Kapitel 27
Wo bist du?
Es dauerte noch eine weitere Woche, bis Tessa tatsächlich stark und gesund genug war, um an den Bahnhof zu fahren. Sie hatte schon früher gehen wollen, doch die Nachwirkungen des starken Fiebers hatten sie mehr geschwächt als sie anfangs wahrhaben wollte.
Nach weiteren sieben elend langen und ungewissen Tagen hielt sie jedoch nichts mehr zu Hause. Inzwischen war sie wieder gesund genug, um sich alleine zu versorgen. Ihre Mutter rief sie nur noch einmal täglich an und fragte sie, ob sie etwas brauche. Gelegentlich kam sie vorbei und brachte ihr etwas zu essen, aber im Großen und Ganzen hatte auch sie wieder in ihren Alltag gefunden.
Tessa war noch eine Woche krankgeschrieben, aber selbst der Arzt hatte ihr inzwischen zu kleinen Spaziergängen geraten.
Mit bangem Herzen betrat sie also nach mehr als drei Wochen das Bahnhofsgebäude und blickte sich suchend nach Jess um.
Doch sie konnte ihn nirgends finden. Geduldig setzte sie sich darum auf eine Parkbank und wartete. Ihr Blick schweifte suchend durch die Menge. Doch nirgends tauchte ein vertrautes Gesicht auf – sein vertrautes Gesicht, das sie inzwischen schmerzlich vermisste. Erst jetzt, da sie so lange von Jess getrennt gewesen war, realisierte sie, wie sehr sie diesen inzwischen liebte und brauchte.
Je länger sie dort saß und wartete, desto unruhiger wurde sie. Normalerweise hielt Jess sich gerade an diesen kalten Wintertagen täglich mehrere Stunden hier auf. Es war seltsam, dass er nicht auftauchte… es war beunruhigend.
Erneut erhob Tessa sich und ging eine Runde durch das komplette Gebäude… er war nirgends zu finden. Für einen Moment sah sie sich versucht, ins Männerklo zu gehen und dort nachzuschauen… aber an normalen Geschäftstagen hätte Jess sich niemals dort aufgehalten, um sich zu spritzen… viel zu groß war das Risiko, erwischt zu werden.
Nach mehreren Stunden erfolglosen Wartens musste Tessa erkennen, dass es Abend geworden war und Jess wohl nicht mehr erscheine würde. Überdieshinaus war ihr kalt und sie fühlte sich so erschöpft, als sei sie einen Marathon gelaufen.
Müde und besorgt machte sie sich darum auf den Weg nach Hause.
Auch am nächsten Tag kam Tessa wieder zum Bahnhof. Erneut lief sie ziellos durch die Halle, die Augen hochkonzentriert auf die Gesichter in der Menge gerichtet, in der Hoffnung, Jess zu finden.
Doch erneut sah sie nur fremde Gesichter um sich herum.
Allmählich wurde ihre bange Sorge zur echten Panik. Immer und immer wieder gingen ihr die Worte durch den Kopf, die sie sich bei ihrem letzten Treffen gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Die Sehnsucht, Jess zu sehen, mit ihm zu sprechen und ihm zu erklären, dass sie alles nicht so gemeint hatte, war inzwischen zu einem ununterbrochen gegenwärtigen schmerzlichen Gefühl geworden, das sich fest in ihrem Herzen manifestiert zu haben schien.
Am dritten Tag ging Tessa nicht nur im Bahnhof auf und ab, sie suchte auch all die Plätze auf, die sie gemeinsam mit Jess besucht hatte und von denen sie wusste, dass er sich dort manchmal aufhielt.
Als sie vor dem kleinen Park stehenblieb, in dem sie sich vor drei Monaten zum ersten Mal geküsst hatten, spürte sie einen dicken Kloß im Hals.
„Jess…wo bist du nur?“ flüsterte sie leise, doch eine Antwort bekam sie nicht.
Erneut durchwanderte sie die Bahnhofshalle – von vorne nach hinten und wieder zurück. Unzählige Male. Ihre Unruhe hatte sich inzwischen ins Unermessliche gesteigert. Sie hatte es noch nie erlebt, dass Jess mehrere Tage nicht hier anzutreffen war. Wo konnte er nur sein?
Selbst in der Drogenberatungsstelle hatte sie kurz vorbeigeschaut – sie war vorher noch nie dort gewesen – doch auch dort hatte ihn offenbar niemand gesehen.
Die Gedanken in Tessas Kopf überschlugen sich immer und immer wieder. Was, wenn Jess ihren Wort Glauben geschenkt hatte? Was, wenn er wirklich dachte, sie haben ihn verlassen? Was, wenn er sich etwas angetan hatte… ob bewusst oder unbewusst?
Wie sollte sie sich nur verzeihen, wenn ihm ausgerechnet in diesen drei Wochen etwas zugestoßen war? Wie damit leben? Damit leben, dass ihre letzten Worte zu ihm derart hart und ungerecht gewesen… und auch die seinen zu ihr?
