Fortsetzung...
Zurück im Heim überließ ich Therese wieder der Obhut des Leichenkellers und ging die Treppe nach oben um mich in meinem Zimmer etwas auszuruhen. Mir tat der Rücken weh, von meinem Knie ganz zu schweigen und meine Füße lamentierten lautstark ob der Belastung, die ich ihnen zumutete, wenn ich sie dazu zwang, mich aufrecht vom Heim bis in die Stadt und zurück zu tragen. Als ich im oberen Stockwerk angekommen war und die Tür zum Korridor aufschlug, vernahm ich aus dem Gemeinschaftsraum ein monotones Schmatzen und Gurgeln. Das Geräusch wurde durch das Echo hier auf dem Flur so verzerrt, daß es sich anhörte, wie das Magenknurren eines mindestens haushohen Monsters, und genauso bösartig klang es auch. Entgegen meiner eigentlichen Sch.eissegalhaltung, was das bunte Treiben hier im Heim anging, fand ich mich plötzlich auf direktem Wege auf den Ursprung dieses Geräusches wieder. Ich war eigentlich von Natur aus nicht besonders neugierig. Im Gegenteil, ich war immer gut damit gefahren, die meistens hausbackenen Probleme anderer Leute zu ignorieren und mich um meinen eigenen Kram zu kümmern. Ich hatte nie eingesehen, warum ich mir auch noch die Last aufbürden sollte, die Päckchen anderer mitzutragen. Das war nun beleibe nicht meine Aufgabe. Was mich in diesem Augenblick dazu bewegte, dem Geräusch auf den Grund gehen zu wollen, kann ich nur mutmaßen. Einerseits hätte es mir anbetracht der Ereignisse der letzten Stunden nicht egaler sein können, was hier im Heim passierte, aber andererseits hatten gerade diese Ereignisse dafür gesorgt, daß es nun problemlos in meine Weltgleichung passte, daß sich hier aufeinmal ein Monster eingenistet hatte. In einer Welt, wo es Zeitstillstände gab, Menschen eine monotone Endlosschleife von Sätzen herunterrasselten und Kinder starben wie Ratten an der Pest, war das Auftauchen eines Monsters nun wirklich nicht weit hergeholt.
Und als ich den in den Gemeinschaftsraum trat, blieb mir die Spucke im Hals stecken. Das Monster war wirklich dort. Es hatte mehrere Arme und Beine, hielt ein Messer in den dreckigen Klauen und mit blutverschmiertem Maul tat es sich gütlich an – ich traute meinen Augen kaum- der Leiche eines kleinen Jungen. Ja, meine Vision, die ich hatte, bevor ich mit Therese losging, um den Zeitstillstand zu sehen, hatte sich bewahrheitet. Meine Mitbewohner hatten das kranke und fiebrige Kind, das vor kurzem noch aus dem Duschraum geflohen war, als Hauptgericht auf den Speiseplan gesetzt. Und jetzt hockten sie da und stopften sich das rohe, kranke Fleisch in den Rachen, ohne mir auch nur einen einzigen Blick zu schenken. Angesichts der Vorstellung von Normalität, die ich zweifelsohne irgendwo in mir verspürte, war mein erster Gedanke nicht etwa das Für und Wider eines moralethischen Konsens ob der Verspeisung von Artgenossen gewesen, sondern einzig und allein die Frage, ob sie den Jungen für ihr Festmahl geschlachtet, oder ihn erst kurz nach seinem Ableben durch seine Krankheit zur Speise degradiert hatten. Nein, in meinem Kopf gab es kein Gesetz, das Kannibalismus verbot, aber Mord war eine Sache, die sich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren ließ. Und noch bevor ich mir darüber nähere Gedanken machen konnte, hörte ich meine eigene Stimme sprechen: „Habt ihr ihn getötet?“
Einer der Meute sah mich kauend und mit blutigem Mund an und als wäre ich nicht wirklich da gewesen, wandte er seinen Blick sofort wieder ab auf das rohe und geschnittene Fleisch.
