Kapitel 52 – Vergangen, aber nicht vergessen
Kapitel 52 – Vergangen, aber nicht vergessen
Julia traute ihren Ohren kaum, ihre Mutter rief an, und endlich – sie würde kommen!
Joseph lenkte sich von seinen düsteren Gedanken ab, indem er am Besuchstag eine wundervolle flambierte Eisbombe zubereitete. Er warf Naike einen üblen Blick zu, der in Worten nicht zu beschreiben war, als sie in die Küche kam.
"Joe, lass uns heute bemühen, das Wiedersehen für Julia so schön wie möglich zu gestalten und unseren Privatkram mal außen vor lassen, ja? Ich bitte dich darum!", forderte sie ihn inständig auf. Er nickte stumm.
Und dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis Desdemona eintraf. Julia hatte bereits auf der Treppe gesessen und sehnsüchtig nach ihrer Mutter Ausschau gehalten. Als sie sie dann erblickte, rannte sie wie der geölte Blitz auf sie zu. "Mama!"
Die beiden begrüßten sich mit großer Zärtlichkeit. Julia war erstaunt, wie schlank ihre Mutter aussah. Nur die Liebe konnte sie so verändert haben, denn Desdemona hatte in den USA einen wohlhabenden Mann kennen gelernt, einen Argentinier namens Alvarez, und ihn vor kurzem geheiratet.
Aber noch erstaunter war sie über den blutjungen Mann, der ihre Mutter begleitete. "Darf ich dir vorstellen, Schatz – das ist Ramon Alvarez, der Sohn deines neuen Stiefvaters. Er ist also jetzt quasi dein Bruder!" Ramon lächelte Julia an und schüttelte ihr höflich die Hand. Julia wusste gar nicht, was sie sagen sollte und war ganz perplex – welch eine Überraschung!
Während sie den hübschen Jungen anstaunte, wurde es 19 Uhr und wieder einmal schlagartig dunkel, was keinen Sim, außer Naike, je zu stören schien. Aber auch sie heute nicht, denn sie und Joe waren ebenfalls völlig überrascht von Desdemonas äußerer Wandlung. "Mein Gott, Desdi, du siehst einfach toll aus! Ich erinnere mich noch genau an unser letztes Treffen, weißt du es auch noch? Meinen herzlichsten Glückwunsch nachträglich zu deiner Vermählung!"
"Danke!! Oh ja, erinnere mich bloß nicht daran, ich war ziemlich aus dem Ruder. Danke, dass du mir damals Mut gemacht hast, Adam anzuzeigen. So ist der Knoten geplatzt und ich konnte mich wieder freuen. Und ganz herzlichen Dank auch für die Betreuung von Julia, sie hat sie ja wunderbar gemacht Das werde ich euch beiden nie vergessen!", strahlte Desdemona. Naike schluckte. Bloß schnell weg mit der Erinnerung an Adams Gefängnisaufenthalt, auch wenn er zweifellos seinen Zweck erfüllt hatte.
"Ja, Julia hat sich wirklich toll entwickelt. Aber wen hast du denn da mitgebracht?"
"Ramon, komm doch mal her!", rief seine Stiefmutter. "Hi, Mrs. Tallis, ich bin Ramon Alvarez", zwinkerte er Naike leicht schüchtern zu und gab ihr zur Begrüßung die Hand. Er hatte eine merkwürdige Aussprache, Amerikanisch mit spanischem Akzent. Naike lächelte verwundert und runzelte die Stirn. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, was hatte sich Real-Naike denn da bloß wieder einfallen lassen? Würde sie demnächst auch noch Brad Pitt installieren?
"Was haben Sie gesagt?"
"Öh ... nichts, ich begrüß' dich ganz herzlich, willkommen bei uns!", sagte sie und räusperte sich. "Ich heiße aber nicht Tallis, sondern Le Normand, kannst aber ruhig Naike zu mir sagen."