Verzweifelt rieb Tessa sich die klammen Händen. Es war bitterkalt geworden. Er konnte sich bei diesen Temperaturen nicht lange außerhalb öffentlicher Gebäude aufhalten. Aber wo war er?
Wo?
Noch weitere drei Tage setzte Tessa ihre Suche erfolglos fort. Inzwischen war fast ein Monat vergangen, seit sie Jess zum letzten Mal gesehen hatte. Der Januar neigte sich bereits wieder dem Ende zu. Inzwischen war Tessa völlig verzweifelt. Die bange Angst, ihm könne etwas zugestoßen sein, wuchs sich von Tag zu Tag zu einer erschreckenden Gewissheit aus.
Dennoch gab sie die Suche nach ihm nicht auf. Sie verharrte Stunden um Stunden in der Bahnhofshalle, in der Hoffnung, ihn irgendwann irgendwo auftauchen zu sehen.
Doch er kam nicht … er blieb verschwunden.
Wie ein Häufchen Elend saß Tessa auf der Bank und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Wieso war sie nur nicht früher an den Bahnhof gefahren, hatte ihre Schwäche und das Fieber ignoriert?
Vielleicht wäre es dann nicht zu spät gewesen, vielleicht hätte sie Jess gefunden und ihm alles erklären können… doch nun war er fort, verschwunden… und sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen oder zu finden. Sie wusste nicht, wo er war, was er machte… sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte… Was, wenn er … wenn er tot war?
Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal in den Sinn, doch in diesem Moment gewann dieses eine Wörtchen eine derartige Schwere und Bewusstheit, dass es Tessa den Hals zuschnürte und sie nicht mehr gegen die Tränen ankam, die ihr in die Augen gestiegen waren. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen und wischte sich unwirsch über die Augen. Sie wollte nicht mitten in der Bahnhofshalle vor allen Menschen zu weinen anfangen.
„Tessa?“ Die helle Stimme ließ Tessa erschrocken aufblicken. Ihre Augen fanden den Blick von zwei traurig blickenden, aber sehr sanft wirkenden braunen Augen, die aus einem erstaunlich blassen Gesicht herausstrahlten.
„Ist etwas mit dir? Geht es dir nicht gut?“ fragte die sanfte Stimme weiter.
„Jasmin!“ rief Tessa aus und sah die junge Frau erfreut an. „Ich bin so froh, dich zu sehen!“
Jasmin setzte sich neben Tessa auf die Bank und sah sie aufmerksam an. „Was ist los mit dir? Du siehst mitgenommen aus“, stellte sie fest und musterte Tessa eindringlich.
„Ich war krank…“, erwiderte Tessa schnell und stammelte dann: „Jasmin… weißt du… weißt du… wo Jess ist? Ich… ich suche ihn seit Tagen. Und ich kann ihn einfach nicht finden…“
Jasmin sah sie einen Moment erstaunt an und fragte dann: „Hattet ihr Streit?“
Beklommen sah Tessa zu Boden und nickte dann schwer.
„Ja… furchtbaren Streit… schon vor fast vier Wochen. Und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen, Jasmin…“
Schnell sah sie wieder auf. „Ich war krank… ich konnte nicht kommen… es tut mir so leid, verstehst du. Aber ich finde ihn nicht… Jasmin… weißt du etwas…? Weißt du, wo Jess ist?“
Jasmin schluckte und wich Tessas Blick aus.
Diese spürte, wie sie eine eisige Angst ergriff. Sie brauchte einen Moment, um ihre Stimme in den Griff zu bekommen, dann wiederholte sie ihre Frage. „Jasmin…wo… ist… Jess?“
Jasmins traurige Augen blickten sie lange an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf, senkte den Blick und starrte zu Boden.....
Fortsetzung folgt!
Wo bist du?
Es dauerte noch eine weitere Woche, bis Tessa tatsächlich stark und gesund genug war, um an den Bahnhof zu fahren. Sie hatte schon früher gehen wollen, doch die Nachwirkungen des starken Fiebers hatten sie mehr geschwächt als sie anfangs wahrhaben wollte.
Nach weiteren sieben elend langen und ungewissen Tagen hielt sie jedoch nichts mehr zu Hause. Inzwischen war sie wieder gesund genug, um sich alleine zu versorgen. Ihre Mutter rief sie nur noch einmal täglich an und fragte sie, ob sie etwas brauche. Gelegentlich kam sie vorbei und brachte ihr etwas zu essen, aber im Großen und Ganzen hatte auch sie wieder in ihren Alltag gefunden.
Tessa war noch eine Woche krankgeschrieben, aber selbst der Arzt hatte ihr inzwischen zu kleinen Spaziergängen geraten.
Mit bangem Herzen betrat sie also nach mehr als drei Wochen das Bahnhofsgebäude und blickte sich suchend nach Jess um.

