Kapitel 129 - ... kehr’ i heim, mein Schatz, zu dir!
Kapitel 129 - ... kehr’ i heim, mein Schatz, zu dir!
Der letzte Tag bei Familie Kappe war nun endgültig angebrochen. Naike, Sean und Abilene hatten ihre Koffer gepackt, ganz früh am nächsten Morgen würden sie die Heimreise antreten. "Du hast Merlin schrecklich lieb gewonnen, nicht wahr?!", stellte Abi fest, als sie sah, wie herzlich ihre Freundin Elvira sich um die Katze kümmerte. Elvira nickte traurig über den ihr bevorstehenden Verlust. "Aber ich kann euch ja immer besuchen, hat deine Mama gesagt."
"Das hoffe ich doch sehr. Du, Elvira? Möchtest du Merlin behalten?" Das blonde Mädchen riss ihre großen Kulleraugen auf und traute ihren Ohren kaum. "Wie jetzt? Willst du mir ...?" - "Ja, ich möchte sie dir schenken. Du hast dich in letzter Zeit viel öfter mit ihr beschäftigt als ich, mit meinem ganzen Schulkram. Außerdem haben wir ja auch noch einen Hund daheim. Darfst sie gerne behalten, wenn deine Ma nichts dagegen hat."
Elvira war außer sich vor Freude und nahm in großer Hoffnung, dass Gerda es erlaubte, das Geschenk ihrer Freundin an.
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Am letzten gemeinsamen Abend hatte keiner Lust auf Spiele oder Lesen, denn die Nachrichten überschlugen sich mit viel versprechenden Meldungen. Naike wusste aufgrund ihrer Position bereits Bescheid: Es war vorbei! Eine wieder einmal völlig sinnlose Auseinandersetzung hatte sein Ende gefunden und auf jedem Fernsehkanal zeigten sich erleichterte Soldaten-Gesichter, aber auch viele Verwundete und Aufnahmen schwer beschädigter Dörfer und Städte.
Für einen Moment konnte keines der Kinder so recht erfassen, dass die schlimme Zeit nun tatsächlich endlich zu Ende ging.
Aber dann begriffen sie es und der Jubel war groß.
Zum Glück begnügten sich diesmal auch die Kappe-Kinder mit Freudentänzen, so blieb ihren Gästen ein schräges Abschiedskonzert im Pfarrheim erspart.
Als endlich alle aufgeregten Gemüter zur Ruhe gebracht waren und Naike ihren obligatorischen Sicherheitsrundgang durchs Haus machte, klingelte plötzlich ihr Diensthandy.
Bereits morgen würde es also soweit sein. Ein heißer Sommer war vergangen, ein nasser Herbst und anschließend ein langer Winter. Und jetzt kamen sie tatsächlich von einen Tag auf den anderen zurück. Naikes Affen waren sich wieder einmal völlig uneins und wirbelten durch ihren Kopf. Sollte sie sich nun freuen oder um ihre völlig unbestimmte Zukunft bangen?
Erst nach einer doppelten Dosis Baldrian schlief sie endlich ein und träumte von verkrüppelten und traumatisierten Soldaten, die wie riesige Fliegenhorden die heimische Militärbasis Blauseidigheide überzogen.
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Auf dem letzten Stipp kam sie am nächsten Tag in der Kaserne an, denn Sean hatte partout nicht in die Schule gehen wollen, jetzt, wo er doch vielleicht seinen Vater endlich wiedersehen würde. Aber sie hatte sich durchgesetzt und sein Gezeter tapfer ertragen.
Da der Hubschrauber noch nicht zu sehen war, zog sie sich ein Päckchen Filterzigaretten am Automaten und rauchte vor lauter Nervosität den ersten Glimmstängel seit 15 Jahren. Was würde sie erwarten? Würde der gesamte Trupp mit allen Männern der Insel zurückkommen oder nur einige? Waren welche von ihnen verletzt? Genaues wusste sie nicht. Und sie musste tierisch husten, als sie vergebens versuchte, den beißenden Tabakrauch zu inhalieren.
