichts gesagt?“
„Sie rief nur an und sagte, du kannst nicht kommen.“
„Oh...“, Eileen biss sich auf die Lippen. Sie hätte gedacht, dass Lene wenigstens die groben Fakten wusste. „Also… ich war im Krankenhaus. Bis vorhin.“
„Du selbst? Was ist los?“
„Längere Geschichte“, sagte sie erneut und schnitt eine Grimasse, auch wenn Lene sie nicht sehen konnte.
„Soll ich vorbeikommen?“, bot Marlene sofort an.
Doch Eileen schüttelte den Kopf und sagte schnell: „Nein – sei mir nicht böse, aber ich bin noch nicht wieder ganz auf den Beinen. Ich werde gleich schlafen gehen. Also, Lene… ich versuch es mal in der Kurzform… ich…“
„Ja?“
„Ich bin schwanger, Lene.“
Schweigen am Telefon. Eine halbe Minute. Eine Minute.
„Lene?“
Eileen ging nervös auf und ab„Bist du noch dran?“
„Ja. Sag mal…willst du mich vergackeiern?“
Sie klang wütend.
Eileens Stimme wurde zittrig. „Ich wünschte, es wäre so.“
„Wie kannst du schwanger sein? Von wem?“
Erst jetzt begriff Eileen, was Lene von ihr denken musste.
„Nein… nein, nein“, rief sie schnell aus. „Nicht so wie du denkst!“
„Was denke ich denn?“, gab Lene schmollend zurück. „Ich denke, du hättest es mir wenigstens erzählen können, dass du schon jemand neuen hast…“
„Nein, Lene, stopp – stopp!“, rief Eileen hastig in den Hörer. „Du irrst dich. Ich bin schwanger… von Marcel schwanger.“
„Wie bitte? Seit wann läuft das wieder?“
Eileen wäre am liebsten durch den Hörer gesprungen und hätte Lene geschüttelt.
„Lene! Nun hör mir doch erstmal zu! Ich bin bereits im vierten Monat! Es… es ist Marcels Kind. Es ist… noch vor der Trennung passiert, verstehst du!“
Wieder Schweigen. Dann ein „Oh“, von Marlene.
War das alles? Eileen schwieg und wartete darauf, dass Marlene etwas sagte. Nach einer schier endlos scheinenden Zeit tat sie es dann auch: „Wie… wie kann das sein? Hast du es nicht gemerkt?“
„Nein“, erwiderte Eileen und versuchte den Ärger über den Ton, in dem ihre Freundin den letzten Satz gesagt hatte, hinunter zu schlucken. „Nein, ich hatte meine Periode und ich hätte nie gedacht, dass ich schwanger sein könnte.“
Marlene schwieg erneut. Dann fragte sie: „Und jetzt ist es weg?“
Eileen riss die Augen auf. „Was? Wie kommst du darauf?“
„Na… weil du im Krankenhaus warst. Ich dachte, du…“
„Du dachtest, ich hab es wegmachen lassen“, vollendete Eileen ihren Satz. „Und es dir jetzt erst erzählt, oder wie?“
Marlene schien sich nun unsicher zu werden.
„Nein… ich… dachte nur, dass du vielleicht… dass du deswegen in der Klinik warst und…“
„Nein, deswegen nicht“, sagte Eileen mit plötzlich sehr kalter Stimme. „Ich war gestern in der Klinik, weil Marcel einen Autounfall hatte.“
„Ach herrjeh!“, rief Marlene aus. „Habe ich ihm zu sehr den Teufel an den Hals gewünscht?“
Eileen konnte sich nur noch über ihre Freundin wundern. Ihre Offenbarung, von ihrem Mann, der sie einige Wochen zuvor wegen einer anderen verlassen hatte, im vierten Monat schwanger zu sein, löste endloses Schweigen und merkwürdige Rückschlüsse bei ihr aus, aber die Aussage, dass eben jener Mann einen Unfall gehabt hatte, löste ihre Zunge?
„Nun, es geht ihm nicht schlecht, aber… mir ging es nach der Aufregung nicht so gut, und die Ärzte haben mich über Nacht dabehalten und dabei gemerkt, dass ich schwanger bin“, kürzte sie die aufreibenden Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden ab.