Doch sie konnte ihn nirgends finden. Geduldig setzte sie sich darum auf eine Parkbank und wartete. Ihr Blick schweifte suchend durch die Menge. Doch nirgends tauchte ein vertrautes Gesicht auf – sein vertrautes Gesicht, das sie inzwischen schmerzlich vermisste. Erst jetzt, da sie so lange von Jess getrennt gewesen war, realisierte sie, wie sehr sie diesen inzwischen liebte und brauchte.
Je länger sie dort saß und wartete, desto unruhiger wurde sie. Normalerweise hielt Jess sich gerade an diesen kalten Wintertagen täglich mehrere Stunden hier auf. Es war seltsam, dass er nicht auftauchte… es war beunruhigend.

Erneut erhob Tessa sich und ging eine Runde durch das komplette Gebäude… er war nirgends zu finden. Für einen Moment sah sie sich versucht, ins Männerklo zu gehen und dort nachzuschauen… aber an normalen Geschäftstagen hätte Jess sich niemals dort aufgehalten, um sich zu spritzen… viel zu groß war das Risiko, erwischt zu werden.
Nach mehreren Stunden erfolglosen Wartens musste Tessa erkennen, dass es Abend geworden war und Jess wohl nicht mehr erscheine würde. Überdieshinaus war ihr kalt und sie fühlte sich so erschöpft, als sei sie einen Marathon gelaufen.
Müde und besorgt machte sie sich darum auf den Weg nach Hause.
Auch am nächsten Tag kam Tessa wieder zum Bahnhof. Erneut lief sie ziellos durch die Halle, die Augen hochkonzentriert auf die Gesichter in der Menge gerichtet, in der Hoffnung, Jess zu finden.
Doch erneut sah sie nur fremde Gesichter um sich herum.
Allmählich wurde ihre bange Sorge zur echten Panik. Immer und immer wieder gingen ihr die Worte durch den Kopf, die sie sich bei ihrem letzten Treffen gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Die Sehnsucht, Jess zu sehen, mit ihm zu sprechen und ihm zu erklären, dass sie alles nicht so gemeint hatte, war inzwischen zu einem ununterbrochen gegenwärtigen schmerzlichen Gefühl geworden, das sich fest in ihrem Herzen manifestiert zu haben schien.
Am dritten Tag ging Tessa nicht nur im Bahnhof auf und ab, sie suchte auch all die Plätze auf, die sie gemeinsam mit Jess besucht hatte und von denen sie wusste, dass er sich dort manchmal aufhielt.
Als sie vor dem kleinen Park stehenblieb, in dem sie sich vor drei Monaten zum ersten Mal geküsst hatten, spürte sie einen dicken Kloß im Hals.
„Jess…wo bist du nur?“ flüsterte sie leise, doch eine Antwort bekam sie nicht.

