Kapitel 6
peu à peu
Sie hätte sich selbst am liebsten die Zunge abgebissen, denn er schaute
sie wirklich grimmig an, als er bedrohlich leise fragte: "Und was genau
wäre daran so erheiternd?" Seine Anspannung war ihm deutlich
anzusehen. Larissa suchte besorgt seinen Blick: "Gar nichts. Paul, tut mir
leid. So hatte ich das doch nicht gemeint."
Er atmete hörbar aus und reckte seinen Nacken, um sich ein wenig zu
entspannen. Er wirkte nun genau so müde, wie er tatsächlich auch war:
"Ich weiß. Ach, ich weiß das doch alles. Und es ist meine Schuld, denn
wenn ich Dir früher was erzählt hätte, dann müsstest Du hier nicht im
trüben fischen. Es ist einfach alles meine Schuld."
Larissa zerriss es fast das Herz, ihn so niedergeschlagen zu sehen: "Ein
Mensch alleine kann doch gar nicht Schuld sein, Paul. Nicht an Allem. Was
ist denn geschehen?" Sie versuchte, ihn so aufmunternd wie möglich
anzuschauen, doch bevor er nun antworten konnte, öffnete sich langsam
die Tür von Bens Zimmer und der Junge streckte vorsichtig seinen Kopf
heraus:
"Mom?" Paul fuhr es durch Mark und Bein, als er sah, wie ängstlich sich sein
Neffe bewegte, als Larissa ihn zu sich bat. Ben mied Pauls Blick: "Ähm ...
hat Dad schon angerufen? Heute ist doch Freitag und meine Hausaufgaben
habe ich auch schon gemacht." Larissa entwich ein kleines "oh", denn sie
hatte in der Aufregung völlig vergessen, welcher Wochentag es war:
"Nein, Schatz. Hat er noch nicht. Aber weißt Du was? Wir holen das eben
selber schnell nach." Sie lenkte ihren Jungen also ins Wohnzimmer und
Paul blieb allein sitzen. In seinem Inneren überschlugen sich die
Gedanken und Gefühle, denn diese kleine Begegnung hatte ihn schwer
getroffen.
Er hörte von nebenan, dass Jack, Bens Vater, wohl schon auf dem Weg war
und weiter, dass Ben dann im Garten auf ihn warten wollte. Ohne zu
wissen, was er tun wollte oder konnte, stand er auf. Er traf auf Larissa und
warf ihr einen fragenden Blick mit einer Geste zur Tür zu. Sie erfasste die
Situation natürlich und sagte: "Natürlich. Geh´ ruhig zu ihm. Ich werde
Jack ein wenig aufhalten."
Fast wollte er vor der Tür schon wieder umdrehen, doch stattdessen
atmete er tief ein und trat entschlossen heraus. Er ging zu Ben herüber,
der ganz in sein Spiel vertieft war. Um ihn nicht zu erschrecken, räusperte
Paul sich leise: "Na? Funktioniert´s wieder?"
Ben drehte sich lächelnd nickend zu ihm um, doch dann wurde er sich
seines Gegenübers wieder ganz bewusst und versteifte sich: "Ja." Paul
spürte den Kloß in seinem Hals deutlich anschwellen, als er sah, wie
angespannt der Junge ihn anschaute.
Also gab er sich die größte Mühe, seiner Stimme einen ruhigen Ton zu
geben: "Meinst Du, wir können mal kurz reden?" Er kam sich schon beim
Sprechen völlig lächerlich vor und der zweifelnd fragende Blick seines
Neffen verstärkte diesen Eindruck immens. Ben nickte mechanisch und
setzte sich zu Paul.
Während Paul noch immer nach den richtigen Worten suchte, schien Ben
die seinen gefunden zu haben: "Bist Du noch böse auf mich?" Es dauerte
zwei Sekunden, bis der Sinn dieser Frage Pauls Hirnwindungen durchquert
hatte, doch dann traf er ihn wie ein Schlag. Paul berührte sanft die
Schulter des Jungen und suchte seinen Blick:
"Ich war doch nicht böse auf Dich, Ben. Weswegen sollte ich denn auch?"