„HABT IHR IHN GETÖTET?“ schrie ich. Es war nicht von der Hand zu weisen, daß es niemanden interessierte, daß ich da war. Und daß niemand wirklich auf meine Frage antwortete, war Beweis genug dafür, daß ich recht hatte. Sie hatten ihn getötet. Es ging hier nicht um das Brechen eines Gesetzes, oder das Einhalten von moralischen Aspekten des Zusammenlebens. Es ging darum, die eigene Haut vor dem Verhungern zu retten, egal, was es kostete, und das taten sie zweifelsohne. Fressen und gefressen werden, hieß es. Der Stärkere überlebt. Ein primitiver Evolutionsplan, so alt wie die Menschheit selbst. Und hier in dieser kränkelnden Form von Zivilisation hatte dieses Naturgesetz wieder Einzug erhalten. Es brauchte keinen Gedanken, keine Fragen oder Antworten, es brauchte nichtmal ein Gefühl dafür – es war ein Instinkt, der sich in jedem Lebewesen auf der Welt wiederfinden ließ. Daß dieser Instinkt, von dem ich glaubte, daß er mit zunehmenden Generationen der zivilisierten Gesellschaft verkümmert worden war, mit einem Male so hartnäckig wieder zurückschlagen konnte, als sei er niemals abgeschafft worden, versetzte mich in pures Grausen. Der ganze soziale Nerv, den man mühsam in Jahrtausenden blankgelegt hatte, um bei bloßem Kontakt Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn aufkeimen zu lassen, war hier im wahrsten Sinne des Wortes abgestorben.
„Ihr widert mich an!“ spuckte ich die Worte hinaus und damit war alles gesagt, was es zu sagen gab. Es stand nicht in meiner Macht, sie von ihrer Freßorgie abzuhalten, noch konnte ich das Kind wieder lebendig machen, indem ich weitere Haßtiraden auf die Schlächter von mir gab. Ich drehte mich auf dem Absatz herum und verschwand in meinem Zimmer.
Ich war den Tränen nahe. Was immer hier in der Welt passierte, es passierte mit rasender Geschwindigkeit. Es kam mir vor, als wäre es erst wenige Minuten her, als hier im Heim noch ein trister und öder, aber durchaus noch mit einem Mindestmaß an sozialer Empathie gesegneter Alltag herrschte. Jahrelang war es so gewesen und man hatte eine gewisse Ordnung in den Dingen. Man wußte, was passieren würde und was nicht. Man konnte sich darauf einstellen und damit leben, im besten Falle sogar damit zusammenarbeiten – aber jetzt war es, als hätte der Teufel persönlich seine Finger mit im Spiel. Mir kam es so vor, als würde sich die Ordnung mit jedem Schritt ändern, den Therese und ich gingen, um dem Geheimnis von Treesville auf die Schliche zu kommen. Jeder unserer Schachzüge beinhaltete einen Gegenzug vom Schicksal, oder wer auch immer hier die Fäden zog. Und es ging alles so wahnsinnig schnell. Mit jeder Frage, die wir stellten, änderte sich ein Stück in der Weltordnung. Wie lange würde es wohl dauern, bis alles komplett im emotionslosen Chaos versinken würde?
Moe! Ich hatte sie schon sehr lange nicht mehr gesehen. Hatte ich sie bei meinem letzten Besuch nicht als abtrünnigen Fädenzieher bezeichnet? War sie es jetzt, die diese Welt zum Einsturz brachte? Ich mußte sie wiedersehen. Ja, im Moment wünschte ich mir nichts mehr, als in ihrem Wohnzimmer aufzutauchen und sie zur Rede zu stellen, und als wäre es ein weiterer beabsichtigter Schachzug des Schicksals gewesen, begann sich der Raum um mich herum zu drehen und ich wurde in diese dumpfe und behagliche Schwärze gerissen, mit der sich mein Eintritt ins Traumleben ankündigte. ‚Jetzt geht es dir an den Kragen, Moe!’ dachte ich und nur ein paar Sekunden später stach mir das gleißende Licht der Sonne, die eigentlich nur in Fabeln und Geschichten existierte, ins Auge.
