Kapitel 010 - In mein neues Leben
Ich sass auf dem Beifahrersitz von Diegos Auto.
Bäume, Strassenlaternen und Häuser flitzten an mir vorbei. Oder besser gesagt, ich flitzte an ihnen vorbei. Immer weiter weg vom Krankenhaus, immer näher zu meinem neuen Leben.
Diego fuhr sehr vorsichtig, denn er wusste, dass es für mich nach dem Unfall nicht einfach war, in einem Auto zu sitzen. Sein Blick war konzentriert auf die Strasse gerichtet und von Zeit zu Zeit schaute er kurz zu mir, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Ich fand es süss, wie er sich um mich sorgte.
Ich hatte lange darauf gewartet, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, und ich konnte es kaum fassen, dass es endlich so weit war. Nun würde ich mir wieder ein Leben aufbauen können. Wenigstens ein vorübergehendes, bis ich mein altes wieder finden würde.
„Da vorne ist es!“ Diego deutete auf ein dreistöckiges Haus mit bepflanzten Terrassen und in den Boden gesenkten Garagen.
Nachdem Diego in der Tiefgarage geparkt hatte, stellte er den Motor aus und drehte sich zu mir. „Bereit deine zukünftige Bleibe zu besichtigen?“
Als ich nickte, stieg er aus dem Auto und bevor ich Zeit hatte, meinen Sicherheitsgurt zu lösen und die Autotüre selber zu öffnen, stand er schon auf meiner Seite und hielt mir die Tür auf. Zum Dank schenkte ich ihm ein Lächeln. Dann rutschte ich vom Sitz und stieg ebenfalls aus.
Ich hielt den Teddy, den mir Diego im Krankenhaus geschenkt hatte, fest umklammert in meiner linken Hand, als wäre ich ein kleines Kind. Sonst hatte ich kein Gepäck, denn ich besass ja nichts. Jedenfalls wusste ich von nichts.
Wir traten ins Freie.
„Die linke Terrasse gehört zu meiner Wohnung im ersten Stock.“, erklärte er, als wir die Auffahrt der Garage nach oben gingen.
Vier Stufen aus weissem Stein führten zur Eingangstüre, durch die wir ins Treppenhaus gelangten, wo man zwischen Lift und Wendeltreppe wählen konnte.
„Hier im Untergeschoss wohnt ein älteres Ehepaar, Herr und Frau Wipperling, mit ihren beiden Katzen.“, verriet mir Diego, während wir die Wendeltreppe in den ersten Stock hochstiegen. „Sympathische Leute. Du wirst sie bestimmt mögen.“
Gegenüber von Diegos gab es noch eine zweite Wohnungstür und Diego informierte mich auch sogleich über deren Bewohnerin: „Zhang Linh, eine junge Frau chinesischer Herkunft, ist vor gut einem halben Jahr hier eingezogen. Man sieht sie nicht oft, da sie viel arbeitet, aber manchmal sitzt sie auf der Terrasse nebenan und trinkt Kaffee.“
Diego machte sich daran aufzuschliessen und ich bemerkte, dass ich vor Aufregung den Teddy beinahe erdrückte. Schnell lockerte ich den Griff und versuchte mich zusammenzureissen. Ich war doch kein kleines Kind! Und doch war ich so nervös und gespannt, wie mein neues Leben aussehen würde, dass meine Knie zitterten.
Mit einem Klicken ging die Tür auf und wir traten in Diegos Wohnung ein.
Das Wohnzimmer war in Rot- und Brauntönen eher schlicht eingerichtet. Durch einen Türrahmen konnte man in die Küche mit Esstisch einsehen und drei weitere Türen verbargen noch die restlichen Zimmer.
Diego lieferte mir eine kleine Führung. Hinter der Tür nahe des Eingangs befand sich das Bad und hinter der nächsten war sein Schlafzimmer.
„Und hier..“, sagte er, als er die dritte Tür öffnete, „das Gästezimmer und für die nächste Zeit deines.“ Ich trat ein. Die Einrichtung, diesmal in Grüntönen, gefiel mir sehr. Ein aus der Wand geklapptes Einzelbett, eine Kommode und ein kleines Tischchen, auf dem ein wunderschöner Strauss gelber Blumen stand.
