@xBoux: Die Bilder sind nur n Accessoir, nichts weltbewegendes. Ich messe dem ganzen Bildergschmarri nicht soviel Bedeutung bei, sonst hätt ich Pixiebücher für Kinder illustriert.
Fortsetzung...
Eine gefühlte Ewigkeit verbrachte ich damit, auf meinem Bett zu liegen und darüber zu sinnieren, was Anna mir gesagt hatte. Ich spürte, wie meine Gedanken sich immerzu im Kreise drehten und die Müdigkeit mich ab und zu einholte. Der Plan stand fest. Anna wollte die Flucht wagen. Weg von der Stadt und weg vom Heim. Es blieb also nur ein Weg, und der führte durch die Wälder. Ich versuchte mich zu erinnern, was es jenseits des Waldes gab. Die Erde ist bekanntlich eine Kugel und Treesville sicherlich nicht der einzige Ort auf diesem riesigen Planeten. So sehr ich meinen Kopf jedoch anstrengte, ich erinnerte mich an gar nichts. Nicht an andere Städte ringsherum und nicht an etwas, das jenseits des Waldes lag.
„Schon irre…“ hörte ich mich selbst sagen. Anna hatte recht. Alles, was hier passierte, oder auch nicht passierte, war ein einziges Kuriosum, und es hatte fast den Anschein, als würde eine überirdische Macht dafür sorgen, daß wir dumm blieben und keine Fragen stellten.
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Ich war so lange schon in diesem Heim, und trotzdem kannte ich alle Fluchtversuche, die hier stattgefunden haben mussten, nur aus Erzählungen. Wirklich dabei war ich nie gewesen, denn all das waren Legenden, die vor meiner Zeit spielten. Also wer gab mir die Gewißheit, daß all jenes auch stimmte, was mir erzählt wurde? Trotzdem hielt man daran fest, als hieb und stichfestes Argument, welches jede Idee von Flucht sofort im Keim erstickte, denn niemand wagte es auch nur ansatzweise, diese Geschichten in Frage zu stellen. Je mehr ich nachdachte, desto mehr hatte ich auch das Gefühl, mich gedanklich auf ein verbotenes Terrain zu bewegen. Dabei gab es nichtmal einen logischen Grund dafür. Dennoch, ich erkannte das große Paradoxon und mir wurde schlecht, je tiefer ich mich in dieses riesige Spinnennetz von unbeantworteten Fragen und urbanen Legenden hineinwagte.
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Hatte ich wirklich einmal außerhalb des Heims gewohnt? Hatte ich Eltern? Geschwister? Freunde? Ich wußte es nicht. Wer waren die Menschen, die bei einem Fluchtversuch in den Wäldern starben? Hatten sie überhaupt Namen? Die Neuen erzählten, daß im Wald furchtbare Dinge geschehen, wenn man es wagte, ihn zu betreten. Warum saßen dann die Erkenntnisse, daß es keine Monster und Gespenster gibt, so fest in meinem Kopf?
Ja, ich war angefixt von dem Versuch, die Wahrheit herausfinden zu wollen. Wie auch immer sie aussah, ich war bereit, sie aufzudecken. Und wenn ich dafür mein Leben lassen musste, war das immer noch ein heldenhafterer Tod, als hier im Heim sowieso irgendwann zu verrecken.
Ich beschloß, Annas und mein Vorhaben Therese zu erzählen. Wenn ich sie davon überzeugen konnte, mit uns zu gehen, dann wären wir immerhin schon drei Leute gewesen. Und wenn es einen von uns erwischte, auf welche Art auch immer, konnten die anderen immer noch zurückgehen und endlich erzählen, was es mit dem Wald auf sich hatte.
Beschwingt durch diese Idee stand ich auf und marschierte aus dem Zimmer.
Bevor ich die Tür zum Treppenhaus öffnete, fiel mein Blick auf die Leiche, über die ich gestolpert war. Ja, wahrhaftig musste sie eine Schönheit gewesen sein. Ich stand eine Weile nur da und betrachtete sie, bis mir mein Tempusfehler auffiel. Sie war keine Schönheit gewesen, sie war es immer noch. Oder vielleicht gerade jetzt, wo sie tot war.
Es wäre eine Schande gewesen, hätte man sie runter zu den anderen gebracht. Nein, ein so hübsches Gesicht durfte nicht zusammen mit Hinz und Kunz verbrannt werden.
Was mich genau zu dazu trieb, weiß ich nicht genau, aber als ich sah, daß sich niemand auf dem Flur aufhielt, beschloß ich, das tote Mädchen in mein Zimmer zu bringen, denn dort war sie sicher vor Thereses Fleischerhandwerk. Ich setzte sie vorsichtig neben mein Bett, wischte ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und als ich sah, daß es zumindest rein äußerlich den Anschein machte, ich wäre in meinem Zimmer nicht allein, nickte ich zufrieden und verließ den Raum.
Das dumpfe, metallisch quietschende Geräusch, das die Kellertür machte, wenn man sie aufstieß, hatte für Therese etwas von einer Türklingel. Manchmal rief sie mir irgendwelche sarkastischen Begrüßungen zu, bevor ich die Leichenhalle betrat. So war es auch diesmal.
