Dialog:
Gesprochenes Minako
Gesprochenes Hans
Gesprochenes Jürgen
____________________________________________
Kapitel 1
Langsam öffnete die Frau ihre Augen. Sie lag in einer kleinen Kammer in einem Bett. Ihr Kopf tat ihr weh und sie war müde und erschöpft. Kleine Schweißperlen flossen ihr über die Stirn hinunter, eindeutig hatte sie Fieber. Vorsichtig richtete sie sich auf und versuchte sich zu erinnern. Wo war sie hier? Was war geschehen? Und vor allem: Wer war sie???
Verwirrt und verzweifelt zugleich lies sie ihre nackten Füße auf den kalten Holzboden gleiten. Als sie aufstand geriet sie kurz ins wanken, hob sich schnell an der Bettkante fest und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann wankte sie unsicher auf den kleinen Spiegel zu, der am anderen Ende des Zimmers an der Wand angebracht war. Ihr Spiegelbild zeigte eine junge Fau anfang 20. Sie hatte auffallende, violette Haare und braune Augen. Ihr Gesicht hatte gleichmäßige Züge und zeigte keine Unreinheiten. Anscheinend stammte, oder war sie eine Asiatin. Sie wäre tatsächlich ganz hübsch gewesen, würden ihre Haare auf der schweißnassen Stirn kleben und ihr Gesicht ein wenig mehr Farbe hätte.
Doch das alles war ihr egal. Dieses Gesicht war ihr fremd. Sie kannte es nicht, oder – konnte sich nicht daran erinnern. Nein, sie konnte sich an nichts erinnern... Weder an das kleine Zimmer mit der alten Tapete und den wenigen Möbelstücken, noch konnte sie sich an die Landschaft erinnern, die man durch das kleine, einzigste Fenster erkennen konnte. Tränen der Verzweiflung ronnen ihr die Wangen hinunter. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie sich schon jemals so allein gefühlt hatte. Langsam ging sie zurück zu dem Bett. Sie setzte sich auf die Bettkante. Eine eisige Kälte breitete sich in ihr aus, steigerte das Gefühl der Einsamkeit, der Verzweiflung.
Sie legte sich wieder hin. Jetzt schmerzte auch noch ihr Hinterkopf. Mit der Hand konnte sie eine große Wunde fühlen, wahrscheinlich eine Platzwunde. Sie blutete nicht, oder nicht mehr. Abermals stellte sich die Frau die Frage: Was war bloß geschehen?
Minuten, vielleicht auch Stunden später hörte sie Schritte. Jemand kam eine Holztreppe herauf, die bei jedem Schritt knarzte. Die Frau blickte auf die alte Tür, die sich einen Moment später öffnete. Ein junger Mann kam herein, er war wahrscheinlich in ihrem Alter, und lächelte sie freundlich an. Die Frau rutschte unwillkürlich weiter unter die Decke.
„Geht es ihnen besser“, fragte er, trat dabei näher an das Bett heran.
„Ja...ich...ich weiß nicht“, antwortete sie.
„Aha. Ich habe Sie draußen im Schnee liegend gefunden, sie waren völlig durchnässt und haben Fieber. Das war übrigens vor zwei Tagen, Sie haben bis jetzt geschlafen.“
„Ahja. Ähm...können Sie mir vielleicht helfen?“
„Ja, natürlich.“
„Ich weiß nicht wer ich bin!“
Verdutzt sah er die Frau an, rannte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Kurz darauf hörte sie wieder die Treppe knarren. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Sie fühlte sich einfach nur allein und verzweifelt. Sie lief ans Fenster, öffnete es, um kurz Luft zu schnappen. Draußen war es eiskalt, alles war verschneit und glitzerte.
Niemand konnte ihr helfen... Sie lies sich auf dem kleinen Hocker neben dem Fenster nieder und wartete... Dann, endlich kam der Mann wieder. Er hatte eine Tasse dabei, die dampfte und erdächtig nach Tee roch. Er stellte sie zusammen mit einer Zeitschrift auf einen kleinen Tisch in der Ecke und zog sich einen weiteren Hocker herbei, um sich ihr gegenüber nieder zu lassen.
„Und Sie können sich wirklich an nichts erinnern, Minako?“
„Minako? Ist das mein Name? Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Minako... Woher kennen Sie mich, was wissen Sie über mein Leben?“
„Ich erzähle ihnen gern alles, aber erst mal – ich bin Hans.“
„Hallo Hans. Ich glaube in dem Fall brauche ich mich nicht vorstellen, meinen Namen wissen Sie, entschuldigung weißt du ja.“
„Ok. Aber bevor ich ihnen das alles jetzt erzähle... geh wieder ins Bett, du zitterst ja!“
Minako war gar nicht aufgefallen, dass es sie am ganzen Körper durchschüttelte. Sie stand gehorsam auf und legte sich wieder in das warme Bett. Sie nahm die Tasse Pfefferminztee von Hans entgegen und schlürfte vorsichtig daran. Dann starrte sie erwartungsvoll Hans an, der endlich zu erzählen begann.
