@Chrissy: Vielen lieben Dank, meine Süße *knutsch*
Kapitel 12
Leben und Tod
Es war erst sieben Uhr und Lille wusste nicht recht, was mit sich anfangen. Der Bus ging erst um halb acht, sie hatte noch gute 20 Minuten Zeit, bis sie sich auf den Weg zur Haltestelle machen musste, die nur ein paar Meter von ihrer Haustür entfernt lag.
Um sich abzulenken, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und blätterte gedankenversunken in einer Mädchenzeitschrift hin und her, ohne sich recht auf den Inhalt der Artikel konzentrieren zu können. Ihr Körper kribbelte von oben bis unten, unbändige Freude und Nervosität schien sie wie elektrisch aufgeladen zu haben.
Da riss sie das Klopfen an ihrer Tür aus ihren Gedanken und auf ihr "Komm rein!" trat ihre Mutter ins Zimmer und sah sie an.
Lille sah von ihrer Zeitschrift auf. "Hei Mama, ihr ward lange weg, du und Papa. War`s schön beim Einkaufen, habt ihr alles bekommen?"
Lilles Mutter sah sie einen Moment zerstreut an, als verstünde sie gar nicht recht, was ihre Tochter da sagte. Dann nickte sie nur und antwortete: "Ja, ja... Lille... wir... wir müssen dich dringend sprechen."
Lille legte die Zeitschrift beiseite und stand auf. "Ach Mama, sei mir nicht böse, aber das ist gerade ganz schlecht. Du hast es doch nicht etwa vergessen, oder, Mama? In einer knappen Stunde treffe ich mich doch mit Tom, mein Bus geht gleich."
Sie strahlte ihre Mutter über das ganze Gesicht an. "Ich bin wahnsinnig aufgeregt, Mama."
Maria schluckte. Dass Lille auf ihr Date gehen wollte, hatte sie völlig vergessen. Einen Moment stand sie da und zögerte und betrachtete ihre Tochter eingehend. Sie sah so glücklich aus. Maria wurde unsicher. Sollte sie ihr den Abend mit Tom nicht noch gönnen? Wäre es nicht auch früh genug, ihr die schreckliche Nachricht morgen früh zu sagen?
Sie war ratlos und einen Moment schien der Boden unter ihren Füßen zu weichen und sie musste tief durchatmen, um nicht dem unabweichlichen Drang, sich zu setzen, nachzugehen.
Lille sah sie immer noch lächelnd an, schien völlig in sich versunken. Maria schüttelte energisch den Kopf. Nein, sie würden es ihr jetzt sagen, so wie sie es sich vorgenommen hatten. Lille würde es ihnen vielleicht nie verzeihen, wenn sie erfahren würde, dass sie es bereits an diesem Abend gewusst hatten und ihr verschwiegen. Sie sollte selbst entscheiden, wie ihr Leben nun weiterginge, diese Abmachung hatten sie und ihr Mann direkt nach dem Gespräch mit dem Professor getroffen.
... und schließlich gehörte auch dieses Date zu ihrem Leben.
"Nein, Lille, es muss jetzt sein", sagte sie darum mit fester Stimme. "Du kannst später noch zu deinem Date gehen.... wenn du das möchtest. Du brauchst auch nicht den Bus zu nehmen, ich fahre dich dann dorthin."
Lille wollte etwas erwidern, doch Maria sagte ungewohnt scharf und knapp: "Komm bitte mit ins Wohnzimmer."
Lille sah ihr verwundert nach. Was war denn jetzt los? Hatte sie etwa irgendetwas ausgefressen? Sie dachte scharf nach, konnte sich aber nichts vorstellen. Sie schluckte. Hoffentlich kamen ihre Eltern nicht auf die Idee, ihr das Date doch noch zu verbieten. Das wäre ja eine Katastrophe. Aber warum sollten sie das? Es bestand dazu doch keinerlei Veranlassung.