„Nur herein, Klumpfuß, ich freue mich doch immer über Besuch von dir. Hast du Kuchen mitgebracht?“
Ich legte ein sehr aufgesetztes Lächeln auf und lehnte mich in gesundem Abstand zu ihr an die Wand. Nun war ich kein Fan von Smalltalk gewesen, deshalb kam ich gleich zum Punkt.
„Wie wäre es, wenn du mich und Anna bei einem Fluchtversuch begleitest?“ fragte ich.
Therese verfiel sofort in haltloses Gelächter.
„Ich weiß wirklich nicht, was daran komisch sein soll.“ entgegnete ich genervt, „immerhin warst du immer diejenige, die hier weg wollte und mir seit Jahr und Tag nur von Fluchtplänen erzählt.“ Ich bemühte mich, möglichst ernst zu klingen.
„Ich lache nicht über den Fluchtplan…“ grinste Therese, „…aber wer ist Anna?“ Sie machte keine Anstalten, ihr Lachen endlich in der Versenkung verschwinden zu lassen.
„Nee, ne?“ murmelte ich, „das ist jetzt nicht wirklich das einzige, was du dazu zu sagen hast, oder?“ Es war nicht das erste mal, daß ich mich das fragte, aber just in dem Moment kam mir der Gedanke, daß Therese wirklich pathologisch bescheuert war. Das wirklich schlimme daran wäre gewesen, daß sie nichteinmal was dafür konnte und es sicherlich nichtmal ändern könnte, wenn sie es wollte.
„Ich find dich zu … witzig, James!“ brüllte sie vor Lachen. „Da erzählst du mir seit Jahren, wie nervig du die Neuen und ihre Weltverbesserervorstellungen findest, und aufeinmal kommt irgendein Mädel daher, und schon benimmst du dich wie ein Idiot! Kommst du endlich in die Pubertät?“ Besonders den letzten Teil ihres Satzes muß sie enorm komisch gefunden haben, denn sie lachte so laut, daß es in meinen Ohren schmerzte.
„Verdammt, Therese!“ schrie ich, „Ich meine es ernst! Oder erinnerst du dich etwa an die Zeit vor dem Heim? Na komm schon, sags mir!“
Sie beendete abrupt ihr Lachen und tauschte die übertrieben heitere Mimik gegen eine zornig dreinblickende Fratze aus. „Nein verflucht!“ sagte sie mit einer tiefen Brummelstimme, die nur sie beherrschte. „Es gibt keine Zeit vor dem Heim, du Trottel! Aber es ist nett, daß es zumindest nur 6 Jahre gebraucht hat, bis du endlich kapiert hast, wovon ich eigentlich rede!“
Ich wurde hellhörig.
„Hast du dir je die Pisser angesehen, die die Neuen herbringen? Hast du je in ihre Augen geschaut, Klumpfuß? Wenn, dann hättest du nämlich bemerkt, daß die genauso hohl sind wie alle anderen hier. Zombies. Ohne Substanz. Leere Hüllen, die nichts anderes tun, als ein festgefahrenes Programm abspulen. Wobei… ich muß mich korrigieren. Es sind nicht DIE Pisser, die die Neuen herbringen, es ist EIN Pisser. Und zwar immer der selbe, und wenn du die Augen richtig aufgemacht hast, James, dann wäre dir aufgefallen, daß dieser Mann der Einzige ist, der hier seit ewig schon rauffährt und immer noch aussieht, wie in der Mid-Life Krysis stecken geblieben. Der ist nicht einen Tag älter geworden in all den Jahren, die ich schon hier bin!“ Therese knirschte mit den Zähnen und verfinsterte ihre Mimik mit jedem Satz.
Ich mußte mir selbst eingestehen, niemals wirklich nahe am Geschehen gewesen zu sein, wenn der Pick-Up mit den neuen Kindern hier ankam. Wenn ich es überhaupt bemerkte, so saß ich mit einer ungeheuren innerlichen Gleichgültigkeit der Situation gegenüber am Fenster und nahm es nur aus dem Augenwinkel wahr. Anders als Therese, die jedesmal aus ihrem Kellerloch nach oben gekrochen kam um zu beobachten. Und das tat sie wohl sehr genau.
„Also kommst du mit?“ fragte ich.
„Nein!“ antwortete sie und wie auf Knopfdruck zierte wieder ein Lächeln ihr Gesicht.
„Wieso nicht?“ Hatte ich wirklich erwartet, ich hätte Therese zu irgendwas überreden zu können?
„Weil euer Plan für die Tonne ist! Irgendwas ist da im Wald. Womit ich nicht behaupten will, es seien Gespenster oder Dämonen, aber irgendwas ist da wirklich, sonst hätte es längst ne Ansichtskarte von einem gegeben, der es da raus geschafft hat. Aber bitte, wenn ihr euch selbst umbringen wollt, dann nur zu.“
Ich runzelte die Stirn und mir dämmerte, daß Therese wahrscheinlich recht hatte. Vermutlich hatte es wirklich welche gegeben, die es versucht hatten und niemals wieder kamen. Und wenn es jemand wußte, dann sie, denn immerhin war sie die jenige, die jedes Gesicht hier im Heim kannte, und wenn eines fehlte und weder auf den Etagen, noch im Keller aufzufinden war, dann war sie es, die darüber mentale Strichlisten führte. Eine Chance jedoch gab es, und die hing sich daran auf, daß wohl keiner, der es wirklich aus dem Wald heraus geschafft hatte, je auf die Idee kommen würde, tatsächlich eine Ansichtskarte zu schreiben.