„Dein Name ist Minako Scholl und du bist 22 Jahre alt. Du bist am 30.11.1983 geboren. Das wars.“
„Das wars? Nicht mehr?“
„Was, nicht mehr? Diese paar wenigen Informationen weiß ich aus deinem Ausweis. Du bist Vorgestern ca. 500 Meter von meinem Haus entfernt im Schnee gelegen. Ich hab dich mitgenommen und dich hier in dieses Zimmer gebracht, damit du da draußen nicht erfirerst. Weshalb sollte ich mehr über dich wissen?“
„Naja, ich dachte, dass wir uns vielleicht schon gekannt haben, bevor ich im Schnee gelegen bin. Und du weißt auch nicht, wie ich überhaupt da in den Schnee gekommen bin?“
„Nein, tut mir Leid. Alles was ich weiß hab ich dir bereits gesagt.“
Leicht verägert schaute er sie an. Minako merkte sofort, dass sie eine Spur zu Zickig war und lächelte deshalb entschuldigend.
„Tut mir Leid. Ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich weiß nur nicht, was ich jetzt machen soll... Ich meine, wo soll ich hin, wo soll ich leben? Ich habe keine Ahnung was ich machen soll. Ich kenne niemanden mehr, zu dem ich könnte, der mir helfen kann und der mich kennt.“
„Von mit aus kannst du fürs erste hier bleiben. Aber du wirst mir dann ein wenig helfen müssen, wenn ich dir dieses Zimmer hier überlasse. Vielleicht ein wenig putzen und kochen – wenn du das kannst.“
„Das wäre auf jeden Fall eine Möglichkeit für den Anfang. Vielleicht fällt mir alles wieder ein... irgendwann.“
„Na gut. Dann machen wir es so. Ich lass dich jetzt alleine. Hinten auf dem Tisch liegt eine Zeitschrift, falls du lesen möchtest und wenn du etwas brauchst, dann komm einfach die Treppe runter und ruf nach mir. Ich habe übrigens deine nasse Kleidung gewaschen und getrocknet, ich bring sie dir später hoch.“
„Danke. Für alles!“
Hans lächelte nocheinmal kurz, drehte sich um und verließ das Zimmer. Minako blieb in dem warmen Bett. Sie war nicht mehr ganz so traurig. Immerhin war sie nicht mehr allein. Trotzdem nicht gerade glücklich schlief sie letztendlich ein.
*****
Minako lebte sich mit der Zeit immer besser ein. Der kleine Hof den Hans bewirtschaftete, konnte zwar nur ein Pferd und zwei Kühe vorweisen, aber dafür war das Haus mitlerweile total sauber. Minako hatte einen richtigen Putzwahn entwickelt, was wahrscheinlich davon kam, dass sie sonst nichts zu tun hatte. Nur zu gern kochte sie Mittags mal eine Suppe oder gelegentlich auch einen Braten für Hans, aber trotzdem merkte sie, dass ihr irgendetwas fehlte. So gern sie auch den Haushalt machte, irgendwas vermisste sie und dieses Gefühl meldete sich spätestens nach drei Wochen immer öfters. Minako war viel in dem Wald unterwegs, ab und zu führte sie auch das Clydesdale „Sepp“ mit sich. Was sie aber auch störte war, dass sie nur einen Pulli, eine Hose und einen Mntel besaß, nämlich das, was sie schon anhatte, als sie zu Hans gestoßen war.
Leider hatte sie immer noch keine Erinnerung aus ihrer Vergangenheit. Wenn sie gehofft hatte, dass mit der Zeit wohl alles wieder kommen würde, so hatte sie sich geirrt.
Auch kam sie nie von dem Hof weg. Hans besaß kein Auto und zu Fuß wäre man wohl mehrere Stunden unterwegs, bis man auf jegliche Zivilisation stoßen würde. Einmal die Woche kam ein Essenslieferant vorbei, der Hans mit allem nötigen ausstattete.
An einem besonders kalten Mittwoch kam der Essenslieferant und gleichzeitig auch gute Freund von Hans Jürgen vorbei. Hans lud ihn ein, zum Mittagessen zu bleiben um sich aufzuwärmen. Am Tisch erzählte Jürgen mit großer begeisterung von seiner Frau und dem Baby, das sie bald bekommen würde. Minako versetzte es jedesmal einen Stich in die Magengegend, wenn das Baby erwähnt wurde. Es stimmte sie traurig, ohne dass sie wusste wieso.
