Er grinste.
„Oh ja, klar. Ist für den Hund - der steht auf Sauerstoff, deswegen sind wir auch meistens draußen. Aber einen Abend wird er es wohl überleben.” Black schloss das kleine Fenster und drehte die Heizung an.
„Ich weiß gar nicht, ob die überhaupt funktioniert”, sagte er skeptisch. „Ach ja, setz dich.” Er deutete auf den weißen Plastikstuhl. „Oder aufs Bett, wie du willst.”
Um nicht unhöflich zu sein, ließ ich mich auf der harten Sitzgelegenheit nieder.
„Wie lange wohnst du schon hier?’, fragte ich, während mein Blick über die Fotos an den Wänden flog.
„Öhm… ein paar Wochen. Willst du einen Tee? Was anderes habe ich leider nicht.”
„Oh ja, gerne, danke. Schön heiß bitte. Man, wie kann man das in so einer kalten Bude aushalten?” Ich fröstelte und steckte meine Hände in die Jackentaschen.
„Ich merk’ das irgendwie nicht so glaub ich, weiß auch nicht”, meinte Black beiläufig, während er Wasser aufsetzte.
„Willst du eine Decke?”
„Nein danke, geht schon”, antwortete ich, obwohl ich mich liebend gerne in eine dicke Decke eingekuschelt hätte, doch wollte ich meinem Gastgeber nicht so viele Umstände machen.
„Und Black…”, fiel mir ein, „wo ich jetzt schon in deiner Wohnung bin und so sag mir bitte, was dich zu mir verschlagen hatte. Ich frage es mich die ganze Zeit. Du wolltest keinen Sex, was wolltest du?”
„Ich wollte reden, das weißt du schon”, entgegnete der junge Mann und setzte sich dann vor mich auf den Fußboden. Einige Sekunden schwiegen wir, dann erzählte er mir, was ihn zu mir geführt hatte.
„Meine Eltern sind vor kurzer Zeit gestorben, das hab ich dir schon erzählt. Deswegen kümmere ich mich jetzt um Stan, er gehörte ihnen.”
„Ja… und?”
„Ich bin siebenundzwanzig und habe seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern gehabt. Mit siebzehn, das war, als ich erfuhr, dass meine Mutter eine Hure war.”
Er schluckte und schwieg für einige Sekunden und fand keine Worte, die hätten ausdrücken können, was ich in diesem Moment dachte.
„Ich hasste sie dafür. Zog zu einem Onkel, machte die verdammte Schule zu Ende, begann ein Studium, welches ich nach einen Semester schmiss, als mein Onkel an Krebs starb. Ja… ich hab’ studiert.” Blacks Stimme klang wehmütig und ich bildete mir ein, dass seine Augen feucht wurden.
„Medizin. Ich war echt gut. Oh man, kannst du dir das vorstellen? Ich habe Medizin studiert.” Er stockte wieder für einen Moment.
„Danach… war nichts irgendwie. Habe ein bisschen gejobbt, in Bars und so, nebenbei fotografiert, einiges hab ich verkauft, ich war nicht schlecht.” Er sah auf die Fotos an der Wand. „Aber es ging bergab. Drogen waren verführerisch zu der Zeit… aber ich bin schnell wieder davon losgekommen. Irgendwann hatte ich einen Job, als Helfer auf’m Bau. Ehrlich anstrengend, aber es war gar nicht so schlecht. Anfang Sommer erfuhr ich, dass meine Eltern nen Unfall hatten. Beide tot. Ich habe sie seit zehn Jahren nicht gesehen.” Black schniefte und auf einmal war aus dem großen starken Mann ein bemitleidenswerter Junge geworden.