„Und nun?“, fragte Marlene abermals. „Wirst du das Kind behalten?“
Wieder spürte Eileen einen eisigen Zorn in sich über die Flapsigkeit, mit der ihre Freundin diesen Satz äußerte.
„Marlene – ich bin schon mitten des vierten Monats!“, rief sie aus. „Ich habe gar keine Wahl!“
„Oh“, stieß diese wieder hervor und verfiel dann wieder in ihr Schweigen. Schließlich sagte sie vorsichtig: „Und… gibt es da gar keine Möglichkeit? Vielleicht in einem Nachbarland oder bei einem privaten Arzt?“
Eileen schluckte. „Marlene, sag mal… hast du was getrunken?“
„Nein, wieso?“
„Weil… weißt du, was du da gerade gesagt hast?“
Marlene schluckte schuldbewusst. „Ja… ich meine… ach Mensch, Eileen, ich weiß auch nicht, was ich jetzt sagen soll. Ich meine… du bist ohnehin am Ende, nun auch noch ein Kind, auch noch von Marcel. Ich frage mich eben nur, wie das gehen soll?“
„Es muss und wird wohl gehen“, sagte Eileen fest. „Schließlich ist es jetzt da. Und es ist mein Baby und… kann nichts dafür, was sein Vater getan hat. Es verdient genauso die Chance auf Leben und Liebe wie sein Geschwisterchen sie auch hatte.“
Erst jetzt, als sie diese Worte so inbrünstig sprach, realisierte sie, dass das genauso war. Und dann spürte sie, wie ein warmes Gefühl für das kleine Wesen in ihr aufzusteigen begann und ihre Brust erfüllte.
„Es ist mein Kind“, sagte sie darum fest. „Und irgendwie schaffe ich das schon.“
„Na… gut, wenn du meinst“, erwiderte Marlene und klang wenig überzeugt. Eileen wäre ihr am liebsten ins Gesicht gesprungen. Was gab es denn für Alternativen und wie konnte Marlene nur so wenig teilnehmen?
„Nun ja…“, sagte Eileen schnell und versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken. „Jedenfalls haben mich die Ärzte für die nächsten zwei Tage aus dem Verkehr gezogen. Ich weiß, das ist nicht gut, aber ich habe sie nicht überzeugen können. Aber am Montag bin ich wieder da. Sagst du Herrn Kuhrmaier, dass es mir leid tut?“
„Und was soll ich sagen, wieso du schon wieder fehlst?“, fragte Marlene ratlos.
„Sag, ich bin krank. Den Rest bespreche ich am Montag mit ihm“, erwiderte Eileen rasch. „Ich muss jetzt auflegen. Bis dann.“
Und ehe Marlene noch ein Wort hatte sagen können, legte Eileen auf. Wütend funkelte sie das Telefon an. In manchen Dingen war Marlene einfach ein unsensibles Trampeltier!
Doch dann legte sie den Hörer beiseite und sah an sich hinunter. Und zum ersten Mal berührte sie ihren Bauch mit jener Zärtlichkeit, die sie noch von früher kannte – und plötzlich fühlte sie sich nicht mehr verwirrt oder verzweifelt.
Sondern glücklich. Einfach glücklich
35.
„Bin ich denn verpflichtet, es ihm zu sagen?“
Eileen sah ihre Anwältin fragend an.
Diese machte eine unsichere Handbewegung.
„Das liegt im Auge des Betrachters. Aber Sie sollten es ihm sagen.“
Eileen seufzte, während ihre Anwältin einen Schluck Kaffee trank und sie dann ernst ansah.
„Es ist nicht nur die moralische Frage, Frau Viersen. Es ist wichtig, dass Ihr Mann für das Kind aufkommt, sobald es geboren ist. Auch wenn es bis dahin noch einige Monate sind. Und auch was sein Drängen bezüglich des Hauses angeht – ich sage es nur ungern, aber wir haben durch die Schwangerschaft einen Joker in der Hand. Kein Richter der Welt würde Ihnen das Einsitzrecht im Haus absprechen in dieser Situation.“
Eileen sah die Anwältin unbehaglich an. „Mir gefällt es nicht, dass das Kind für solche Dinge herhalten soll“, sagte sie dann.
