Gang 7 – Schokoladenbrunnen mit Früchten und Absacker an der Bar – Teil 2
Gang 7 – Schokoladenbrunnen mit verschiedenen Früchten und Absacker an der Bar – Teil 2
Der Schokoladenbrunnen war schon längst fertig installiert. Niemand hatte Anstalten gemacht, zu den gewohnten Salonspielen überzugehen. Smilla wusste nicht, warum sie der exakt gleiche Ablauf dermassen kümmerte. Im Grunde war sie ja froh, wenn sie ausfielen. Aber es war ein weiteres Zeichen dafür, dass hier etwas gehörig schieflief …
Eigentlich wäre es nun an Gustaf gelegen, die Gäste zu instruieren, sie aufzufordern, die Tafel zu verlassen und sich um den Brunnen zu versammeln. Er hätte dafür sorgen sollen, dass jeder eine Gabel erhielt und dass jeder, sogar Nils, begriff, wie das mit den Früchten und der Schokolade funktionierte. Es wäre seine Pflicht gewesen, die Gäste zu einem Drink einzuladen.
So war Smilla es von ihm und den Gesellschaften bei ihnen zu Hause gewohnt.
Doch Gustaf tat nichts dergleichen. Er starrte vor sich hin, peinlich darum bemüht, Ingeborg nicht anzusehen, die ihrerseits aber dauernd in seine Richtung sah.
Offenbar wartete sie unruhig darauf, dass der Abend weiterging, wieder seinen normalen Lauf nahm, bevor er endlich, endlich zu Ende war, die Leute gingen und sie alle zu Bett gehen konnten.
Smilla frage sich, in welchem Bett ihre Eltern heute Nacht schlafen würden.
Schliesslich fasste Ingeborg einen Entschluss. So was war ihr immer genau anzusehen – das Ringen mit sich, ob sie gegen die Etikette verstossen sollte, dann die Entscheidung, das kleinste Übel zu wählen, und wenn dieses darin bestand, dass sie an ihres Gatten statt das Wort ergriff.
«Liebe Gäste», begann sie. «Wir wollen nun diesen» – sie hüstelte und Smilla hätte schwören können, dass sie ursprünglich «diesen schönen Abend» hatte sagen wollen – «diesen Abend gelungen zu Ende bringen mit unserem berühmten Schokoladenbrunnen.»
Keineswegs war es der Fall, dass die Gesellschaften bei Gyldenløves für ihren Schokoladenbrunnen berühmt waren, und normalerweise neigte Ingeborg nicht zu Übertreibungen – sie beliess es bei Andeutungen, damit die Leute selber ihre Fantasie spielen lassen und ihnen noch viel grossartigere Dinge andichten konnten. Aber ihr Feingefühl im Kampf um Ansehen und Macht hatte sie irgendwo zwischen dem sechsten Gang und Evas Eröffnung verloren. Nun versuchte sie nur noch mit aller Kraft, den Abend zu retten, so verzweifelt, dass sie beinahe ihre letzte Würde verspielt hätte, wäre jemand noch in der Lage gewesen, auf derlei Untertöne zu achten.
«Bitte folgt mir», fuhr sie fort und stand auf.
Leo, Nils und Taro taten es ihr nach, alle drei ein wenig wackelig auf den Beinen. Smilla tauschte einen ratlosen Blick mit ihrer Schwester. Keine von ihnen hatte Lust auf schokoladenüberzogenes Obst. Keine wollte Ingeborg Gehorsam leisten, aber wie hätte das gewirkt?
«Kommt schon», flüsterte Lex endlich. Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte. «Spielen wir mit, bringen wir das zu Ende.»
Sie war froh darüber, dass ihr jemand die Entscheidung abnahm, und liess sich auf die Füsse ziehen. Astrid schloss sich ihnen an, und nach und nach versammelte sich die ganze Tafel um den Brunnen, sogar Gustaf, der anscheinend ebenfalls gute Miene zum bösen Spiel machen wollte.
«Bedient euch auch gerne an der Bar», sagte Ingeborg überflüssigerweise, denn Taro hatte ebendies bereits getan und riss Remo, der heute den Dienst als Barkeeper übernehmen musste, den Drink förmlich aus der Hand.