Als Hausbewohner und Gäste am Tisch saßen und die Eistorte genossen, traf sie beinahe allesamt der Schlag, als plötzlich Nicolas im knatschroten Adamskostüm in die Küche kam und sich ebenfalls mit einem Teller der Leckerei beglückte.
Desdemona und Ramon starrten leicht verstört auf ihre Teller und taten, als ob sie nichts bemerkt hätten. Naike brach der Schweiß aus. Schließlich nahm Jess sich ein Herz und verscheuchte den Nacktflitzer aus dem Wohnraum, nicht ohne ihm gleich mehrere Packungen Quark für seine geschundene Haut mitzugeben.
"Julia, du brauchst ihn nicht zu verteidigen. Er ist, wie er nun mal ist, das habe ich inzwischen kapiert. Und, ehrlich gesagt, bringt er mich inzwischen täglich zum Lachen." Das tat Jessica dann auch und der Rest der Gruppe stimmte schmunzelnd ein, als sie sie über die Umstände aufgeklärt hatte, warum sich dieser Mann in ihrem Haus befand.
Dann machten sie es sich am kuschelig warmem Kamin gemütlich.
Desdemona war über Jess' Schilderung deutlich beunruhigt. Ausgerechnet ein Vergewaltiger war hier auf der Insel unterwegs! Sie wusste nur zu gut, was es bedeutete, so etwas erleben zu müssen, obwohl Adam damals kein Unbekannter für sie gewesen war. Irgendetwas ihn ihr gab ihr zu verstehen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war, um Julia zu erzählen, unter welchen Umständen sie entstanden war. "Julchen, ich möchte dir etwas erzählen, wenn du willst. Es ist an der Zeit, dass du etwas über deinen Vater erfährst, was wir dir bisher verschwiegen haben." Naike wurde blass.
Joseph griff sofort ein. "Komm, Nai, lassen wir die beiden mal allein." Sie atmete tief ein, stand auf und ging ohne Umschweife mit ihm vor die Tür. Dort setzten sich die beiden schweigend auf die Treppenstufen am Eingang, und in Naike machte sich die Eisbombe deutlich wieder auf den Weg zurück nach oben, besonders als Joseph den Arm um sie legte, was eigentlich als tröstende Geste gemeint war. Aber sie empfand es als Hölle auf Erden. Eigentlich war nun auch für sie eine günstige Gelegenheit zur Aussprache gekommen, bei der sie ihrer Beziehung zu Adams Bruder endlich ein Ende hätte setzen können und sollen. Aber sie fühlte sich derart schwach, dass sie kein Wort hervorbrachte und nur stocksteif abwartete, bis Desdemona und Julia ihr Mutter-Tochter-Gespräch beendet hatten.
Desdemona stieg also derweil mit Julia hinauf auf den kleinen Heuboden und redete nicht lange um den heißen Brei herum. "Kind, ich möchte dir eigentlich deine positiven Erinnerungen an deinen Vater nicht zerstören, aber ich bin der Meinung, dass jeder Mensch seine Biografie komplett kennen sollte, um zu verstehen, warum sich Familienmitglieder und andere Menschen in der Umgebung oft so und nicht anders verhalten. Sicher hast du dich schon öfter gefragt, warum wir vor deines Vaters Tod nicht als Familie zusammengelebt haben?" Julia nickte und fühlte sich sehr unwohl in ihrer Haut, denn ihre Mutter betrachtete sie mit sehr ernster Miene.
"Ich hatte im Jahr vor deiner Geburt mit meinem Freund, meiner Schwester und deren Mann in einem Haus zusammengewohnt. Eines Tages kühlte unsere Liebe ab, wir stritten uns nur noch und hatten keinen rechten Zugang mehr zueinander."
"Ich wurde zunehmend trauriger und deshalb beschloss meine Schwester, mir einen Gefallen zu tun und verabredete mich mit einem ihrer Bekannten, der für seinen Charme und seine Wirkung auf Frauen bekannt war, um mir einen schönen Abend zu verschaffen. Ich fand die Idee doof, offenbar sah sie mich als Mauerblümchen, das dringend einen Flirt brauchte, um wieder mehr Selbstbewusstsein zu gewinnen und auf andere Gedanken zu kommen."