„Ich habe den Hund genommen und ein paar Wochen geheult. Gott, was war ich für ein Arsch. Aber dann… ich musste wissen, wie meine Mutter gelebt hatte. Wie es ihr ergangen war. Deswegen war ich zu dir gekommen. Sie konnte es mir nun ja nicht mehr erzählen. Ich dachte, vielleicht kannst du mir verdeutlichen, was euch den Anreiz gibt, so einen Job zu machen. Was du fühlst… aber natürlich lag ich falsch.
Du konntest mir gar nichts sagen. Aber ich sah in dir den zerbrochenen Menschen, ein Abbild meiner selbst. Ohne, dass du es merkst, kämpfst du schon um deine Existenz. Erst tatest du mir nur Leid. Aber dann wurde es so viel mehr….”
Eine Träne lief mir über die Wange, ich rutschte vom Stuhl auf Blacks Schoss und umarmte ihn. „Es tut mir Leid”, sagte ich. „Es tut mir so Leid.”
Black schlang seine Arme um mich.
„Mir auch.”
Einige Zeit saßen wir einfach so da und bewegten uns nicht, bis das blubbernde Geräusch kochenden Wassers uns aus unserer Versteinerung holte.
„Oh man”, ergriff Black das Wort, nun wieder mit festerer Stimme.
„Wenn man uns so sieht, muss man echt Mitleid haben.” Er nahm mich hoch, stand auf und legte mich auf sein Bett.
„Ich hole den Tee.”
Das Bett war zu meiner Überraschung nicht schwarz, sondern rot bezogen und die Bettwäsche duftete herrlich frisch gewaschen, irgendwie anders, als ich es erwartet hatte.
„Meine Eltern haben… hatten… ein kleines Haus in Italien”, erzählte Black weiter, während er sich mit den beiden Teetassen zu mir aufs Bett setzte und mir eine überreichte.
„Auf so einer Insel. Das gehört nun mir.”
„Was?!” Ich verschluckte mich fast am Tee.
„Sie waren da vor ein paar Jahren hingezogen, wollten weg aus Deutschland. Na ja, ich habe keine Geschwister und bin der einzige Erbe.”
Ich konnte es nicht fassen.
„Wieso bist du denn noch hier?”
„Das Ironische ist, dass sie mir keinerlei Geld hinterlassen hatten. Ein paar Tausend, aber das ist für die Beerdigung und so drauf gegangen. Ich habe weder Geld, um dahin zu kommen, noch, um da nen gescheiten Anfang zu machen. Deswegen bin ich nach Hamburg gekommen. Ehrlich gesagt wollte ich tatsächlich in die Drogenszene einsteigen, um möglichst schnell möglichst viel Kohle zu machen… mir war es ganz egal wie, Hauptsache ich konnte schnell hier weg. Aber… ich konnte es nicht. Lach mich aus, aber ich war zu schwach. Wie könnte ich ahnungslosen Teenagern Heroin andrehen? Dafür sorgen, dass ihr Leben den Bach runtergeht? Nein. Ich konnte es nicht. Nun habe ich gar nichts. Ich werde wohl niemals nach Italien kommen.”
Black lachte gequält und nippte an seinem Tee.
„Ich werde wohl das Haus da verkaufen. Dann kann ich mir hier vielleicht eine nettere Wohnung leisten, vielleicht auf dem Land, und endlich mal so was wie eine Ausbildung hinkriegen. Ich hab eigentlich schon noch vorgehabt es irgendwann in meinem Leben mal zu was zu bringen.”
Ich bemitleidete den jungen Mann. Irgendwie war er so nah dran an einem schönen Leben und doch so weit davon entfernt. Mir wurde bewusst, dass Black ganz anders war, als ich ihn mir zuerst vorgestellt hatte, und ich musste mir jede unserer Begegnungen noch mal mit den neuen Hintergedanken durch den Kopf gehen lassen. Wie war ich doch blöd gewesen, als er mir im Beverly gesagt hatte, dass er nur reden wollte. Wie hatte ich mich doch idiotisch verhalten. Aber wie hätte ich auch so was ahnen können.
