Es klingelte schon zum zweiten Mal. „Ich komme ja schon!“
Sie wickelte sich ein Handtuch um die Haare und eins um den Körper, stieg aus der Dusche und ging, nasse Tapsen auf den Dielen hinterlassend, zur Tür. Sie war mit Mel verabredet und erwartete, sie zu sehen, obwohl sie eigentlich erst in zwei Stunden hier sein wollte. Manchmal brachte Mel ein bisschen was durcheinander, oder ihre Uhr ging mal wieder falsch, oder sie hatte beschlossen, dass sie aus irgendwelchen Gründen unbedingt jetzt schon hier auftauchen musste. Im Privatleben war Mel eine hoffnungslose Chaotin.
Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, vor gut einer Woche zum Lunch, nach dem denkwürdigen Termin mit diesem ominösen Mr. Warden, hatte sie nur gearbeitet. Mel hatte darauf bestanden, sie heute abend in einen dieser Clubs zu schleifen, die Penny hasste, während Mel es genoss, hemmungslos abzutanzen und den dort herumlungernden Männern den Kopf zu verdrehen, sich Drinks spendieren zu lassen, um sich dann irgendwann klammheimlich aus dem Staub zu machen. Da Penny die ganze Woche keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte, außer um zur Agentur zu fahren, hatte sie auch keine Ausrede, sich vor dieser Zeremonie zu drücken. Allerdings wollte sie sich diesmal schon früh wieder verabschieden.
Sie hatte immer noch jede Nacht diesen Traum, und noch immer konnte sie sich nach dem Aufwachen nicht daran erinnern. Trotzdem ließ er sie den ganzen Tag nicht los, und mittlerweile schlief sie auch schlecht. Immer wieder überkam sie das Gefühl, dass gleich, in diesem Moment, die Erinnerung zurückkommen würde und dass das sehr wichtig war - aber nie passierte es wirklich. Sie war unkonzentriert und fahrig und hatte mittlerweile ein ziemlich erhebliches Schlafdefizit, was sie sich zur Zeit so gar nicht leisten konnte. Der Auftrag war viel zu wichtig.
Sich das nasse Haar rubbelnd öffnete sie die Tür, gerade als die Klingel zum drittenmal schrillte. Doch nicht Mel stand draußen, wie sie erwartet hatte. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Am liebsten hätte sie die Tür wieder zugeknallt, aber das war ihr dann auch zu peinlich.
„Mr. Warden... Erec. Was tun Sie denn hier? Ich...“ Sie versuchte, das Handtuch etwas höher zu ziehen, was ihr aber nicht wirklich gelang - es war einfach zu kurz. „Ich habe meine Freundin erwartet, normalerweise öffne ich nicht in diesem Aufzug die Tür.“
Erec Warden grinste schelmisch und zeigte dabei eine Menge blitzender Zähne. „Na, dann sollte ich mich wohl bei Ihrer Freundin bei Gelegenheit erkenntlich zeigen. Das ist für mich heute der mit Abstand erfreulichste Anblick. Darf ich reinkommen?“
Sie wusste nicht, ob sie wegen seiner Dreistigkeit aufbrausen oder sich geschmeichelt fühlen sollte. Bei jedem anderen hätte sie diese Bemerkung sicher anzüglich gefunden, aber dieser Mann hatte etwas an sich, das sie völlig entwaffnete. Resignierend machte sie eine einladende Handbewegung.
„Bitte. Und entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich möchte mir etwas anziehen.“ Beim Anblick des enttäuschten Gesichts, das er daraufhin zog, musste sie unwillkürlich grinsen.
„Auch wenn Sie das des erfreulichen Anblicks beraubt - ich würde mich bedeutend wohler fühlen.“ Sie mussten beide lachen, was ihr Unbehagen endgültig vertrieb. Sie verschwand im Nebenzimmer, während er zum Fenster ging und auf die Straße blickte.
„Einen netten Ausblick haben Sie hier.“
„Finden Sie? Es ist ein Apartment wie hundert andere auch, nichts Besonderes. Etwas Besonderes übersteigt bei weitem meine Verhältnisse.“
„Nun, Sie sehen einen Baum, wenn Sie aus dem Fenster schauen. Das ist doch etwas Besonderes in dieser Gegend, oder etwa nicht?“
Sie zögerte kurz, bevor sie antwortete. „Ja, da haben Sie wohl recht. Das ist jedenfalls der Grund, warum ich es gemietet habe, und anfangs fand ich das auch noch wirklich schön. Aber mit der Zeit wird der Anblick zur Gewohnheit und andere Dinge werden wichtiger. Defekte Rohrleitungen zum Beispiel. Ich habe lange nicht mehr darüber nachgedacht.“
Sie zog den Reißverschluss ihres Kleides hoch und betrat das Wohnzimmer. Er stand noch immer am Fenster und sah hinaus.