"Ich willigte aber vor lauter Frust und Langeweile ein und – zugegebenermaßen auch – um meinem Freund eifersüchtig zu machen. Also traf ich mich mit diesem Mann, also deinem Vater Adam, in einem Restaurant. Der Abend war wirklich schön, Charme konnte man das schon nicht mehr nennen, er hatte ein derart einnehmendes Wesen, dass ich unser Treffen wirklich in vollen Zügen genoss."
"Nach dem Essen gingen wir noch ein bisschen im Park neben dem Restaurant spazieren und Adam führte mich an eine abgelegene Stelle, wo er mich zu küssen begann. Zuerst fand ich es wunderbar, so sehr hatte sich lange niemand mehr um mich bemüht. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, obwohl er deutlich angeheitert war und jede Menge Mist erzählte, den ich eigentlich nicht hätte Ernst nehmen sollen, von wegen Liebe, usw."
"Doch dann wurde er immer wilder und ... na ja, vielleicht kannst du es dir vorstellen. Ich weiß nicht, ob du bereits einen Freund hattest?" Julia schüttelte den Kopf.
"Egal … ich bat ihn jedenfalls, mich nach Hause zu bringen, aber er ging nicht darauf ein, sondern ließ mich nicht mehr los. Ich war mich nicht sicher, ob er überhaupt wusste, was er tat, denn er hatte, wie gesagt, über den Abend verteilt größere Mengen Alkohol getrunken."
"Aber Papa verträgt doch keinen Alkohol", bemerkte Julia.
"Eben. Und deshalb lief die die Situationen unter anderem wohl auch aus dem Ruder. Aber abgesehen davon, war er auch ein Mann, der sich offenbar immer nahm, was er gerade wollte. Und das tat er dann schließlich. Am Anfang wehrte ich mich noch, aber als er mich dann schlug, gab ich mich auf."
Julia stockte der Atem. Verständnislos blickte sie ihre Mutter an. Das konnte sie sich doch nur ausgedacht haben!
Desdemona erriet die Gedanken ihrer Tochter. "Nein Julia, es ist wirklich so gewesen."
"Aber zu mir war er doch immer so lieb! Kein einziges Mal hat er mich auch nur angeschrien, nicht mal geschimpft, wenn ich etwas ausgefressen hatte!"
"Das war wohl etwas ganz anderes für ihn. Du warst sein Kind, das er zum Glück offenbar geliebt hat. Aber Frauen scheint er lediglich als Objekte gesehen zu haben. Ich habe keine Ahnung, was diesem Mann in seiner Kindheit oder Jugend widerfahren ist, dass er sich zu einer Art Monster entwickelt hat. – Na ja, jedenfalls bin ich im Morgengrauen im Park aufgewacht. Von Adam war weit und breit nichts mehr zu sehen."
"Ich schleppte mich nach Hause und ging in der folgenden Zeit seelisch durch die Hölle, versuchte vergeblich zu vergessen, was geschehen war. Und neun Monate später brachte ich plötzlich dich an einem Abend zuhause auf die Welt. Von der Schwangerschaft hatte ich bis dahin nichts bemerkt. Obwohl, bemerkt schon, aber völlig verdrängt."
Julia fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
"Es tut mir so leid, meine Süße. Aber Menschenleben verlaufen nun mal nicht immer in Friede, Freude und Eierkuchen. Ich wünschte, ich hätte dir einen anderen Vater ermöglichen können."
"Hast du ihm jetzt verziehen?"
"Ja, nach langer Zeit ist es mir gelungen, Julia, nachdem er seine Strafe bekommen hatte. Und jetzt ist er nicht mehr am Leben. Ich würde mir nur selbst schaden, wenn ich immer noch einen Hass auf ihn hätte."
"Dann will ich es ebenfalls", sagte Julia leise und drückte ihre Mutter so fest sie konnte.