„Ich sehe nicht ein, warum das so eine schlechte Idee sein sollte!“ hörte ich Moe diskutieren, die wie von einer Hummel gestochen im Zimmer auf und ab lief. „Das haben unsere Großmütter im Krieg damals schon gemacht und es hat ihnen geholfen!“
Krieg? Großmütter? Ich wollte mich bewegen um auf mich aufmerksam zu machen, da schoß ein nicht zu verachtender Schmerz durch meine Gelenke. Aufeinmal dröhnte mein Kopf, als hätte eine Horde von kleinen Handwerkern in meinem Gehirn Einzug erhalten, die jetzt mit Hammer und Meißel anfingen, aus meinem Schädel eine Titelseitenidylle für die Zeitschrift ‚Schöner Wohnen’ herzurichten. Für eine Sekunde lang war ich benommen vor Schmerz und Moe ließ sich nicht davon abbringen, weiterzureden.
„Frische Luft hat noch niemandem geschadet! Und wenn wir ehrlich sind, ist ständiges in der Bude hocken sogar kontraproduktiv für die Seele. Man braucht ab und an mal einen kleinen Tapetenwechsel.“
„Moe!“ sagte ich kleinlaut um den Schmerz in meinem Kopf nicht zu einer weiteren Attacke herauszufordern. „Hör auf mit dem Sch.eiß!“
Sie drehte sich herum und schaute mich mit irritierten Blicken an.
„James?“ kam es genauso leise von ihr zurück, als könne sie nicht glauben, wen sie da vor sich hatte. Es mußte auch schwer zu glauben sein, denn an ihrer Stelle hätte ich auch nicht mehr damit gerechnet, nach der letzten Ansprache hier nochmal aufzukreuzen.
„Hast wohl gedacht, ich wär gestorben, was?“ kam es in belustigtem Tonfall über meine Lippen. „Aber ich sag dir was. So leicht stirbt es sich nicht, selbst wenn du jetzt aus meinen Mitleidenden eine Horde skrupelloser Kannibalen gemacht hast.“
„Wovon redest du?“ fragte sie und legte ein unwissendes Gesicht auf. Ja, sie hatte ihre Rolle perfekt einstudiert.
„Tu doch nicht so!“ entgegnete ich. „Weißt du, was du in deiner grandiosen Rechnung vergessen hast?“ Ich wartete die Antwort nicht ab. „Um jemanden einzuschüchtern, indem man ihn mit Menschenfressern umgibt, braucht man etwas ganz essentielles: Nämlich einen Mitspieler, der Angst vor dem Tod hat. Und das hab’ ich nicht.“
Moe wackelte in ihrem typischen Entengang auf mich zu und setzte sich mir schräg gegenüber.
„James, ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“
„HÖR AUF DAMIT!“ schrie ich und mein Kopf dankte es mir sofort, indem er eine weitere Schmerzwelle durch meinen Schädel schickte. „Was sind die Leute von Treesville eigentlich? Häh? HÄH?“
„Ich weiß nicht was du meinst.“ antwortete sie.