Ihre Anwältin nickte. „Ja, mir auch nicht. Und grundlegend hat Ihr Mann ja ohnehin nicht das Recht, auf einen Hausverkauf zu bestehen.“
„Das hat er aber gesagt“, erwiderte Eileen und stützte einen Arm auf die gläserne Tischplatte. Sie war froh, dass ihre Anwältin so schnell und unkompliziert war und einfach zu ihr nach Hause gekommen war, nachdem sie von den Ereignissen in der Klinik erfahren hatte.
Nachdem sie eine Nacht über alles geschlafen hatte, war Eileen am Morgen aufgewacht und hatte sich unablässig die Frage gestellt, wie es nun weitergehen sollte.
Ihre Mutterliebe zu dem heranwachsenden Kind in ihrem Bauch war entfacht worden, und es gab für sie nun keine Frage mehr, dass sie das Kind lieben und ihm eine gute Mutter sein wollte.
Aber konnte sie das überhaupt? Sie schaffte es zurzeit ja kaum, sich selbst zu versorgen. Was würde geschehen, wenn sie nicht mehr arbeiten ging? Schon jetzt konnte sie das Haus kaum halten, und Marcel würde, sobald er sich erholt hatte, sicherlich weiterhin mit harten Bandagen kämpfen.
Jedoch war die viel größere Frage, ob und wie sie Marcel beibringen sollte, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug. Wollte sie es ihm überhaupt sagen, nach allem, was er getan hatte?
Sie wusste, dass sie es vielleicht schon im Krankenhaus, direkt nach der Untersuchung, hätte tun sollen. Immerhin lagen sie nur wenige Meter und Zimmer entfernt voneinander auf derselben Station.
Aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, schon gar nicht nach den Ereignissen des Vorabends.
Vermutlich war das auch besser so gewesen, denn sie hatte erst einmal für sich selbst sortieren müssen, wie sie zu allem stand und was sie fühlte.
Als Eileen klar geworden war, dass sie gar nicht wusste, was nun auf sie zukam, welche Rechte und Pflichten sie angesichts dieser vertrackten Situation hatte, war ihr nächster Weg der zum Telefon gewesen, um mit ihrer Anwältin zu sprechen.
Diese machte in diesem Moment eine wegwerfende Geste mit der Hand und sagte: „Frau Viersen, so wie ich die Lage einschätze, hat Ihr Mann nur versucht, Sie einzuschüchtern.“
„Nun ja… er verdient sehr gut“, sagte Eileen langsam. „Er … wird sicher mehr als einen Anwalt darauf ansetzen.“
Frau Walter sah sie einen Moment an und schien dann zu begreifen, worauf ihre Klientin hinaus wollte. Zu Eileens Erleichterung nahm sie die Anspielung auf die Tatsache, dass Marcel mehr Geld hatte, um „teurere“ Anwälte zu bezahlen, nicht als Kränkung auf, sondern sagte fest: „Ich weiß, was Sie denken. Aber nur weil jemand einen hohen Tarif verlangt, ist er nicht unbedingt besser. Gesetz ist letztlich immer noch Gesetz. Natürlich gibt es Grauzonen und für uns Anwälte die Möglichkeit, Tatsachen so oder so zu drehen und wenden, um gewisse Dinge zu vermeiden oder zu erreichen. Hier liegt die Sache jedoch ganz klar. Ihr Mann hat sich ebenso wie Sie vertraglich verpflichtet, das Haus und dessen Schuldenlast zu tragen und abzubezahlen, völlig unabhängig von einem Einsitz- oder Wohnrecht.