«Heute Nacht wird er wahrscheinlich heiss begehrt sein», dachte Smilla. Es gab kaum einen Job, bei dem man als Dienstbote leichter an Informationen kam. Immerhin hatte er nun die Gelegenheit, aus nächster Nähe alle Gespräche zu belauschen.
Nicht dass es im Moment viel zu belauschen gegeben hätte. Nach Ingeborgs kläglicher Ansprache herrschte eisernes Schweigen. Die drei Betrunkenen stopften sich mit Schokolade und Früchten voll, doch die anderen standen nur unschlüssig herum. Smillas Magen fühlte sich an wie zugeschnürt und auch Lex’ Gesicht hatte eine ungesunde, grünliche Farbe angenommen. Sein unersättlicher Appetit schien ihm endlich vergangen zu sein.
Ingeborg presste die Lippen zu einem millimeterdünnen Stich zusammen. Smilla konnte sich vorstellen, dass ihr ihr eigener Auftritt peinlich war, aber es gab keine Möglichkeit mehr, ihn wiedergutzumachen.
«Irgendjemand muss etwas sagen», dachte sie. «Dann kann einer mitten im Gespräch plötzlich darauf kommen, dass er ‹leider› nach Hause müsse, obwohl er ‹so gerne› noch länger bliebe. Und wenn einer mal geht, können sich die anderen anschliessen. Aber solange niemand etwas sagt, traut sich keiner, vom Heimgehen anzufangen.» Doch ihr wollte beim besten Willen kein Gesprächsthema einfallen. Sie sah zu Lex. Er als Gast könnte derjenige sein, der zuerst ging. Nicht, dass sie ihn nach Hause schicken wollte, im Gegenteil, doch er würde verstehen, dass er die Kettenreaktion anstossen musste. Wenn sie nur etwas hätte, eine kleine Anekdote, ein wenig höfliche Konversation. Dann könnte er elegant auf seinen Wunsch, nach Hause zu gehen, zu sprechen kommen. So was beherrschte er so gut wie kein anderer.
Während sie noch fieberhaft überlegte, brach jemand das Schweigen.
Es war Gustaf.
Im ersten Augenblick war Smilla überrascht, denn sie hätte nicht geglaubt, dass er sich noch darum bemühen würde, die Formalitäten zu wahren. Doch dann bemerkte sie, dass er kein Tischgespräch anbrechen wollte, keine leichte Unterhaltung. Er sprach nur zu ihr.
«Dann hat er also nur die Familie retten wollen», sagte er und klang dabei so kläglich, dass Smilla ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, aber sie traute sich nicht. «Er ist eingebrochen, damit niemand diese Fotos sieht. Er hat nur an die Familie gedacht.»
Sie verzog ihre Lippen, hob die Mundwinkel an, hoffte, dass es wie ein Lächeln aussah, obwohl ihr nichts ferner lag.
«Ich verstehe einfach nicht, warum er dann … dann … Weisst du es?»
Smilla erschrak ob dieser Frage. Sie konnte es ihm unmöglich sagen, oder? Obwohl er es verdient hätte. Er als Vater müsste erfahren, warum sich sein Sohn das Leben genommen hatte. Doch auch wenn sie noch von mehr Erpressungen wusste, sie konnte nicht abschätzen, inwiefern sie zu Lasses Todeswunsch beigetragen hatten. Lex fühlte sich schuldig, natürlich, aber das hiess gar nichts.
Zu ihrer Erleichterung schien Gustaf jedoch gar keine Antwort zu erwarten.
«Hat er sich so unter Druck gesetzt gefühlt? Wegen Evas Erpressungen? Aber nachdem er die Fotos an sich genommen hat, musste er doch nichts mehr befürchten. Vielleicht war er sich nicht sicher, ob sie sie nicht doch noch anderswo gesichert hat. Vielleicht hat ihm das Angst gemacht. Vielleicht … Manchmal kann man sich ganz schön in etwas reinsteigern.»
Er hatte mit monotoner Stimme vor sich hingeredet, und Smilla war sich unsicher, ob er Selbstgespräche führte oder tatsächlich mit ihr darüber reden wollte. Hatte er auch ein wenig zu viel getrunken? Oder war er nur so sehr davon mitgenommen, dass seine Ehe kaputt war? Seine Familie war zerfallen. Seine Frau war untreu. Die Wunden, die der Tod seines einzigen Sohnes hinterlassen hatte, waren frisch aufgerissen worden.