„Hör endlich auf damit!“ sagte ich nochmals, aber diesmal leiser. „Du weißt doch über alles bescheid, nicht wahr? Was ist Treesville? Ist es ein Experiment? Ist es sowas wie ein Strafprogramm oder ein illegales Objekt mit Menschen als Versuchspersonen? Wer sind die Menschen in Treesville? Sind das überhaupt Menschen?“
Moe schüttelte unwissend den Kopf. „James, ich weiß nichts über Treesville. Nur das, was du mir davon erzählst! Glaubst du, ich kann hellsehen? Ich kann mir nichtmal ein Bild von dieser Stadt machen.“
„Sie verhalten sich wie Maschinen.“ fuhr ich fort, ohne auf ihre Worte einzugehen. „Sie sagen immer das selbe, sie sind nicht ‚echt’, und du weißt das, nicht wahr? Sag mir endlich die Wahrheit! Ich habe ein verfluchtes Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, wenn ich schon unter ihr leiden muß!“
Sie seufzte und schüttelte abermals den Kopf.
„Weißt du, was das Problem daran ist, daß ich dir nicht weiterhelfen kann?“ fragte sie. „Das Problem daran ist, daß ich nur die Dinge weiß, die ich von dir höre, und mir selbst keinen Reim darauf machen kann. Du kommst her, du wirfst mir bruchstückhaft Dinge vor, von denen ich nie den Hauch einer Ahnung hatte und verlangst dann von mir Antworten. Wie kann ich die Antworten denn wissen, wenn ich nichtmal weiß, worum es geht?“
„Du lügst!“ sagte ich barsch. „Du weißt sehr wohl, worum es geht, Moe! Aber irgendjemand hat dir verboten, mit mir darüber zu sprechen, nicht wahr? Es dient alles irgendeinem höheren Zweck, der unter allen Umständen gewahrt werden soll, oder etwa nicht? Dann sag mir einfach nur, wer hinter diesem ganzen Schauspiel steckt. Das würde mir schon reichen.“
„James…“ Ihre Augen sahen aufeinmal furchtbar traurig aus. „Manchmal geschehen Dinge, die nicht geschehen sollten. Manchmal passiert etwas im Leben eines Menschen, etwas, das viel zu groß ist, als daß er es mit eigenen Händen packen könnte. Es ist nicht deine oder meine Schuld, daß sowas passiert. Wir können nur tatenlos danebenstehen, einer als Opfer, einer als Helfer – aber aus der Welt räumen, das können wir nicht.“
„Und wer dieses Opfer ist, liegt auf der Hand, nicht wahr?“ biß ich weiter. „Was für eine Rolle hat Therese in dieser Rechnung, häh? Wenn ich das Opfer bin und du der vermeindliche Helfer, was zur verfluchten Hölle ist dann Therese? Laut dieser Rechnung wäre sie nämlich überflüssig.“
„Ich weiß es nicht.“ antwortete sie resigniert. „Ich bin kein Teil deines Puzzles, James. Ich kann das Puzzle weder sehen, noch zusammenlegen. Ich kann nur hier sein und versuchen, da zu helfen, wo es mir möglich ist, verstehst du das denn nicht?“
„Nein!“ sagte ich wahrheitsgemäß.
„Ich weiß nicht, welche Aufgabe Therese zuteil geworden ist. Aber jeder Mensch hat eine Aufgabe. Trotzdem steht es nicht in meiner Macht, die Aufgaben anderer zu erkennen und zu deuten, das musst du mir glauben.“ bekräftigte Moe ihre Worte.
„Was ist deine Aufgabe?“ fragte ich. „Wenn du die Aufgaben der anderen nicht erkennen kannst, dann weißt du aber mit Sicherheit deine eigene, oder irre ich mich schon wieder?“
„Ich habe den großen Plan meines Lebens noch nicht gefunden.“ sagte sie bitter. „Allerdings bin ich mir sicher, daß ich ihn eines Tages wissen werde, so wie jeder Mensch es eines Tages wissen wird.“
„Gut, frage ich eben andersrum, wenn du auf diese Art und Weise keine klaren Antworten gibst.“ erwiderte ich. „Wenn es Opfer und Helfer gibt, wer ist der Täter? Denn ohne Täter kein Opfer. Also, wer ist es?“
Moe sah untröstlich aus und man merkte, daß sie sich nicht sicher war, was sie darauf antworten sollte. Es war, als führte ein kleiner Krieg in ihrem Kopf statt, dessen Sieger auch die Antwort auf meine Frage beeinflussen würde.
