Angeregt vom Thema der "Überbevölkerung" möchte ich heute ein wenig rund um die Exponentialfunktion schreiben. Woher kommt Sie, welche Eigenschaften trägt sie?
Herkunft
Die Exponentialfunktion ist direkt mit dem exponentiellen Wachstum (und Zerfall, mehr dazu später) verbunden. Sie zeichnet dabei aus, dass Sie umso stärker wächst, je mehr bereits da ist. Mit ihr sind sozusagen alle Dinge verbunden, die sich von selbst vermehren. Typische Beispiele sind entsprechend die Zinseszinsrechnung oder Populationen. Sehen wir uns kurz ein Beispiel an:
Kurt bringt €1.000 auf die Bank. Sie gewährt im pro Jahr 2% Zinsen auf sein Guthaben. Dann gestaltet sich sein Guthaben G(t) wie folgt:
Jahr 0: G(0) = €1.000
Jahr 1: G(1) = €1.020 =€1.000 * 1,02
Jahr 2: G(2) = €1.040,4 = €1.000 * 1,02²
Jahr 3: G(3) = €1.061,208 = €1.000 * 1,03³
usw.
Das Interessante dabei: Auf die Zinsen von Vorjahr werden ebenfalls Zinsen gewährt. Das sieht zunächst nicht nach viel aus. Aber es ist ein sehr starker Effekt. Dazu sollten wir aber erst ein wenig die Exponentialfunktion studieren.
Eigenschaften
Für mich als Mathematiker ist die Exponentialfunktion eine sehr schöne Funktion. Einige der Gründe dafür möchte ich mit euch teilen. Zunächst einmal ist Sie eine Elementarfunktion und einer der einfachsten Bausteine der Mathematik. Wir können mit ihr so ziemlich alles anstellen. Entsprechend bin ich etwas verwundert, dass die meisten im Mathematikunterricht die Exponentialfunktion nicht besonders gerne sehen. Dazu später mehr. Sehen wir uns zunächst kurz ihr Schaubild an:
Sie ist ziemlich leicht zu zeichnen. Links ganz flach, rechts geht's zackig nach oben. Im grünen Bereich passiert nicht viel. Auf der rechten Seite geht's sehr zügig nach oben. Je weiter wir nach links gehen, umso mehr schmiegt sich die Exponentialfunktion an die y-Achse an, der Funktionswert geht beliebig nahe an 0, erreicht sie jedoch nie. Das ist eine wichtige Eigenschaft, die uns gleich helfen wird. Abgeleitet ergibt die Exponentialfunktion wieder sich selbst. Das heißt auch direkt, dass die Exponentialfunktion keine Extremstellen oder Wendestellen hat. Denn dafür müsste die erste bzw. zweite Ableitung gleich Null sein. Das heißt e^x=0. Das passiert aber nie. Entsprechend bleibt auch ihre Krümmung immer gleich. Ziemlich eintönig, oder?