„Vielen Dank, Diego! Es ist echt toll von dir, dass du mich hier wohnen lässt.“, sagte ich, nachdem ich alles genau inspiziert und meinen Teddy neben die Blumen gestellt hatte.
„Das mach ich doch gerne. Was möchtest du jetzt noch unternehmen? Spazieren gehen oder dich auf der Terrasse in einen Liegestuhl legen?“, fragte er freundlich.
„Ich bin immer noch etwas erschöpft, ich glaube Liegestuhl wäre perfekt.“
„Okay und du hast bestimmt auch Hunger. Wie wär's wenn ich uns Makkaroni mit Käse zaubere?“
Ich konnte kaum fassen, wie fürsorglich Diego zu mir war. Wie würde ich ihm das jemals danken können?
„Fantastisch, danke!“, erwiderte ich und strahlte ihn an.
„Gern geschehen. Wenn du willst, kannst du vorher eine Dusche nehmen oder auch ein Bad.“
„Eine Dusche wäre jetzt schön erfrischend.“, sagte ich und so reichte mir Diego ein Frottiertuch, Shampoo und Duschgel und ich ging ins Bad, während er sich in der Küche zu schaffen machte.
Es ist wie in einem Traum, dachte ich, als das warme Wasser über meinen Körper rieselte,
er ist so nett zu mir, obwohl er mich ja gar nicht richtig kennt.
Und als ich so darüber nachdachte, wie perfekt er war, fühlte ich wieder dieses kribbelige Gefühl.
Stopp!, sagte eine Stimme in mir. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, mich zu verlieben. Nicht bevor ich herausgefunden hatte, wer ich eigentlich war und wie mein Leben aussah. Vielleicht hatte ich ja einen Freund oder Verlobten oder, wer weiss, vielleicht war ich sogar jung verheiratet. Aber wieso suchte dann niemand nach mir? Wieso meldete sich niemand auf die Anzeigen der Polizei? So viele Fragen und die Antwort darauf wusste ich nicht mehr.
Ich spülte das Duschgel von meinem Körper und stieg aus der Dusche. Gerade als ich nochmals in meine Kleider, die mir die Krankenschwester für den Parkausflug gegeben hatte, schlüpfen wollte, rief Diego durch die Tür: „Hey Elaine, ich habe ganz vergessen dir zu sagen, dass ich dir einige Klamotten in deiner Kommode bereitgelegt habe. Ich weiss nicht, ob sie dir passen und ob sie deinem Geschmack entsprechen, aber es sind die einzigen, die ich gefunden habe.“
„Okay, danke!“, rief ich zurück. Meinem Geschmack entsprechen.. was war denn mein Geschmack?
Ich hüllte mich in das Frottiertuch und tappte in mein Zimmer, wo ich die Kommode öffnete.
Neben einer Jeans, die für meine Hüfte viel zu eng war, und einem Top mit weitem Ausschnitt fand ich einen hübschen, grauen Pullover mit freien Schultern. Ich beschloss, dass die ersten beiden Stücke „nicht meinem Geschmack entsprachen“, schlüpfte wieder in die Hose von der Krankenschwester, zog mir aber den schulterlosen Pullover über. Er war ziemlich bequem, auch wenn er für mindestens eine Nummer grössere Oberweite gemacht wäre.
Ich fragte mich, wem die Kleider wohl gehörten. Gefunden.. hatte Diego gesagt. Aber was hiess das? So wie ich ihn bis jetzt kennengelernt hatte, hielt ich es für eher unmöglich, dass er mir solche Kleider, wie das Top mit dem weiten Ausschnitt, gekauft hätte. Waren sie von einer Exfreundin liegen geblieben? Oder wieso eigentlich Ex? Vielleicht hatte Diego ja auch eine Beziehung am Laufen. Er hatte zwar nie etwas über eine Freundin gesagt, aber als Single bezeichnet hatte er sich auch nie.