Nun sah Ben wirklich sehr verwirrt aus: "Ich dachte ... na, weil ich an
Deinem Auto dran war. Und ich ... ich weiß doch ... ddda" Paul beendete
dieses Gestotter sanft: "Ben. Ben, ist ja gut. Ich bin nicht böse und ich war
es auch nicht. Und ich will jetzt auch gar nicht mit Dir drüber reden, was
Du an der Karre gemacht hattest." Ben schaute auf: "Nicht?"
Paul wartete, bis Ben sich wirklich wieder ganz beruhigt hatte und sprach
dann ernst und ruhig weiter: "Nein. Ich will doch jetzt nicht mit Dir
schimpfen, Ben. Ich will mich bei Dir entschuldigen und Dir sagen, wie
Leid es mir tut, dass ich Dich vorhin so angeschrieen habe." Ben schien mit
vielem gerechnet zu haben, aber nicht damit. Sein Mund stand ihm offen
und er fragte ungläubig: "Echt?"
Ein Teil von Paul hätte bei dem Anblick gerne losgelacht, doch sein Lächeln
war traurig: "Ja. Hör´ mal ... Das da vorhin hatte nichts mit Dir zu tun. Und
ich wollte wirklich nicht, dass Du das abkriegst." Ben hatte ihm
aufmerksam zugehört und sortierte gerade sichtlich seine Gedanken:
"Aber wenn Du nicht auf mich böse warst ... auf wen denn dann?"
Paul rieb sich über sein Gesicht und den Nacken: "Auf mich selbst, Ben." Er
ahnte, dass dem Jungen diese Antwort nicht genügen würde und
tatsächlich wollte Ben gerade noch einmal nachhaken, als sein Vater um
die Ecke bog und ihn mit dem gewohnten "Hey Bennyboy!" begrüßte.
Ben strahlte sofort übers ganze Gesicht und umarmte ihn stürmisch. Jack
aber bemerkte, dass er offenbar gerade mitten in etwas hineingeplatzt
war und fragte entschuldigend: "Oh. Störe ich gerade?" Pauls Blick
wanderte von ihm zu Ben und wieder zurück.
Er war weit davon entfernt, dieses Gespräch als beendet zu betrachten,
doch Ben grinste seinen Vater fröhlich an: "Quatsch! Wir sind hier sowieso
fertig." Dann allerdings schaute er zu Paul herüber und fragte: "Sind wir
doch, oder?" Paul wusste genau, wie sehr der Junge sich immer auf seine
Wochenenden mit Jack freute. Er war hin und her gerissen.
Er kniete sich zu Ben herunter und sah ihn eindringlich an: "Ich weiß nicht
... sind wir das?" Ben begriff: "Ja Paul. Ist doch alles in Ordnung. Wirklich."
Er war eigentlich schon fast zu Jack gewandt, doch dann drehte er sich
noch einmal um und umarmte Paul flüsternd: "Hauptsache, Du bist nicht
sauer auf mich." Paul schüttelte lächelnd den Kopf: "Na dann ... schönes
Wochenende, Kurzer."
Er war zwar nicht wirklich zufrieden mit der Situation, wollte Ben aber auch
nicht unnötig drängen. Als Ben sich dann von Larissa verabschiedet hatte,
sah er dem Jungen noch einen Moment lang hinterher. Er war zwar in
Gedanken, bemerkte aber dennoch, dass Larissa sich neben ihn gestellt
hatte: "Er dachte, ich wäre sauer auf ihn wegen dem Auto ..."
Larissa spürte deutlich, dass er eigentlich noch mehr sagen wollte. Doch
Larissa wartete vergeblich. Er schien mit seinen Gedanken weit entfernt
zu sein und sein Blick verfinsterte sich mehr und mehr. Sie wollte seine
trüben Gedanken aber unbedingt aufhalten, denn sie ahnte nichts Gutes
in ihnen: "Ich habe Jack zu spät gesehen und konnte ihn nicht aufhalten.
Konntet ihr es denn trotzdem klären?"