Die Macht der Exponentialfunktion
Hier kommt einer der meist unterschätzten Teile der Exponentialfunktion. Die meisten Menschen haben keine Vorstellung davon, wie rasant die Exponentialfunktion wachsen kann und tut. Alles was ihr dafür geben müssen, ist Zeit. Sehen wir uns wieder das Beispiel von Kurt an, der Geld auf die Bank trägt, und was mit seinem Geld über 20 Jahre passiert:
Das sieht recht ok aus. Nach 20 Jahren sind knapp €1.500 zusammen gekommen. Durchschnittlich pro Jahr €25 Zinsen klingt gut. Aber was passiert, sobald wir einen längeren Zeithorizont wählen? Etwa 100 Jahre? Das hier:
Ich habe den Ausschnitt, den wir uns zuvor angesehen haben, rot eingezeichnet. Wir sehen nun den unbändigen Wachstumswillen der Expontentialfunktion. 100 Jahre reichen aus, um aus €1.000 über €7.000 zu machen, das entspricht €62,50 pro Jahr und liegt eine ganz schöne Güteklasse über dem vorherigen Beispiel. Wir können auch etwas anderes interessantes sehen: Grob alle 35 Jahre verdoppelt sich unser Kapital: Bei 0 sind wir bei 1.000, bei 35 bei 2.000, bei 70 bei 4.000, bei 105 werden wir bei 8.000 sein. Binnen einer Lebensspanne von 70 Jahren, haben wir also eine Vierfachung. Und das bei doch eigentlich harmlosen 2% pro Jahr? Für noch längere Zeithorizonte wird das nur noch krasser und noch krasser. Die vorherigen Schaubilder wieder rot und grün schraffiert:
Nach 210 Jahren sind wir bei €64.000 und einer 64-fachung des Anfangskapitals. Pro Jahr sind durchschnittlich €525 dazu gekommen. Das ist die bezeichnende Eigenschaft der Exponentialfunktion: Gibt ihr genug Zeit, und sie sprengt alle Ketten und wächst schneller als jede andere Funktion der Mathematik. Wenn ich etwa ein Polynom (in der Schule ganzrationale Funktion genannt) ableite, erhalte ich ein neues Polynom, das vom Grad eins kleiner ist. Leite ich lange genug ab, erhalte ich irgendwann ein Polynom vom Grad 0: Auch eine Konstante genannt. Die nochmal abgeleitet ist Null. Erinnern wir uns, dass die Ableitung die Änderungsrate angibt, hat also irgendwann bei einem Polynom das "Wachstum des Wachstums des Wachstums ..." ein Ende weil die "Ableitung der Ableitung der Ableitung ..." verschwindet. Bei der e-Funktion ist das nicht der Fall. Wir können Sie so oft ableiten wie wir wollen: Die Ableitung ist immer e^x. Sie verschwindet niemals.
Warum ist das ein Problem?
Unser Wirtschafts- und Geldsystem ist rund um die Exponentialfunktion gebaut. Und während das für kleinere Zeithorizone bis 20, vielleicht auch mal 40 Jahre brauchbar ist, entwickeln sich bei längeren Zeitspannen zunehmend obiger Effekt. Zeitgleich wird die Reaktionszeit immer kleiner. Während wir bei unserem obigen Beispiel noch am Anfang 35 Jahre benötigten, um zusätzliche €1.000 zu scheffeln, geht dies gegen Ende der 200-Jahre Spanne bereits in weniger als einem Jahr.
Warum eigentlich die eulersche Zahl e?
Was ist so besonders an der? Nun, e ist eine der "heiligen" Zahlen der Mathematik. Mathematiker sind eher selten gläubig, deshalb nennen wir diese Zahlen stattdessen
transzendent. Man stösst auf e, wenn man folgende Idee verfolgt:
Anstatt bis zum Jahresende abzuwarten, geht man in der Mitte des Jahres zur Bank, und sagt: "Kohle her, berechnet mir anteilig die Zinsen!" Man kriegt dann €1.010. Anschließend legt man das Geld direkt wieder an. Interessanterweise, erhält man dadurch am Ende des Jahres mehr als die €1.020, die man sonst bekommen würde, nämlich €1.020,20 Warum? Weil die bereits gutgeschriebenen Zinsen nun für das zweite Halbjahr selbst verzinst werden. Man kann das Spielchen so weit treiben, dass man alle 3 Monate, alle 2 Monate, oder sogar jeden Tag die Zinsen gutschreiben lässt. Und tatsächlich erhält man dadurch mehr. Allerdings lässt sich dies nicht beliebig in die Höhe treiben, es gibt eine natürliche Grenze: Und die heißt die eulersche Zahl e.
Hier könnt ihr ein wenig mehr dazu lesen, und auch die klassische Definition von e finden.
Die eulersche Zahl ist auch insofern bedeutend, dass man jede Exponentialfunktion, egal zu welcher Basis, zur Basis e schreiben kann:
Mathematiker freut sowas immer sehr. Denn es heißt: "Sobald du verstehst, wie e^x tickt, verstehst du alles der Bauart a^x!"