Ich bemerkte, wie ein ungutes Gefühl in mir hochkam. Neid. Ich versuchte schnell, meine Gedanken über dieses Thema zu verscheuchen und ging zu Diego in die Küche, wo es lecker nach Käsesauce roch.
„Hier probier mal!“ Diego hielt mir einen Löffel dampfender Sauce hin. Es schmeckte hervorragend.
„Dauert nur noch einige Minuten.“, sagte Diego. „Wenn du willst, kannst du es dir ja schon auf der Terrasse gemütlich machen.“
Ich folgte Diegos Rat und begab mich auf die Terrasse, wo ich mich in einen der Liegestühle setzte.
Wie ich so die Abendsonne genoss, stieg mir plötzlich der Geruch von Kaffee in die Nase und als ich meinen Kopf in Richtung Nachbarterrasse richtete, sah ich eine hübsche Chinesin, die an einer Kaffeetasse nippte.
„Oh hey.“, begrüsste sie mich, als sie mich bemerkte.
„Hallo.“, entgegnete ich etwas schüchtern.
„Ich bin Linh.“ Sie stand auf und trat ans Geländer.
„Elaine.“, stellte ich mich mit meinem neuen Namen vor und stand ebenfalls ans Geländer. Linhs Augen musterten mich interessiert.
„Bist du die...“, sie stockte und sah sich etwas unsicher um, als suchte sie nach passenden Worten. „Die mit der Amnesie?“, fragte sie schliesslich zögernd.
Ich nickte langsam und senkte meinen Blick. Woher wusste sie davon?
„Diego hat mir bereits angekündigt, dass du vorübergehend bei ihm wohnen wirst.“, erklärte Linh, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Es ist bestimmt hart, wenn man alles vergessen hat...“, fuhr Linh fort. Ich war etwas überrascht, wie persönlich sie mit mir sprach, obschon ich sie noch keine fünf Minuten kannte.
„Auch wenn man sich das manchmal wünscht.“, fügte sie fast unhörbar und in Gedanken versunken dazu und ihr vorher freundlicher Gesichtsausdruck wurde plötzlich seltsam traurig.
Ich fragte mich, ob ich das gerade richtig verstanden hatte und musste sie wohl etwas geschockt angeschaut haben, denn sie sagte schnell: „Tut mir Leid! So meinte ich das nicht.. es ist bestimmt schrecklich!“
Auch wenn ich ihre Äusserung taktlos fand, konnte ich, als sie sich noch weiter entschuldigte, nicht anders, als verzeihend zu sagen: „Schon gut. Nicht schlimm.“
Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer leichten Unbeholfenheit fühlte ich eine Sympathie für die Chinesin und war positiv überrascht, als sie mir anbot, in nächster Zeit einmal etwas zusammen zu unternehmen.
„Ah, wie ich sehe, haben sich schon zwei Freundinnen gefunden.“, stellte Diego grinsend fest, nachdem er mit der dampfenden Makkaronischüssel auf die Terrasse getreten war.
„Möchtest du auch mitessen, Linh?“, fragte Diego.
„Ich würde gerne. Nur habe ich leider keine Zeit. Ich muss gleich nochmal los ins Büro. Habe ein paar wichtige Unterlagen dort vergessen.“
Und so verabschiedete sie sich, aber nicht ohne sich zuvor mit mir für den folgenden Nachmittag zu verabreden, an dem sie glücklicherweise frei hatte.
Diegos Makkaroni schmeckten sehr gut und wir verbrachten den Rest des Abends auf der Terrasse. Diego amüsierte mich mit Geschichten von seinem Job im Supermarkt, bei dem er die komischsten Leute antraf.
Auch wenn ich ihm noch stundenlang hätte zuhören können, ging ich früh ins Bett, denn ich war von all dem Neuen sehr erschöpft.
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Wie versprochen das 10. Kapitel mit der ersten Überschneidung. War mal etwas länger.
Diego zeigt sich mal wieder von seiner freundlichsten und hilfsbereitesten Seite, aber ich denke, es gibt auch Stoff für eure Verdächtigungen, nicht wahr?

Wünsch euch allen einen guten Wochenstart morgen!