Da all die Grübelei nichts brachte und sie ihre Eltern nicht warten lassen wollte, folgte Lille ihrer Mutter schnell ins Wohnzimmer.
Ihr Vater saß bereits auf der Couch. Er wirkte irgendwie älter als sonst und ließ die Schultern hängen, sah sie kaum an, als sie herantrat und sich in den gemütlichen blauen Ledersessel sinken ließ. Maria setzte sich neben ihren Mann und atmete tief durch.
"Was ist denn mit euch los, ihr seht ja aus, als ob ihr Geist gesehen hättet", bemerkte Lille und lachte leise. Doch ihre Eltern sahen nur ernst und bedrückt zu Boden. Lille schluckte und bemerkte, dass ihre Mutter zitterte.
"Was ist denn los?" fragte Lille und wurde ernst. "Was wollt ihr mir sagen?"
Ihr Vater sah hilflos auf, machte den Mund auf, schüttelte dann kraftlos den Kopf und schwieg weiter, während er seiner Frau einen schwachen Blick zuwarf.
Lille beschlich ein seltsames Gefühl. Es kroch von unten die Füße herauf, durch die Waden, bis es schließlich in ihrem Bauch ankam und dort auf das warme Kribbeln der Vorfreude traf und diese wie mit einer Schlinge zu packen schien, um das Gebiet für sich einzunehmen.
Lille schluckte und versuchte, die Kälte, die sie mit einemmal empfand, abzuschütteln. Sie sah ihre Eltern an, wie sie beide dasaßen, blaß und schweigsam.
"Nun sagt doch schon", sagte sie langsam. "Was ist denn los? Ist etwas passiert?" Ihr fuhr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. "Es ist doch niemanden etwas zugestoßen, oder? Ist jemand von euch beiden krank?"
Lilles Mutter schüttelte den Kopf und sagte schwach: "Hör zu, Lille. Wir waren heute nicht einkaufen, nicht nur... wir waren im Krankenhaus. Weißt Du, Deine Testergebnisse lagen vor und der Professor hat uns zum Gespräch zu sich bestellt... deswegen waren wir auch so lange unterwegs..."
Lille merkte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, aber diesmal nicht aus kribbeliger Vorfreude, sondern aus einer wilden, nicht benennbaren Angst heraus.
Sie schluckte erneut, aber ihr Mund war mit einem Schlag sehr trocken. Wieso sahen beide Eltern so ernst aus, wieso lächelten sie nicht? Und was hatte das mit dem blöden Krankenhaus auf sich?
Ihr ging es doch schon lange wieder gut. Sie war wieder völlig gesund. Es konnte doch nichts schlimmes im Krankenhaus herausgekommen sein... oder...?
Lille sah ihre Mutter an, doch diese senkte erneut den Blick.
Was war hier nur los?
Lilles Mutter schluckte. "Lille... die Ergebnisse... es ist so... du... du hast einen Tumor, Lille", stieß sie hervor und redete sofort hastig weiter: "Einen Tumor im Kopf, Lille. Und - man kann nichts dagegen tun. Keine Operation, keine Medikamente, es ist aussichtlos, sagen die Ärzte. Wir... wir haben alles versucht, aber es besteht keine Chance mehr, sagt der Professor. Der Tumor wächst weiter und... und..."
Ihr versagte die Stimme und sie schlug die Hände vors Gesicht.
Lille durchfuhr es heiß. Sie versucht die Worte zu verstehen und stotterte: "Ein Tumor? In meinem Kopf? Was soll das bedeuten? Ich meine... ich... ich bin doch gesund, ich fühle mich doch ganz gut."
Doch ihre Eltern sahen sie nur bekümmert an. "Ein Tumor", stotterte Lille weiter. "Aber... man... man muss doch irgendetwas machen können dagegen, oder? Mama? Papa? Man - muss doch was machen können??"
Sie sah ihre Eltern hilflos an.
Doch ihr Vater schüttelte nur den Kopf.