„Ich bin schon gespannt ob es ein Mädchen oder ein Junge wird. Aber auf jeden Fall wird er oder sie das hübscheste Baby überhaupt werden! Da bin ich mir ganz sicher!“
Jürgens Augen strahlten, als er von dem kleinen Wesen erzählte, das seine Frau bald bekommen würde. Hans lächelte nur über Jürgen. Er selbst hatte nie eine Freundin gehabt, demnach auch kein Baby. Minako beobachtete die beiden traurig. Hatte sie selbst schon ein Baby gehabt? Oder hatte sie sogar eines in ihrem alten Leben? Sie versuchte den Gedanken loszuwerden, was sich aber als äußerst schwierig erwies. Also versuchte sie das Thema zu wechseln.
„Jürgen, wie lang brauchst du immer hierher? Also bei diesem Wetter stelle ich es mir nicht sehr angenehm vor auf der eisigen Straße im Schneesturm zu fahren.“
„Schnee? Ach, du redest gar nicht von Phillip, so werde ich übrigens unseren Sohn nennen, wenn es einer wird.“
Minako startete noch einige versuche das Thema zu wechseln, gab es aber letztendlich auf. Sie verabschiedete sich und begab sich in ihr kleines Zimmer. Immer noch war der kleine Raum komplett kahl. Außer einem Tisch, zwei Hockern, dem Bett und einem Spiegel war es leer. Niemand normales würde sich wünschen so zu leben. Aber was hatte sie für eine Wahl? Sie war Hans ja dankbar aber trotzdem hatte sie sich noch nie so stark wie in diesem Moment gewunschen, von hier wegzukommen. Auch ein Baby spukte ihr noch im Kopf herum, was ihre Laune nicht gerade verbesserte. Sie zog da alte Nachthemd an, das sie von Hans bekommen hatte. Es hatte einmal seiner Großmutter gehört, war dementsprechend auch ziemlich alt. Dann legte sie sich ins Bett in der Hoffnung etwas schlafen zu können. Auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich war, um diese Zeit einschlafen zu können. Trotzdem fiel sie etwa eine Stunde später in einen tiefen Schlaf.
Minako lief einen langen Raum entlang am Ende des Flurs waren zwei Türen. Sie verspürte einen großen Drang eine von ihnen zu öffnen, doch welche? Nach kurzem überlegen entschied sie sich für die linke.
Sie öffnete sie und stand in einer kleinen Halle. Am anderen Ende sah sie eine Frau. Sie tanzte zu merkwürdiger Musik, sang dazu in einer komischen Sprache, die Minako zu ihrer eigenen Verwunderung verstand. Plötzlich merkte sie wie ihre Füße sich zu bewegen begannen. Auch wenn sie es nicht wollte tanzte sie nun mit der Frau. Sie hatte ein weißes Gesicht und ein langes Gewand an.
Dann verspürte sie plötzlich den Wunsch doch noch die andere Tür zu öffnen. Sie tanzte bis zum Ende der Halle und verlies sie dann. Sie öffnete einen kleinen Raum. Auf dem Boden lag ein kleines Baby.
Daneben, offenbar tot eine junge Frau. Minako flossen Tränen die Wangen hinunter. Dann bemerkte sie einen Mann. Auch er weinte. Erst als sie den lauten Knall hörte und den Mann blutüberströhmt fallen sah, registrierte sie was geschehen war.
In diesem Moment wachte sie schweißüberströhmt auf. Immer noch weinte sie. War das ein Teil aus ihrem alten Leben gewesen? War sie das Baby? Und die tote Frau und der tote Mann ihre Familie. Wieder sah sie das kleine Baby das auf dem Boden lag. So allein. Genau wie Minako sich fühlte. Allein. In diesem Moment fasste sie einen Entschluss. Sie würde Jürgen in die Stadt begleiten. Dort ein Zimmer mieten und versuchen etwas über ihr Leben zu erfahren. Warum hatte sie daran nicht schon früher gedacht? Schnell schwang sie ihre Füße aus dem Bett, um sich wieder umzuziehen. Dann zog sie den Mantel an und rannte die Treppe hinunter. Zu ihrem Glück saß Jürgen immer noch zusammen mit Hans am Tisch.
„Nanu, was hast du es denn so eilig?“ Hans schaute sie fragen an, zog dabei eine Augenbraue verwirrt hoch.
„Jürgen, kannst du mich mit in die Stadt nehmen? Bitte!“ flehend starrte sie ihn an.