Endlich blinzelte Paul und schien nun auch mit seinen Gedanken wieder an
Ort und Stelle zu sein. Er drehte sich zu seiner Schwester um: "Naja ... so
halbwegs, würd´ ich sagen. Zumindest weiß er, dass ich nicht ihn meinte."
Sein zaghaftes Lächeln war zwar freudlos, schenkte Larissa aber doch
genug Hoffnung: "Na das ist doch die Hauptsache." Sie lächelte ihn ehrlich
aufmunternd an und hoffte, ihm so wenigstens diese eine Last ein wenig
nehmen zu können:
"Das mit euch wird schon wieder. Ich hab´ doch gesehen, dass Ben Dir
noch was zugeflüstert hat. Wenn er noch immer Angst hätte, hätte er das
nicht gemacht." Irgendetwas in seinem Blick alarmierte sie. Er setzte sich
angespannt hin und starrte ärgerlich auf seine Füße: "Das genügt aber
nicht. Er sollte ... ich sollte ihm erklären, was da passiert ist. Aber ... das
kann ich nicht. So sehr ich es will, verdammt, ich kann es nicht!"
Zum ersten Mal erkannte Larissa, dass er tatsächlich gar nicht
verschlossen, stur und schweigsam gewesen war, sondern buchstäblich
wortlos. Beschämt stellte sie fest, dass er ja auch nie jemanden gehabt
hatte, mit dem er sich richtig und ausführlich hatte aussprechen können.
Und so war klar, dass er einfach nicht wusste, wie. Sie ließ sich auf die
Bank sinken: "Und ich dachte, Du willst einfach nicht mit mir reden."
Mehr als ein verächtliches Schnauben war von Paul nicht zu hören, aber
Larissa ließ sich nun nicht mehr beirren: "Na dann komm´ mal mit rein.
Ich schätze, wir brauchen ein bisschen Ruhe ... und die olle Bank ist mir zu
hart." Sie war fest entschlossen und irgendwie schien ihr plötzlicher
Optimismus auch auf Paul zu wirken. Nun, zumindest ließ er sich ohne
Murren von ihr ins Wohnzimmer bugsieren.
Sie setzten sich und Larissa versuchte, ihm die Sache etwas leichter zu
machen: "Also ich denke, es gibt vielleicht Dinge, die mich nichts
angehen, oder so. Du musst mir also nichts erzählen, was Du nicht willst
... ok? Sag´ mir einfach, was Du kannst." Sie hielt dies eigentlich für einen
guten Anfang und war dementsprechend verwirrt, als Paul nun unruhig
aufstand und die Stirn runzelte: "Ähm ... ok, ja."
Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verschwand in der Garage, von
wo aus Larissa nun einiges Gepolter hörte, bevor er mit einem zerknüllten
Papier wieder zurückkam, das er schon im Gehen glättete. Er reichte es
Larissa: "Sie wollte ... sie hat versucht ..." Es schnürte Paul derartig die
Kehle zu, dass ihm die Stimme brach. Larissa rutschte näher an ihn heran
und nahm das Blatt aus seinen zittrigen Händen.
Es war das erste Mal, dass sie einen medizinischen Bericht las und sie
verstand auch nicht alle dort genannten Begriffe. Doch sie verstand genug:
"Ach Du meine Güte." Sie versuchte, diesen ersten Eindruck zu verdrängen
und studierte den Bericht noch einmal genauer: "Aber ... bist Du sicher?
Hier steht, es war ein häuslicher Unfall. Ärzte sind doch gründlich bei
so was ..." Paul sah sie verzweifelt an:
"Sie hatte Diazepam im Blut. Schlafmittel, verstehst Du? Desitin
wahrscheinlich." Larissa war irritiert: "Nimmst Du das auch, Paul?" Er mied
ihren Blick: "Nein. Mensch, so´n Zeugs hätte ich sogar damals nicht
geschmissen!" Larissa war zwar noch nicht ganz zufrieden mit dieser
Antwort, aber sie beließ es dabei und konzentrierte sich wieder auf den
Bericht:
"Hm. Na egal jetzt. Viel wichtiger ist doch, dass sie es nicht geschafft hat,
oder? Also. Wer ist diese Ebony und warum könnte sie das gemacht
haben? Und ... woher hast Du das hier?"