Ihr blieb nichts anderes übrig, irgendwann musste sie sich im Bürogebäude melden und zu allem Überfluss saß dort bereits der Rest der Meute, einschließlich Sean, der schließlich Jessica hatte weich klopfen können, mit ihm doch noch nach Blauseidigheide zu fahren, während Abi längst in der Schule angekommen war. Naike war darüber sehr entzürnt. Was, wenn Adam in Einzelteilen angeliefert würde? Sie tranken noch etwas, dann war von draußen definitiv der sehnlich erwartete Helikopter-Lärm zu vernehmen.
Nun sprach keine der anwesenden Frauen mehr ein Wort, alle standen in höchster Anspannung am Eingang des Kasernengeländes und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Und selbst Sean, der sonst unentwegt irgendetwas erzählte, hatte es ausnahmsweise die Sprache verschlagen.
Mit dem üblichen ohrenbetäubenden Getöse landete der Hubschrauber ganz behutsam auf der Straße, und nach und nach verließ ein "grüner" Mann nach dem anderen das Fluggefährt.
"Papaaa!!!", brüllte Sean und übertönte damit fast den Rotorenlärm. Er rannte wie ein Irrer los ...
... und fiel seinem Vater, der gesundheitlich zumindest auf den ersten Blick einen guten Eindruck machte, überglücklich in die Arme. "Mein Junge, mein lieber Junge! Ich hab' dich ja so schrecklich vermisst", bemühte sich Adam seine Fassung zu wahren und den Schmerz in seiner Brust zu veratmen.
Sean ließ ihn plötzlich los und starrte ihn von oben bis unten an. "Was ist jetzt auf einmal los?", wunderte sich sein Vater. "Bist du auch wirklich echt? Ich kann es einfach nicht glauben", stammelte Sean und nun merkte Adam erst, wie verstört sein Kind war und es tat ihm zutiefst im Herzen weh. Aber nun würde hoffentlich bald alles wieder in geregelten Bahnen laufen.
Vorsichtig kamen jetzt auch die Frauen heran und Naike durchfuhr der Schreck wie ein Blitz, als sie Paul im Rollstuhl sitzend erkannte. "Hallo", sagte sie leise, aber er würdigte sie keines Blickes. Hilflos sah sie zu Nicolas Kappe hinüber, der einen ungewohnt unsicheren Eindruck machte. Hinter ihr ertönte lautes Jubelgeschrei.
So innig hatte Naike Gerda und Albert Kappe noch nie miteinander gesehen. Sie schienen sich nach all den gemeinsamen Jahren tatsächlich noch zu lieben, was sie aufgrund ihrer eigenen Situation sehr nachdenklich stimmte.
"Milo Richard?", fragte Adam halb staunend, halb irritiert, und versuchte für einen Moment erst einmal zu begreifen, dass das kleine Bündel in Eva-Marias Arm sein neugeborener Sohn war.
Naike schmerzte einfach alles, als sie mit ansah, wie Adam Frau und Kind anschließend liebkoste und wie gelöst er dabei wirkte. Sie tröstete sich damit, dass er wenigstens Sean zuerst begrüßt hatte.
Dann wandte sie sich von der für sie unerträglichen Vater-Mutter-Kind-Szene ab und versuchte ihren zweiten Anlauf bei Paul. Aber er ließ sich lediglich ein tonloses Hallo entlocken und sah sie dabei nicht einmal an. Naikes Mundwinkel sanken und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Nic … Nicolas ... was ist mit ihm?" Der Pfarrer nahm sie tröstend in den Arm wie ein kleines Mädchen. "Es ist alles gut, meine Liebe, glaube mir. Es sieht schlimmer aus als es ist. Alles wird wieder werden!", sagte er liebevoll. Naike hielt ihren guten Freund ganz fest umarmt und schluckte die Tränen so gut es ging hinunter.
Kurz darauf hatte sie sich wieder im Griff. "Herzlichen Glückwunsch, Ad!" – „Hallo du, schön dich wieder zu sehen. Danke dir!", lächelte der frischgebackene Vater. Leider nahmen ihre Tränen nun doch wieder Kurs nach draußen. "Geht es dir gut?", fragte sie leise. "Aber sicher doch. Ein bisschen Urlaub könnte ich gebrauchen, aber sonst … ich freu’ mich tierisch auf die Uni." Naike nickte lächelnd, offenbar war wenigstens er der alte geblieben.