«Erpressung ist was Schlimmes. Eva ist so eine ruchlose Frau. Aber ich kann nicht glauben, dass das für ihn ausreichte … Er war doch so stark. Furchtlos. Wie kann das sein?»
«Es war nicht nur wegen Eva», rutschte es Smilla heraus und presste sich sofort erschrocken die Hände auf den Mund, als könnte sie so die Worte zurückhalten, doch sie waren schon entwichen.
Auf einmal wirkte Gustaf wieder ganz bei Sinnen. «Es war nicht nur wegen Eva?», fragte er. «Weswegen dann noch?»
Smilla brachte kein Wort mehr hervor.
«Sag es mir! Weswegen war es? Du weisst es doch! Warum erfahre ich nichts davon? Habe ich nicht das Recht dazu?»
«Do-doch», stammelte sie.
«Also?»
«L-Lex», sagte sie schliesslich. «Lex hat ihn ebenfalls erpresst. Er wusste vom Einbruch.» Die letzten beiden Sätze flüsterte sie nur. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Lex zusammensackte. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass er die ganze Zeit neben ihr gestanden hatte. Sie hatte ihn völlig vergessen. Das schlechte Gewissen packte sie. Natürlich, Gustaf hatte die Wahrheit erfahren müssen, früher oder später. Doch sie hätte Lex die Chance lassen sollen, es ihm selbst zu sagen. Zu einem anderen Zeitpunkt, zu einem besser geeigneten Zeitpunkt. Es erschien ihr, als ob jeder Zeitpunkt besser gewesen wäre als der von ihr gewählte.
Aus Lex’ Augen sprach die pure Panik. «Es ist schon okay», wollte sie sagen, «wir werden in Ruhe darüber reden, aber nicht heute, sondern wenn wir ausgeruht und nicht mit dem Nerven am Ende sind.» Aber es kam wieder kein Laut aus ihrer Kehle.
Als sie sich umdrehte, sah sie geradewegs zu ihrem Vater.
Da bekam sie es ebenfalls mit der Angst zu tun.
Noch nie hatte sie einen solchen Hass in Gustafs Miene gesehen.
Überhaupt noch nie auf einem menschlichen Antlitz. Sein Gesicht war starr und kalkweiss wie ein Stein, doch aus seinen Augen brannte Abscheu. Abscheu und glühender Zorn wie ein giftiges Feuer.
«Pappa!», rief sie, brachte aber nur ein Krächzen zu Stande. Gustaf hatte Lex immer gemocht. Er hatte sich am meisten darüber gefreut, als er und Smilla ein Paar geworden waren, hatte seinen «Schwiegersohn in spe», wie er ihn immer scherzhaft genannt hatte, unermüdlich eingeladen, war ihm mit Rat und Tat zur Seite gestanden, hatte niemals ein schlechtes Wort über ihn verlauten lassen, selbst zu Lex’ schlimmsten Zeiten nicht. Er war Smilla böse gewesen, als sie ihn hatte fallenlassen. Es war zum Familienstreit gekommen; Ingeborg hielt zu Smilla, doch Gustaf beharrte darauf, dass Lex eine solche Behandlung nicht verdient hatte.
Gustaf hatte Lex wie einen zweiten Sohn geliebt und hatte nur darauf gewartet, ihn in die Familie aufzunehmen. Er hätte sich darüber gefreut, wenn Smilla und Lex wieder gemeinsam neu begonnen hätten.
Doch davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Nur Hass. Doch kaum ersichtlich flackerte der Schmerz unter all diesem Hass hervor, der Schmerz darüber, dass Lasse nicht mehr unter ihnen weilte und sich niemand erklären konnte, warum er sich gegen das Leben entschieden hatte.
Danach geschah alles in Zeitlupe. Oder kam es Smilla nur so vor? Alle physikalischen Gesetze schienen ausser Kraft gesetzt. Gustaf machte einen Schritt auf Lex zu. Noch einen. Dabei stand ihm Smilla im Weg, doch er stiess sie ungeachtet zur Seite, so grob, dass sie beinahe auf dem Hintern gelandet wäre.
Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen.
Noch ein Schritt. Lex wich zurück, aber er bewegte sich noch viel langsamer als Gustaf, als wäre er gelähmt. Als er gegen den Flügel stiess, konnte er nicht mehr ausweichen.
Noch ein Schritt und Gustaf war bei Lex. Dann, noch viel schleppender als jede Bewegung zuvor, hob Gustaf seine Hände. Er hob sie höher und höher, bis sie Lex’ Hals hätten umschliessen können.
Es dauerte einen Moment, ehe Smilla realisierte, dass er genau das tat. Er hielt den Hals seines ehemaligen Wunschschwiegersohns mit beiden Händen umklammert. Er drückte. Er drückte mit aller Kraft. Die Angst in Lex’ Gesicht wich blankem Entsetzen.
Smilla schrie. Sie schrie so laut, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte, noch nicht einmal, als sie Lasse tot aufgefunden hatte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Leben in die übrigen Anwesenden kam. Taro und Nils rannten zu Gustaf, doch sie waren beide betrunken, stolperten über ihre eigenen Beine. Leo brauchte ein wenig länger, bis er reagierte, doch er war schwach, er hatte keine Kraft in den Armen, konnte gegen Gustaf nichts ausrichten. Schliesslich drängten sich alle um die beiden Kämpfenden, Smilla wusste nicht, wie es geschehen war, alle, einschliesslich sie selber, versuchten, Gustaf von Lex wegzuzerren, doch das Familienoberhaupt der Gyldenløves war zu stark, zu stark und zu wütend. Er hatte einen Sündenbock gefunden. Egal, ob Lex tatsächlich Lasses Tod ausgelöst hatte, heute war er dafür verantwortlich, nur er und nicht Eva oder sonst irgendjemand. Er stand für alle Enttäuschungen, die Gustaf an diesem Abend erlebt hatte.
Mittlerweile schienen Lex’ Augen aus dem Kopf zu quellen. Er röchelte, schnappte nach Luft, doch es gab keine Möglichkeit mehr für ihn, zu Atem zu kommen.
Und dann war es vorbei.
Lex wehrte sich nicht mehr. Er sackte in sich zusammen.
Gustaf liess ihn fallen, schien plötzlich über sich selber erschrocken. Er sah zu Lex hinunter, der unnatürlich auf dem Boden aufgekommen war und aussah wie eine steife Puppe. Er hob ihn an, legte ihn auf den Rücken, als könnte er damit etwas wiedergutmachen.
«Das habe ich nicht getan», sagte er mit ruhiger Stimme.
Niemand antwortete.
Dann, endlich, rührte sich Taro. Wenigstens er besass noch ein wenig Geistesgegenwärtigkeit. Er holte ein Handy aus der Innentasche seines Jacketts und tippte eine Nummer. Er hatte Mühe, die Tasten zu treffen, brauchte mehrere Versuche, und als er endlich zum Sprechen kam, lallte er und konnte kaum sein Anliegen ausdrücken. Er rief einen Krankenwagen.
Smilla starrte zum Flügel. Das durfte nicht sein. Links Lasse. Rechts Lex.
Aber Lex war nicht tot. Er konnte nicht tot sein, durfte nicht. Aber sie wagte nicht, zu ihm zu sehen, aus Angst, keine Bewegung zu sehen, kein Augenzwinkern, kein Heben und Senken des Brustkorbs.
Jemand müsste erste Hilfe leisten, irgendjemand, aber alle waren wie zur Salzsäule erstarrt.
Es dauerte ewig, bis die Ambulanz eintraf. Ewig. Es war ein wenig wie damals, vor zwei Jahren, bei Lasse. Da hatte sie auch unendlich lange warten müssen, ohne sich rühren zu können. Ohne zum verunglückten Körper zu blicken, ohne zu wissen, ob noch Leben darin war oder nicht.
Als der Notarzt eintraf, bekam sie nur am Rande mit, wie er sich zu Lex kniete und ihn untersuchte.
Das Erste, was sie wieder klar und deutlich vernahm, war, wie er den Kopf schüttelte.