Kapitel 30 – Konfrontation

Als ich nach der Arbeit Diegos Wohnung betrat, stellte ich irritiert fest, dass die Tür zu meinem Zimmer einen Spalt weit offen stand. Ich näherte mich ihr und hörte dahinter Geräusche. Da war jemand in meinem Zimmer!
„Hallo?!“, rief ich etwas unsicher.
„Oh, hey Aileen!“ Désiré streckte den Kopf durch den Türspalt hervor . Was zum Teufel hatte sie da zu suchen? Schon wieder.

„Elaine“, knurrte ich. „Ich heisse Elaine, nicht Aileen!“
„Oh, tut mir Leid. Das hört sich so ähnlich an“, sagte sie in einem unschuldig freundlichen Tonfall.
Ich schob mich an ihr vorbei in mein Zimmer und sah mich um. Ich entdeckte sofort, woran sich die Blondine zu schaffen gemacht hatte: Eine der Schubladen meiner Kommode war geöffnet und einige Kleidungsstücke hingen unordentlich heraus.
Ohne eine Erklärung für dieses Chaos ging Désiré auf das kleine Tischchen zu und nahm meinen Teddy in ihre Hände.
„Der ist so süss!“, säuselte sie. War da ein spöttischer Unterton in ihrer Stimme?

In meinem Innern fing es an zu brodeln und wütend entriss ich ihr das Plüschtier.
Ich wusste, dass ich mich benahm wie ein kleines Kind, das sein Lieblingsspielzeug nicht teilen wollte, aber diesen Bären hatte mir Diego in meiner schwersten Zeit ins Krankenhaus gebracht und er bedeutete mir zu viel, als dass ich Désiré darüber spotten hören wollte.
„Was willst du hier drinnen und wieso durchsuchst du meine Sachen?“, fragte ich vorwurfsvoll und zeigte auf meine durchwühlten Kleider.
Désiré seufzte genervt.
„Sorry Elaine, aber Diego hat mir gesagt, er habe dir einige meiner Klamotten geliehen. Ich wollte mir nur zurückholen, was mir gehört.“
„Und mich einfach danach fragen konntest du nicht, was?“ Ich erschrak ab meinem eigenen scharfen Tonfall und auch Désiré hob erstaunt ihre gepiercte Augenbraue.
„Was ist denn in dich gefahren? Diego hat mir dich als schüchtern, rücksichtsvoll und freundlich beschrieben. Tzz.. so kann man sich täuschen“, entgegnete sie.
„Ich mag es nur nicht, wenn Sims unerlaubt mein Zimmer betreten“, versuchte ich mich zu verteidigen und, um die Vorwürfe auf sie zu lenken, fügte ich hinzu: „Und das sogar mitten in der Nacht!“
Jetzt musste sie sich für ihren nächtlichen Besuch verantworten. Sie hatte keine andere Wahl!

„So jetzt reicht's mir aber langsam! Dein Zimmer?!“ Désirés Wangen färbten sich unter ihrer Makeup-Schicht rot vor Wut. „Das ist nicht dein Zimmer, Elaine! Genauso wie das nicht deine Kommode und nicht deine Kleider sind! Das sind meine verdammten Sachen!“ Nun war es an mir, sie überrascht anzusehen, denn sie schrie mich regelrecht an.
„Und willst du mir wirklich vorwerfen, mitten in der Nacht in dein Zimmer eingedrungen zu sein?“, fuhr sie leiser, aber genauso wütend, fort. „Ich kam heute Nacht nach langer Zeit nach Hause und wollte mich in meinem Zimmer in mein Bett legen, aber was muss ich sehen? Es ist bereits besetzt! Ich bin so nett und wecke die Fremde nicht mal auf, sondern teile mit meinem Cousin das Bett. Und dann kommst du und machst mir solche Vorwürfe?!“

Verlegen sah ich zur Seite.
„Tut mir Leid, das wusste ich nicht..“, antwortete ich kleinlaut. Aber wieso hatte mir Diego denn nicht gesagt, dass seine Cousine normalerweise in diesem Zimmer wohnte? Er hatte immer nur vom Gästezimmer gesprochen. Da waren doch auch keine persönlichen Sachen von ihr. Und wie kam es, dass weder sie von mir noch ich von ihr gewusst hatte? Hatte sie etwa Diego gar nichts von ihrer Ankunft erzählt? Und wie lange war sie denn fort gewesen? Und wo? Ich getraute mich nicht, sie danach zu fragen. Da war sie also wieder, die schüchterne Elaine.
Stattdessen bot ich ihr an, dass sie ihr Zimmer wieder beziehe und ich mich auf dem Sofa einquartieren würde, doch sie lächelte nur spöttisch und sagte ironisch:
„Ja klar, das wird Diego sicher zulassen.“
Dann schnappte sie sich ihr T-Shirt und ihre Jeans, welche ich sowieso nie tragen wollte, und verliess das Zimmer.
Verwirrt blieb ich eine Weile stehen, den Teddybären fest an mich gedrückt. Konnte es sein, dass ich hier diejenige war, die ungerecht handelte? Es war ja wirklich nicht selbstverständlich, dass ich hier einfach so Unterschlupf fand, ohne dass jemand wirklich wusste, wer ich war. Désiré war zurecht wütend, schliesslich besetzte ich einfach so ihr Zimmer und war auch noch so unfreundlich zu ihr. Nur eines dummen Scherzes wegen, den sie ja sicher nicht böse gemeint hatte.
Durch das Fenster sah ich, wie Linh gerade ihr Fahrrad in die Einfahrt schob und ich beschloss, sie im Flur abzufangen. Ich brauchte jemanden zum Reden.
Die ersten Worte, die mir Linh nach einer kurzen Begrüssung zuraunte, untermalte sie mit einer verschwörerischen Geste. "Und hast du sie schon kennengelernt?"