Lille spürte, wie ihre Handinnenflächen kaltschweissig feucht wurden. Sie schluckte immer wieder, ihr Hals war so verdammt trocken und tat weh, als schnüre ihr irgendetwas die Kehle zu.
Sie suchte in den Gesichtern ihrer Eltern nach einer Antwort, nach einem aufmunternden Blick, einem Lächeln. Sie wartete darauf, dass einer von beiden sagen würde: Mach Dir keine Sorgen, mein Mädchen, wir schaffen das, wir kriegen das schon wieder hin, das wird alles wieder werden.
... doch sie fand nur Verzweiflung und Angst in den Augen ihrer Eltern und fühlte sich, als habe man ihr den Boden unter den Füßen genommen.
Die verwirrte Verzweiflung wandelte sich mit einemmal in Wut und Lille rief aufgebracht. "Wieso sitzt ihr beiden denn nur da und schweigt vor euch hin? Nun sagt mir doch endlich, was mit mir los ist!"
"Lille", sagte ihr Vater mit einer so schwachen, gebrochenen Stimme, dass es ihr eiskalte Schauer über den Rücken jagte. "Du wirst sterben, Lille."
Lille sah ihn einen Moment entgeistert an. Was hatte er da gesagt?? Sie musste sich wirklich verhört haben. Irritiert sah sie ihre Mutter an.
"Was?" stammelte sie. "Das... kann nicht sein."
"Oh, Lille", flüsterte ihre Mutter mit zittriger Stimme. "Es ist wahr, Lille, es ist wahr, es ist so furchtbar, aber es ist die Wahrheit. Der Tumor - er wächst und wächst... und keiner kann ihn aufhalten, er ist zu groß, um operiert zu werden oder von Medikamenten beeinflusst werden zu können... wir können alle nichts dagegen tun... oh mein Gott, es ist so schrecklich..."
Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Lille saß da und ihre Hände krampften sich um die hölzernen Lehnen des Sessels. Langsam, wie schwer tropfender Teer, sickerten die drei Worte in ihr Bewusstsein, die so abstrakt und furchtbar waren, dass sie eine endlose Zeit brauchten, um in ihr Verständnis zu gelangen:
"Ich werde sterben..."
Lille sprang auf und schlug die Hände vors Gesicht. Auch ihre Eltern hatten zu weinen begonnen.
Eine Weile war es still im Zimmer und jeder von ihnen gab sich seinem Entsetzen und seiner Trauer alleine hin.
Nach einer unbenennbaren Zeit straffte sich Lilles Oberkörper, sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte leise. "Du sagst, ich werde sterben- aber wann? Wie... wie lange habe ich noch?"
Ihre Mutter atmete tief durch. "Die Ärzte ... sie sagen... sie wissen es natürlich nicht genau... aber sie glauben... ein oder zwei Monate, Lille."
Lille schluckte. Ein oder zwei Monate...
"Einen Monat?" flüsterte sie. "Einen Monat, vielleicht auch zwei? Aber... ich bin doch nicht einmal siebzehn... ich meine... ich hatte doch noch so vieles vor... und... und nun? Was nun?"
Sie vergrub die Hände im Gesicht. "Was soll ich jetzt nur machen?"
Maria sprang auf und zog Lille in ihre Arme. "Oh mein Kind, mein Kind... ich wünschte, ich könnte dir helfen, ich wünschte, ich könnte es abwenden... es ist so schrecklich, Lille..."
Lille hielt ihre Mutter eine Weile ganz fest und weinte leise vor sich hin. Es war still im Zimmer. Es schien überall ganz still geworden zu sein.
Mit einemmal wurde die Stille durchbrochen. Die alte Standuhr an der Wand schlug achtmal, laut und metallern hallten die Schläge durch den Raum. Lille sah auf und löste sich schweigend aus der Umarmung ihrer Mutter.
Sie senkte den Kopf, nickte und ging langsam, wie schlafwandelnd zurück in ihr Zimmer, ließ die Tür leise ins Schloss schnappen und sah sich um...
Ende Kapitel 12.
Fs folgt.