„Ein Mann.“ sagte sie schließlich. „Aber er hat keine Macht mehr über die Dinge.“
„Was für ein Mann und wo finde ich diesen Scheißkerl?“ fragte ich in energischem Tonfall.
„Du willst zu ihm?“
„Worauf du dich verlassen kannst!“ Ich legte mein Gesicht in Zornesfalten. „Bring mich zu ihm!“
Moe seufzte. „Das kann ich tun, aber es wird dir nicht weiterhelfen, James.“
„Doch, das wird es!“ beharrte ich. „Selbst wenn dieser verfluchte Mistkerl keine Macht mehr hat, so muß ich trotzdem in den Auswirkungen seines tollen Drecksplans leben. Und dafür gehört ihm ordentlich die Fresse poliert.“
Ich wußte, daß meine Worte weder einschüchternd, noch sonderlich bedrohlich wirkten, denn dazu entsprangen sie einfach zu sehr meiner eigenen Verzweiflung. Ebensogut hätten sie aus dem Mund eines trotzigen Kleinkindes stammen können, daß zwar wußte, daß es nichts erreichen konnte, aber trotzdem leere Drohgebärden aussandte, um die eigene Resignation nicht preisgeben zu müssen.
Moe nickte. „Gut… also, wenn du willst, bringe ich dich hin. Ich sag’ dir nur jetzt schonmal, es wird dir nicht weiterhelfen.“
„Oh doch, das wird es.“ erwiderte ich. „Selbst wenn man an dem Zustand, wie er jetzt ist, nichts mehr ändern kann, so kann ich dann wenigstens Antworten fordern, die mir helfen, das ganze zu verstehen!“
Moe zuckte mit den Achseln und zeigte in Richtung Wohnungstür. Dieser Aufforderung kam ich nur allzu gerne nach und stellte diesbezüglich auch die Schmerzen in meinen Gliedern und in meinem Schädel hinten an. Ich stand auf und folgte ihr aus dem Haus.
Was ich draußen sah, entsprach in etwa dem, was die abenteuerlichen Gute-Nacht-Geschichten, an die ich mich noch bruchstückhaft erinnerte. Es war eine Welt ohne Nebel und ohne Nieselregen. Eine Welt, in der man tatsächlich barfuß draußen spazieren gehen konnte, ohne zu frieren. Es war niemand auf der kleinen Straße, aber der Wind und das Vogelgezwitscher ließen die gesamte Szenerie so real und wirklich aussehen, daß sie kaum mit dem zu vergleichen war, was ich aus Treesville kannte.
„Es ist nicht weit von hier.“ sagte Moe und zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, die von einer hohen Mauer versperrt wurde. „Wir befinden uns sozusagen Tür an Tür mit dem Menschen, zu dem du willst.“
Ich sagte nichts. Es gab einfach im Moment nichts, was ich zu sagen hatte. Nicht, bevor ich nicht ein paar Antworten bekam. Und so trottete ich ihr einfach nur hinterher und hatte Mühe, mein Gleichgewicht zu halten – wirkte meine gesamte Körperwahrnehmung doch irgendwie ein wenig verzerrt und aus der Bahn geworfen. War ich gewachsen? Der Abstand zwischen meinem Gesicht und dem Asphalt wirkte irgendwie ungewohnt. Es mochte an meinen Kopfschmerzen gelegen haben, oder auch daran, daß mir alle Gelenke wehtaten, aber ich fühlte mich seltsam deformiert und surreal. Ja, zum ersten mal in dieser Welt hatte ich das Gefühl, ‚falsch’ zu sein. Und das war keineswegs der Umgebung zu verdanken, denn die hätte realer nicht wirken können, nein, es war meine eigene Selbstwahrnehmung, die sich anfühlte, als käme sie geradewegs aus einem körperlosen Traum.