"Es tut mir Leid wegen Paul, es hat uns im Negev eine Bombe erwischt." Naike kaute auf ihrer Unterlippe herum. "Weißt du Näheres über seine Verletzungen?" - "Nein, nur dass er sich seit dem Aufprall auf einen Felsen nicht mehr richtig bewegen kann. Ein Militärarzt in Chazarim hat ihn kurz durchgecheckt, nachdem man uns gefunden hatte, aber keine Schäden an seiner Wirbelsäule diagnostizieren können. Du solltest abwarten, was die Ärzte hier nach eingehenderen Untersuchungen dazu sagen." Naike nickte seufzend. "Mach' dir mal keine allzu großen Sorgen. Ich vermute, dass es psychisch ist. Tief in seiner Seele sitzen seine echten Verletzungen und wir tragen die Schuld daran." Naike schloss für einen Moment ihre Augen und schmeckte ein wenig Blut aus ihrer Lippe. Adams Blick erschien ihr trotz der erfreulicheren Umstände traurig und leer. Oder war es nur Einbildung? Wunschdenken? „Paul braucht dich jetzt", sagte er dann und wandte sich seinem Bruder Joseph zu, der seinen kleinen Neffen bestaunen wollte.
"Oh Mann, ist der winzig!", entfuhr es ihm begeistert. "War Sean auch so klein damals?" - "Ich glaube schon", meinte sich Adam zu erinnern und warf einen stolzen Blick zu seinem ersten Sohn hinüber, der nun schon bald in die Mittelstufe kam.
"Ich beneide dich, Bruderherz, immer kriegst du die Kinder, obwohl du im Gegensatz zu mir keinerlei Familienambitionen hast", klagte Joe. "Du einsamer Wolf, du!", knuffte er ihn scherzend in die Seite. "Autsch, verdammt, denk doch an meine gebrochene Rippe!" Als Eva-Maria das hörte, war sie sogleich schwer besorgt. "Komm, Liebling, lass uns nach Haus fahren. Ich habe alles vorbereitet, bei mir ist genug Platz für uns drei und ich werde dich wieder ganz gesund pflegen!"
"Du, das ist sehr lieb von dir, aber ich möchte zu mir nach Hause, in mein eigenes Bett, dessen Komfort ich seit einem knappen Jahr nicht mehr genießen durfte, bitte hab Verständnis. Ich komme dich dann morgen besuchen, ja?!" Eva-Maria zog einen enttäuschten Flunsch, was Naike, die zugehört hatte, große Genugtuung verschaffte, obwohl sie es sich nur ungern eingestand. Nun hat sie ihren einsamen Wolf, dachte sie, und war ziemlich gespannt, ob die junge Mutter damit umgehen konnte.
Dann begann der allgemeine Aufbruch, die Heimkehrer wollten nichts als endlich nach Hause. Paul wurde in einen Krankentransporter geschoben und fuhr mit Jessica schon mal zur Simlane 10 vor, während Naike mit ihrem Sohn und den Kappes noch einmal kurz zum Pfarrhaus fuhr, um die restlichen Koffer und anschließend Abilene von der Schule abzuholen.
Sie bot Nicolas an, sich ein wenig Urlaub in der Simlane zu gönnen, was dieser aber dankend ablehnte, weil es auch ihn nach Hause trieb. "Ruf mich jederzeit an, wenn was ist, auch mitten in der Nacht, ok?!" - "Danke, Nic, ich weiß das sehr zu schätzen. Leb wohl! Und bitte komm uns so bald wie möglich wieder einmal besuchen, ja?!" - "Aber klar, spätestens bei eurer Hochzeit stehe ich natürlich frisch gestriegelt am Altar und nehme euch die Gelöbnisse ab", versprach Nicolas Kappe feierlich. "Glaube mir, bald wird das alles hier vergessen sein!"