Erneut durchwanderte sie die Bahnhofshalle – von vorne nach hinten und wieder zurück. Unzählige Male. Ihre Unruhe hatte sich inzwischen ins Unermessliche gesteigert. Sie hatte es noch nie erlebt, dass Jess mehrere Tage nicht hier anzutreffen war. Wo konnte er nur sein?
Selbst in der Drogenberatungsstelle hatte sie kurz vorbeigeschaut – sie war vorher noch nie dort gewesen – doch auch dort hatte ihn offenbar niemand gesehen.
Die Gedanken in Tessas Kopf überschlugen sich immer und immer wieder. Was, wenn Jess ihren Wort Glauben geschenkt hatte? Was, wenn er wirklich dachte, sie haben ihn verlassen? Was, wenn er sich etwas angetan hatte… ob bewusst oder unbewusst?
Wie sollte sie sich nur verzeihen, wenn ihm ausgerechnet in diesen drei Wochen etwas zugestoßen war? Wie damit leben? Damit leben, dass ihre letzten Worte zu ihm derart hart und ungerecht gewesen… und auch die seinen zu ihr?
Verzweifelt rieb Tessa sich die klammen Händen. Es war bitterkalt geworden. Er konnte sich bei diesen Temperaturen nicht lange außerhalb öffentlicher Gebäude aufhalten. Aber wo war er?
Wo?

Noch weitere drei Tage setzte Tessa ihre Suche erfolglos fort. Inzwischen war fast ein Monat vergangen, seit sie Jess zum letzten Mal gesehen hatte. Der Januar neigte sich bereits wieder dem Ende zu. Inzwischen war Tessa völlig verzweifelt. Die bange Angst, ihm könne etwas zugestoßen sein, wuchs sich von Tag zu Tag zu einer erschreckenden Gewissheit aus.
Dennoch gab sie die Suche nach ihm nicht auf. Sie verharrte Stunden um Stunden in der Bahnhofshalle, in der Hoffnung, ihn irgendwann irgendwo auftauchen zu sehen.
Doch er kam nicht … er blieb verschwunden.
Wie ein Häufchen Elend saß Tessa auf der Bank und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Wieso war sie nur nicht früher an den Bahnhof gefahren, hatte ihre Schwäche und das Fieber ignoriert?

Vielleicht wäre es dann nicht zu spät gewesen, vielleicht hätte sie Jess gefunden und ihm alles erklären können… doch nun war er fort, verschwunden… und sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen oder zu finden. Sie wusste nicht, wo er war, was er machte… sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte… Was, wenn er … wenn er tot war?
Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal in den Sinn, doch in diesem Moment gewann dieses eine Wörtchen eine derartige Schwere und Bewusstheit, dass es Tessa den Hals zuschnürte und sie nicht mehr gegen die Tränen ankam, die ihr in die Augen gestiegen waren. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen und wischte sich unwirsch über die Augen. Sie wollte nicht mitten in der Bahnhofshalle vor allen Menschen zu weinen anfangen.

„Tessa?“ Die helle Stimme ließ Tessa erschrocken aufblicken. Ihre Augen fanden den Blick von zwei traurig blickenden, aber sehr sanft wirkenden braunen Augen, die aus einem erstaunlich blassen Gesicht herausstrahlten.
„Ist etwas mit dir? Geht es dir nicht gut?“ fragte die sanfte Stimme weiter.

„Jasmin!“ rief Tessa aus und sah die junge Frau erfreut an. „Ich bin so froh, dich zu sehen!“
Jasmin setzte sich neben Tessa auf die Bank und sah sie aufmerksam an. „Was ist los mit dir? Du siehst mitgenommen aus“, stellte sie fest und musterte Tessa eindringlich.
„Ich war krank…“, erwiderte Tessa schnell und stammelte dann: „Jasmin… weißt du… weißt du… wo Jess ist? Ich… ich suche ihn seit Tagen. Und ich kann ihn einfach nicht finden…“
Jasmin sah sie einen Moment erstaunt an und fragte dann: „Hattet ihr Streit?“
Beklommen sah Tessa zu Boden und nickte dann schwer.
„Ja… furchtbaren Streit… schon vor fast vier Wochen. Und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen, Jasmin…“

Schnell sah sie wieder auf. „Ich war krank… ich konnte nicht kommen… es tut mir so leid, verstehst du. Aber ich finde ihn nicht… Jasmin… weißt du etwas…? Weißt du, wo Jess ist?“
Jasmin schluckte und wich Tessas Blick aus.
Diese spürte, wie sie eine eisige Angst ergriff. Sie brauchte einen Moment, um ihre Stimme in den Griff zu bekommen, dann wiederholte sie ihre Frage. „Jasmin…wo… ist… Jess?“
Jasmins traurige Augen blickten sie lange an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf, senkte den Blick und starrte zu Boden.....
Fortsetzung folgt!