„Black…”, hörte ich mich irgendwann sagen. „Ich möchte mit dir nach Italien. Lass uns das zusammen machen. Ich habe ein bisschen Geld und wenn ich noch einen Monat viel arbeite, krieg ich das zusammen. Ich will hier auch raus. Ich hasse diesen Job. Ich hasse diese Stadt und ich hasse diese Leute.”
Black sah mich überrascht an.
„Ich will nicht, dass du das Geld für mich verdienst…”
„Ich mache es für uns. Weil ich es will. Ich mache diesen Dreck seit zwei Jahren, einen Monat halte ich das noch aus. Bitte. Du hast gesagt, ich soll wieder träumen. Das tue ich nun. Bitte, Black. Bitte.”
Irgendwie kam ich mir idiotisch dabei vor, einem mir doch noch relativ fremden Mann eine gemeinsame Zukunft aufzuzwängen, aber ich konnte in diesem Moment einfach nicht anders. Ich sah einen Silberstreif am Horizont, die Rettung all meiner ausweglosen Gedanken.
„Wir müssen ja nicht… zusammen sein, meine ich. Nimm mich nur mit nach Italien. Hier raus. Bitte.”
„Okay”, sagte Black plötzlich, nahm mir die Teetasse aus der Hand und stellte sie auf den Boden. „Einen Monat noch. Aber… ich will mit dir zusammen sein. Auch das.”
Er beugte sich über mich und küsste mich und auf einmal wurde mir warm ums Herz und ich fühlte mich wie in einer anderen Welt.
Black öffnete die Knöpfe meiner Jacke, zog mich langsam aus und glitt mit seinen starken aber doch so weichen, angenehmen Händen über meine Haut. Ich zitterte, teils vor Kälte, teils vor Erregung.
„Sag einfach stopp”, flüsterte er, während er meine Haut küsste, aber ich dachte nicht im Traum daran.
Noch lange nach dieser Nacht versuchte ich, in Gedanken immer wieder aufleben zu lassen, wie er mich berührte, wie er lächelte und wie mein Magen kribbelte. Frauen aus meinem Berufsstand haben wohl die meiste Sexerfahrung überhaupt. Trotzdem kam es mir vor, wie mein erstes Mal, als ich mit Black schlief. Irgendwie war es das ja auch. Es war das erste Mal, dass es um mich ging, dass ich es genoss, dass ich es liebte. Niemals zuvor hatte ich solche Gefühle gehabt, niemals zuvor hatte ich mir solche Gefühle auch nur ansatzweise vorstellen können. Überraschenderweise dachte ich keine Sekunde lang an meinen Job, es gab einfach nur ihn und mich und seine Haut auf meiner.
-
Als ich nachts aufwachte, brauchte ich eine Sekunde, ehe ich mich daran erinnerte, wo ich war. Black lag neben mir und atmete tief und ruhig und ich kuschelte mich an ihn. Ein Traum war in Erfüllung gegangen, ich hatte einen richtigen Mann. Und bald würde mein Leben endlich abheben und ich würde nicht länger eine Großstadthure sein.
Von Geschirrklirren wurde ich wach. Es war bereits ziemlich hell in der kleinen Wohnung und ich spähte durch meine halb geöffneten Augen zu Black, der in der Kochnische mit ein paar Tellern rumhantierte. Er merkte nicht, dass ich aufgewacht war und so verhielt ich mich ruhig, um ihn noch ein bisschen beobachten zu können.
Black trug nur eine Jeans, die zu meinem großen Erstaunen dieses Mal blau war und mein Blick fiel immer wieder auf seinen muskulösen Oberkörper. Selten zuvor hatte ich einen Mann so attraktiv gefunden. Er hatte es mir wirklich angetan.
Nach ein paar Minuten richtete ich mich auf und streckte mich. In der Wohnung war es mittlerweile angenehm warm und ich vergas, in was für einer schrecklichen Wohngegend ich mich befand.