Abgesehen davon wird Ihnen aufgrund Ihrer geringeren Vermögensverhältnisse das Haus auf jeden Fall als Wohnsitz zugesprochen werden. Und in Anbetracht der Schwangerschaft ohnehin.“
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich kann die Männer manchmal nicht verstehen. Wobei – wir wollen nicht ungerecht sein, eine gekränkte Ehefrau kann auch jeden Anstand vergessen und über die Stränge hinaus schlagen. Auch das habe ich schon erlebt. Und doch sind es oft die Männer, die sich der Illusion hingeben, dass sie sich einfach aus allen Verpflichtungen einer Ehe lösen können. Oftmals sogar aus jenen der Vaterschaft.“
Sie lächelte Eileen zu. „Ich hoffe, dass Ihr Mann wenigstens jetzt zur Vernunft kommt und Sie nicht weiter bekriegt. Allein des Kindes wegen, das schließlich auch seines ist.“
Sie sah Eileen lange an und fragte dann: „Haben Sie sich schon einmal überlegt, ob diese Wendung jetzt vielleicht doch Einfluss darauf nehmen könnte, wie Ihre Ehe weitergeht?“
Eileen sah sie fragend an. Frau Walter zuckte die Achseln und sagte vorsichtig: „Ich hatte schon einmal einen ähnlichen Fall, und das gemeinsame Kind hat beide Parteien noch einmal zum Nachdenken gebracht. Sie haben es noch einmal miteinander versucht – und erstaunlicherweise hat es funktioniert. Das war sicherlich ein Einzelfall, er ist mir aber gut in Erinnerung geblieben.“
Eileen sah sie nachdenklich an. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, erwiderte sie dann langsam. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir noch eine Chance hätten. Sowieso nicht nach allem, was mein Mann sich mir gegenüber geleistet hat. Ich würde ihm am liebsten noch nicht einmal von dem Kind erzählen…“
Sie dachte wütend an Marcels Gleichgültigkeit nach dem Verlust ihres ersten Kindes. Wahrscheinlich würde ihn dieses Kind jetzt noch weniger interessieren.
„Sie sollten es ihm sagen“, sagte Frau Walter beharrlich. „Er hat ein Recht es zu erfahren und Sie ein Recht, die nötige Unterstützung zu bekommen.“
Dann warf sie einen Blick auf Eileens Bauch, den man nun – mit dem Wissen, was sich darin verbarg – plötzlich wahrzunehmen begann.
„Darüber hinaus wird er es ohnehin irgendwann erfahren. Sie können ihm wohl schlecht die nächsten Monate aus dem Weg gehen…“
Sie lächelte.
Eileen nickte. „Ja, Sie haben recht. Aber ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Ich kann doch nicht einfach zu ihm gehen und ihm sagen, hallo, ich bin schwanger von dir, was machen wir jetzt.“
Sie seufzte schwer. „Es ist furchtbar kompliziert.“
Frau Walter nickte. „Hören Sie, Frau Viersen, haben Sie schon einmal überlegt, sich therapeutische Hilfe zu suchen?“
Eileen sah sie überrascht an. „Nein – ich… wieso? Ich meine, ich bin ja nicht verrückt geworden, nur… ist alles so schwierig.“
Frau Walter lächelte und schüttelte dann den Kopf. „Dass die Menschen immer noch denken, man muss erst *verrückt* werden, um einen Therapeuten zu brauchen. Nein, so meine ich das nicht. Ich denke nur, dass Sie in einer sehr schwierigen, emotional belastenden Situation stecken und da tut es manchmal gut, mit jemandem reden zu können, der ganz neutral ist.“
Eileen sah sie nachdenklich an.
„Meinen Sie?“
Frau Walter nickte. „Ja – ich empfehle das den meisten meiner Klientinnen, aber bei Ihnen ist die Lage durch die Schwangerschaft noch schwieriger als in den Regelfällen.“
Sie schob eine kleine Visitenkarte über den Tisch zu Eileen hinüber.
„Ich kann diese Dame hier besonders empfehlen“, sagte sie dann warm und sah Eileen mitfühlend an. „Rufen Sie doch einfach mal an und schauen Sie, ob es etwas für Sie ist.“
Eileen nickte dankbar. „Das ist sehr nett von Ihnen. Ich kann es mir ja mal überlegen.“
Frau Walter nahm einen letzten Schluck Kaffee und sagte dann: „Gut, Frau Viersen. Ich denke, das rechtliche haben wir geklärt. Sie sollten es Ihrem Mann wirklich sagen. So bald wie möglich. Und dann schauen wir mal, ob er auf seiner abstrusen Forderung bezüglich des Hauses überhaupt noch weiter beharren wird.“
Eileen nickte und stand ebenso wie die Anwältin auf. Sie schüttelten sich zum Abschied die Hand.
„Danke, dass Sie vorbei gekommen sind.“
„Das war doch selbstverständlich. Für Sie ist es jetzt erst einmal wichtig, sich auszuruhen und zu Kräften zu kommen“. Frau Walter lächelte ihr aufmunternd zu. „Dann sieht die Welt schon wieder anders aus.“
Eileen nickte und öffnete ihr die Haustüre. Die frische, kalte Novemberluft drang in die kleine Diele.
Eileen blieb noch einen Moment in der Tür stehen und sog die frische Luft tief ein.