"Wen?", fragte ich.
"Na Diegos Cousine!"
"Désiré? Allerdings habe ich sie kennengelernt. Kennst du die?"
"Auch erst seit heute. Das erzähl ich dir gleich. Aber gehen wir in meine Wohnung."
"Und wie versteht ihr euch?", fragte Linh mich, als wir es uns auf ihrem Sofa gemütlich gemacht hatten. Ihre Schwester sass neben uns und las ein Buch.
"Ich glaube ich war ziemlich ungerecht zu ihr", gab ich etwas niedergeschlagen zu und berichtete Linh über meine Erlebnisse mit der Blondine.

"Du warst ungerecht zu ihr?!", fragte Linh aufgebracht, als ich fertig erzählt hatte. "Elaine, diese Frau hat überhaupt keinen Anstand! Die treibt solche dummen Spässe mit jemandem in deiner Lage. Das geht ja mal gar nicht!"
"Aber sie hat es ja bestimmt nicht böse gemeint", versuchte ich Désiré zu verteidigen. Ja, an diesem Morgen hatte ich sie für diesen unlustigen Witz fast gehasst, aber da hatte ich ja noch nicht gewusst, dass ich ihr Zimmer besetzte.
"Ach ja? Und was war dann mit dieser Aussage, dass alles ihr gehöre und du hättest es ihr weggenommen? So etwas sagt man doch nicht zu jemandem, der gerade alles verloren hat", empörte sich Linh weiter.
"Wie hast du sie denn kennengelernt?", wollte ich nun wissen.
"Ob du's glaubst oder nicht, mir hat sie vor ein paar Stunden eine ähnliche Ansage gemacht. Sie hat mir eröffnet, dass mein Job ihr gehöre und sie ihn sich zurücknehmen werde." Linh lachte bitter.
"Dann ist sie also die Frau, die das Unternehmen beinahe in den Ruin getrieben hat? Die, von der du mir erzählt hast?"
"Ja, genau die", bestätigte Linh und ihre Miene verfinsterte sich. "Als ich herausgefunden habe, dass sie zu allem Überfluss auch noch meine Nachbarin ist, hätte ich schreien können.“

"Aber du hast doch nichts zu befürchten, nicht wahr? Dein Chef wird doch nicht so dumm sein und dich, die ihm aus der Krise geholfen hat, wieder gegen die eintauschen, die ihn da rein gestürzt hat", versuchte ich Linh etwas aufzumuntern.
"Da müsste er ja schon blöd sein. Aber du hättest sehen sollen, wie sie sich bei Herrn Hofmann eingeschleimt hat", lästerte Linh weiter.
"Was ich nicht verstehe, ist, wieso sie so plötzlich und unangemeldet auftaucht..", grübelte ich, "nachdem sie so lange weg war. Du hast sie noch nie getroffen und bist vor einem Jahr hierhin gezogen? Wo war sie denn diese ganze Zeit? Wenn ihr ihr Job und das Wohnen mit ihrem Cousin so viel bedeuten, wieso hat sie das alles dann für so lange verlassen?"

Linh antwortete mir nicht. Sie betrachtete nur scheinbar völlig interessiert ihre Fingernägel. Dafür sah ihre Schwester nun von ihrem Buch auf und sagte: "Manchmal hat sim eben gewisse Gründe, alles im Stich zu lassen und ohne richtige Verabschiedung zu gehen."
"Das müssen dann aber schon sehr heftige Gründe sein", bemerkte ich.
"Ja, sogar so heftig, dass man sie niemandem erzählen kann. Nicht war, Linh?"

Etwas irritiert von Naykas Aussage sah ich erklärungssuchend zu Linh. Diese starrte mit einem so gekränkten, traurigen Blick zu ihrer Schwester. Und dann brach es plötzlich aus ihr heraus: „Vielleicht erzählt sie sie niemandem, um jemanden zu schützen?! Vielleicht hat sie ihr ganzes Leben aufgegeben, nur damit andere es behalten können? Und was hat sie jetzt davon? Alle machen ihr Vorwürfe, alle machen sie für alles verantwortlich! Alle denken, sie sei eine eiskalte Egoistin. Schon 'mal dran gedacht, dass sie genau das Gegenteil ist? Dass sie alles auf sich nimmt, was eigentlich auf jemand anderem lasten sollte?“

Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass wir gar nicht mehr von Désiré sprachen, aber ich wollte nicht nachfragen, worum es ging. Schweigend sass ich eine Weile neben den Schwestern, die beide so verletzt wirkten. Ich wollte etwas sagen, das die Stimmung vielleicht wieder lockern würde, aber mir kam nichts in den Sinn. Betrübt verabschiedete ich mich schliesslich.
Ich hatte keine Lust, wieder in die Wohnung zurückzukehren, in der Désiré war, und so begab ich mich in den Stadtpark. Die frische Luft würde mir sowieso gut tun.
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So.. ich habe es endlich geschafft. Sorry, für die Pause.
Ist wieder ein etwas längeres Kapitel. Ich weiss, es ist recht dialoglastig, hoffe es gefällt euch trotzdem.
Lg