„Was willst du denn in der Stadt? Du kannst doch nirgends hin“, warf Hans ein.
„Ja und? Ich habe geträumt. Vielleicht von meiner Familie. Wenn ich hier nur blöd rumsitze erfahre ich nie, was wirklich passiert ist! Deshalb will ich gehen. In meinem Geldbeutel war Geld, also kann ich mir ein Zimmer mieten.“
„Oder du kannst bei mir und Nora wohnen. Wir haben sicher noch Platz für dich!“ Jürgen nickt zustimmend.
„Gern, aber nur wenn es keine Umstände macht! Und du kannst mich wirklich mitnehmen?“
„Ja, ich denke schon. Für heute bin ich sowieso fertig und nächste Woche bring ich dich wieder her.“
„Das wäre perfekt. Danke, vielen Dank!“
Hans murmelte noch etwas unverständliches. Anscheinend war es ihm alles andere als Recht, das Minako gehen würde. Aber er hatte wohl keine Wahl, konnte sich nicht beschweren. Es war zu erwarten, dass sie nicht für immer bei ihm bleiben würde, um die Putzfrau zu spielen.
Am Abend, als Jürgen endlich ging, verabschiedete Minako sich von Hans. Dieser wirkte ziemlich mürrisch, sagte aber nichts, was Minakos momentane Freunde trüben hätte können.
Sie war glücklich und darüber hinaus fest überzeugt etwas über sich herauszufinden. Vielleicht würde ja sogar ihre Erinnerung zurück kommen!
Sie stieg lächelnd neben Jürgen in das Auto und winkte Hans nocheinmal.
Hans winkte nicht zurück. Er war anscheinend ernsthaft gekränkt, dass man ihn wieder allein lies. Minako hätte ihn ja nur zu gern mitgenommen, aber wer hätte sich dann um den Hof und die Tiere gekümmert? Außerdem war sie in einer Woche ja wieder da, aber hoffentlich dann mit mehr Informationen.
Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung. Die Fahrt war äußerst anstrengend, denn der Weg war uneben und holprig. Sie versuchte mehrmals Jürgen in ein Gespräch zu verwickeln, lies es aber jedes Mal sein, weil dieser so auf die Straße konzentriert war, dass er es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen hätte. Beunruhigt bemerkte Minako den schwachen Duft von Alkohol und konnte nur hoffen, dass Jürgen noch nüchtern genug war, um sie sicher in die Stadt zu bringen.
Eine Stunde später trafen sie trotz Alkoholeinflusses des Fahrers sicher in der Stadt ein. Kurz darauf lies er den Wagen vor einem kleinen Haus anhalten. Sogleich stürzte eine Hochschwangere Frau aus dem Haus. Sie sah deutlich besorgt aus.
"Wo warst du solang? Das Essen ist kalt, keine Nachricht von dir. Ich dachte schon, dass irgendetwas passiert ist!"
"Kein Grund zur Sorge. Ich bin bei Hans gewesen. Bei dem Schneesturm vorhin konnte ich unmöglich fahren, also hab ich bei ihm gewartet bis er vorbei ist."
Er lief auf seine Frau zu, umarmte sie kurz und küsste sie auf die Wange. Minako stand immer noch unbeweglich vor dem Wagen, traute sich nicht, irgendetwas zu sagen.
Jürgen erzählte seiner Frau kurz etwas, Minako konnte nur erraten, dass es um sie ging. Die Frau nickte, kam dann freundlich lächelnd auf Minako zu.
"Hallo Minako. Entschuldigung dass ich dich nicht schon früher begrüßt habe, aber ich war zu besorgt gerade... Ich bin übrigens Hanna."
Minako erwiderte den Händedruck und lächelte freundlich. Sie wusste nicht was sie sagen sollte, also war sie einfach mal still.
Hanna forderte sie auf in das Haus zu kommen.
Drinnen war es warm. Hanna führte sie direkt durch den Gang zu einem kleinen Zimmer.
Das Zimmer, vermutlich immer für die Gäste gedacht, war hübsch eingerichtet. Neben einem großen Bett stand ein geräumiger Schrank.
An einer anderen Wand stand ein kleines Sofa und gegenüber sogar ein Fernseher. An den Wänden waren verschiedene Bilder angebracht und auf dem Tisch stand eine kleine Pflanze.
Hannah beobachtete zufrieden wie sich auf Minakos Gesicht ein Lächeln abbildete. Dann lies sie sie allein, zeigte ihr aber vorher noch das kleine Bad, das zum Zimmer gehörte und forderte sie auf, einfach in das Wohnzimmer zu ihr und Jürgen zu kommen, falls sie möchte.