Frau Walter balancierte auf ihren High Heels durch den Schnee, winkte noch einmal und brauste dann in ihrem schwarzen Wagen von dannen.
Eileen sah ihr nach und drehte sich dann um. Das Herz wurde ihr wehmütig schwer. Sie dachte an die vergangenen Winter, deren Behaglichkeit und Geborgenheit.
Das Gefühl völliger Einsamkeit übermannte sie mit einer solchen Wucht, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie fühlte sich so alleine und verlassen! Würde dieses Gefühl denn niemals weniger werden, seinen Schmerz verlieren?
Die Sehnsucht, von jemandem in den Arm genommen, geküsst und gehalten zu werden, war so übermenschlich groß, dass sie aus Verzweiflung die Arme um sich selbst schlang und sich hin und her wiegte. Noch dazu stand der Advent direkt bevor. Eileen schloss sachte die Haustüre und ging zurück ins Wohnzimmer.
Es war so still und leer, während draußen der Schnee sanft zur Erde fiel. Ungläubig dachte sie daran, wie heil ihre Welt noch vor einem Jahr gewesen war, ohne Verlust, ohne Verlassenwerden, ohne Einsamkeit, Schmerz.
Geordnet, warm und vollständig war ihre Welt gewesen. Was gäbe sie jetzt für die Sorgen dieser Zeit, die sich einfach so hatten lösen lassen, wenn man nur nach der Lösung gesucht hatte.
Jetzt stand sie vor den Trümmern ihres Lebens, es war kaum noch etwas übrig geblieben. Sanft strich sie über ihren Bauch. Kaum noch etwas, außer diesem kleinen Wesen in ihr, das sich einen so ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht hatte, den Schritt ins Leben zu wagen, wie man ihn sich kaum ungünstiger hätte vorstellen können.
Eileen rollte sich auf der Couch zusammen und zog die Beine an.
Die Stille und Leere im Haus schienen sie fast zu erdrücken. Sie schloss die Augen und sah die Bilder ihres einst so heilen Lebens vor sich aufsteigen.
Was, wenn sie die SMS nicht entdeckt hätte? Was, wenn sie einfach noch einige Wochen in der heilen Welt hätte weiterleben dürfen, die sie vorher besessen hatte?
Und dann gemerkt hätte, dass ein neues kleines Leben in ihr heranwuchs.
Sie stellte sich vor, wie sie es Marcel gesagt hätte. Was hätte er getan? Hätte er seine neue Freundin verlassen, nun da die Sachlage so anders gewesen wäre?
Und heute läge sie hier nicht alleine, sondern in seinen Armen, während er ihr liebevoll über den Bauch streicheln würde, so wie er es damals auch hin und wieder getan hatte?
Die Vorstellung daran war so real, dass sie ihr die Luft abschnürte. Sie hatte das Gefühl, nur danach greifen zu müssen.
Doch dann riss sie die Augen auf und die Einsamkeit nahm sie wieder ein, genauso wie die Realität. Nein, sie hätte es nicht gewollt. Sie war froh, dass es so gekommen war. Die Vorstellung, weiterhin nur die „zweite“ zu sein, während in ihrem Bauch das Kind herangewachsen wäre, schnürte ihr die Kehle zu. Es war besser, dass sie alles rechtzeitig herausgefunden hatte.
Und doch half diese Erkenntnis nicht gegen die Einsamkeit, die sich wie ein kalter Mantel um sie zu legen begann. Sie schloss erneut die Augen und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie sehnte sich nach ihm. Sie sehnte sich immer noch.
Sie wollte nicht mehr alleine. Sie wollte all das nicht alleine ertragen müssen.
In ihr brannte sich das Bild dessen ein, was hätte sein können.
Sie ließ den Schmerz kommen, ihn die Macht über sich gewinnen, in der erlösten Empfindung, für einen kleinen Moment endlich einmal nicht mehr kämpfen zu müssen.
Sich in dieses Gefühl fallen lassen zu können, welches das innere Bild in ihr auslöste.
Das Weinen machte sie müde und ihre Augen wollten nicht mehr offen bleiben.
Und bevor ein leichter Schlaf sie gnädig ergriff, fing das Bild in ihr sich zu verändern an. Und mit einemmal ergriff sie Wärme und Geborgenheit und sanft glitt sie in den Schlaf.