Ich folgte Moe wie ein treuer Hund durch zwei in die Mauer eingelassene Gittertüren, die mit aufwändigen Mustern verziert waren und auf dessen Spitze ein paar mir nicht bekannter Symbole prangten. Es war nicht schwer zu erkennen, was dahinter lag: Ein Friedhof, mit ordentlich geschnittenem Gras, sorgfältig gepflanzten Stiefmütterchen auf den einzelnen Gräbern und einem aus weißem Kies bestehenden, aufgeschütteten Weg, der durch die Reihen zog. Ein Friedhof, wie er aussehen sollte und dem man ansehen konnte, daß es Menschen gab, die sich um ihn kümmerten. Als wir die Kindergräber passierten, fuhr mir ein Schauer über den Rücken. Hier lagen sie also, die Kleinen. Ordentlich in einer Trauerzeremonie begesetzt in hübsch anzusehenden Gräbern, an deren Kopf aus gut bearbeitetem Holz ein Kreuz mit Verzierungen stand, um dem geliebten Menschen, den man verloren hatte, die letzte Ehre zu erweisen. Ja, hier wurden die Toten begraben, im Heim wurden sie gefressen.
Ich war mir völlig sicher, daß Moe mich über diesen Friedhof führte, weil er eine Abkürzung war, denn hinter den letzten Gräberreihen waren in der Ferne einige prunkvolle Häuser zu sehen, auf die wir geradewegs zusteuerten. Doch mit einem Male blieb sie stehen und drehte sich zu mir um.
„Was ist?“ fragte ich. „Verlaufen?“
Sie schüttelte traurig den Kopf. „Nein, James. Wir sind da.“ Mit diesen Worten zeigte sie auf ein Grab zu ihrer Rechten. Ich folgte ihrem Blick und war sichtlich irritiert.
„Wie?“ kam es über meine Lippen. Sah ich doch nichts weiter als ein verwuchertes und der Wildnis überlassenes Stück Erde mit einem massiven Grabstein, auf dem die Inschrift ‚Albert Jansen, geboren 1954, gestorben 2001’ stand. Ich sog die Luft ein und stieß sie mit einem lauten Zischen wieder aus.
„Albert Jansen?“ fragte ich. „Wer soll das sein?“ Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich diesen Namen jemals schonmal gehört hatte, aber so sehr ich meinen Kopf auch anstrengte, der fallende Groschen blieb aus. Und davon abgesehen, schien dieser Herr Jansen nicht gerade beliebt gewesen zu sein, denn offensichtlich hatte sich seit Jahren niemand mehr um das Grab gekümmert.
„Naja, du wolltest zu ihm.“ pflichtete Moe mir bei. „Ich hab dir gesagt, daß es dir nicht groß weiterhelfen wird.“
Mit einem Male packte mich die Wut. Seit Tagen war dies das erste, was mir einige Antworten hätte einbringen können, ein Lichtblick in der Hinsicht auf eine Erklärung des ganzen Jammers, und was passierte? Ich stand nur vor einem mir nichtssagenden Grab, in dem ein Mensch lag, von dem ich nie etwas gehört hatte und all meine erhofften Antworten waren mit ihm im Dreck verbuddelt. Ich überlegte kurz, ob ich genug in der Blase hatte, um vor Frust auf den Grabstein zu pinkeln, mußte den Gedanken mangels Flüssigkeit aber wieder verwerfen. Ich stand wieder bei Null. Oder besser gesagt, ich hatte statt einiger Antworten nur weitere Fragen bekommen, die sich mir nicht erschließen wollten. Wie konnte ein einzelner Mann, der schon vor Jahren gestorben war, einen so penetranten Einfluß auf die Welt nehmen und selbst Naturgesetze brechen, die bisher immer als unumstößlich galten?
Ich konnte nicht mehr, ich war fertig mit der Sache.
...to be continued