Stan lag auf dem Fußboden und schien mich kritisch anzustarren. Auch wenn ich mich mittlerweile an ihn gewöhnt hatte, kam ich mir noch immer ein bisschen unwohl vor, wenn er so unangebunden und somit ohne Blacks Kontrolle in meiner Nähe war. Wenigstens einen Maulkorb hätte er ihm doch umschnallen können…
„Stan weiß nicht mal, was beißen ist”, hörte ich Black plötzlich sagen und ich zuckte zusammen. Wie hatte er schon wieder meine Gedanken lesen können? Oder hatte ich Stan dermaßen ängstlich angeschaut?
„Guten Morgen Lia”, fügte Black dann hinzu, kam zu mir und setzte sich zu mir aufs Bett.
„Ist alles in Ordnung?”
„In Ordnung? Alles ist bestens.” In Wirklichkeit fühlte ich mich gigantisch und ich hatte nicht vor, dieses Bett jemals wieder zu verlassen. Ich überlegte, ob ich mich wieder zurück auf das Bett legen sollte, inder Hoffnung, dass Black sich zu mich legen würde, aber dann blieb ich einfach auf der Bettkante sitzen.
„Black”, sagte ich schließlich, „Ich möchte so gerne deinen richtigen Namen wissen. Den, den deine Eltern dir als Baby gegeben haben.” Ich sah ihn gespannt an und hoffte sehr auf eine vernünftige Antwort.
Black wartete einen Moment und holte dann tief Luft.
„Sie haben mich so genannt. Black. Schwarz. Übersetz es in alle möglichen Sprachen, welche dir am besten gefällt. Das ist eben mein Name.”
„Ach man, komm schon, ich weiß genau, dass man sein Kind nicht Black nennen kann”, bohrte ich weiter, aber der junge Mann ignorierte mich.
„Wie würdest du denn dein Kind nennen?”, fragte er mich stattdessen.
„Ich? Öhm keine Ahnung, da hab ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht.”
Ich wunderte mich, wie er jetzt auf so eine komische Frage kam, aber wahrscheinlich war es einfach nur ein Versuch, vom Thema abzulenken. Ich gab mich ein bisschen eingeschnappt geschlagen und akzeptierte, dass er mir seinen Namen nicht verraten wollte.
„Mein Kind würde Lucie heißen”, sagte er und zog mich wieder aufs Bett.
„Wieso ausgerechnet Lucie?”
„Weiß ich nicht.”
„Und wenn es ein Junge wäre?”
„Auch Lucie.” Er grinste. „Lucio. Keine Ahnung. Es wird kein Junge.”
Black und ich vertieften uns in ein richtiges Gespräch über Kinder und Zukunft und ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit verflog. Wie lange hatte ich nicht mehr richtig mit jemandem geredet? Natürlich tratschte ich viel mit den Mädchen, aber meistens blieb es doch beim Smalltalk, und so richtig in meine Seele blicken ließ ich sowieso niemanden.
Als ich das erste Mal an diesem Tag auf die Uhr schaute, war es bereits fünf Uhr nachmittags. Black und ich lagen mittlerweile wieder nackt nebeneinander im Bett, aber irgendetwas hatte mich dazu veranlasst, ihm zu sagen, dass ich erst wieder mit ihm schlafen wollte, wenn ich meinen Job aufgegeben hatte. So richtig verstand ich diese Idee selber nicht, aber ich nahm es einfach so hin und auch Black akzeptierte es.
„Ich muss nach Hause”, sagte ich und bereute es auch schon wieder. Viel lieber würde ich doch noch tagelang mit Black im Bett liegen bleiben und über unsere neue Zukunft philosophieren. Doch andererseits hatte ich auch den ganzen Tag lang noch nichts Richtiges gegessen und wollte auch alleine sein, um alles neu Erlebte in Ruhe sacken zu lassen und meine Gedanken ordnen zu können.