„Aber abgesehen von dem Baum vor meinem Fenster, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
Er drehte sich zu ihr um und sie meinte, ein kurzes Aufleuchten in seinen Augen zu sehen. Sie hoffte, dass es etwas damit zu tun hatte, dass ihm der Anblick, der sich ihm jetzt bot, nicht wesentlich schlechter gefiel. Das Kleid verhüllte jedenfalls auch nicht viel mehr als das Handtuch.
Sie war überrascht über sich selbst, sie versuchte ganz offensichtlich, ihm zu gefallen. Eigentlich war das so gar nicht ihre Art, normalerweise hätte sie sich nach so einer Situation wohl einen dicken, weiten Pullover und ihre ältesten Jeans angezogen. Aber irgendwie hatte sie das albern gefunden. Er hatte sie doch nun sowieso schon halbnackt gesehen, wozu sollte sie sich noch verstecken? Und wenn sie ehrlich war, gefiel es ihr, wie er sie ansah. Auch wenn sie lieber nicht allzu genau darüber nachdachte, was das bedeutete. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart einfach gut, und das war im Moment alles, was sie wissen wollte.
„Können wir auf die Förmlichkeiten nicht verzichten? Wir werden in der nächsten Zeit noch viel miteinander zu tun haben, jedenfalls hoffe ich das, und da wäre es mir lieber, wir würden gleich zum Vornamen übergehen. Das ist dir doch nicht unangenehm, oder?“
„Nein - Erec.“ Sie lauschte seinem Namen nach. Er klang irgendwie gut. Und er hatte recht, in ihrer Branche war das nicht unüblich, spätestens in ein paar Wochen wäre man ohnehin zum Du übergegangen. „Möchtest du etwas trinken?“
„Nein, ich will dir keine Umstände machen. Ich will dich auch nicht lange aufhalten, allerdings war es mir in dieser Woche auch nicht möglich, dich außerhalb der Agentur zu erwischen. Arbeitest du eigentlich immer so viel?“
Sie verzog das Gesicht. „Nein, ganz so viel nicht, das liegt an deinem Auftrag. Mike hat den Ausnahmezustand ausgerufen.“ Sie grinste schief. „Aber es ist schon wahr, ich arbeite zuviel.“
Er sah sie ernst an, der Ausdruck in seinem Gesicht war undeutbar. „Das habe ich mir gedacht, du bist der Typ dafür. Und? Bezahlen sie dich dafür wenigstens anständig?“
Sie ging an ihm vorbei zum Fenster. Die Frage war ihr unangenehm, obwohl ja eigentlich nicht sie es war, die sich schämen sollte. „Nein, was glaubst du denn? Niemand wird heute noch anständig bezahlt, oder? Jedenfalls nicht für‘s Arbeiten. Aber das habe ich nicht gesagt, wenn Mike erfährt, dass ich darüber geredet hab, fliege ich raus.“
„Nun, das glaube ich zwar nicht, aber wie du willst. Ich habe dich auch nicht in deinem Apartment überfallen, weil ich mit Mike über dich reden wollte. Ich wollte mit dir reden, und nicht in der Agentur. Ich glaube, dass du gut bist.“
Sie wurde schon wieder rot, und sie war froh, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Es war ihr peinlich, ihm Indiskretion unterstellt zu haben, und Komplimente machten sie immer misstrauisch. Die Mischung dieser Gefühle war nicht angenehm. Sie antwortete nicht.
Er wartete einen Moment, aber als sie hartnäckig schwieg, fuhr er fort. „Was ich allerdings nicht glaube ist, dass die Agentur so gut ist, wie sie den Anschein erwecken möchte. Typen wie Mike und Phil sind mir nicht unbekannt, und ich will ehrlich zu dir sein: ich bin nicht scharf darauf, mit Leuten wie ihnen zu arbeiten. Aber ihr habt einen Ruf in der Branche, ich habe eure Arbeiten gesehen, und irgendjemand muss das ja verantworten. Und da Mike freundlicherweise dich zu meiner Ansprechpartnerin gemacht hat, nehme ich an, dass auch er der Meinung ist, dass du sein bestes Pferd im Stall bist.“
„Du nimmst kein Blatt vor den Mund, oder?“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Und auch nicht, worauf er hinauswollte.
Er grinste, aber diesmal erreichte das Lächeln seine Augen nicht und seine Stimme klang plötzlich hart und kühl. „Nein, und ich verschwende auch keine Zeit.“ Er trat dicht hinter sie, was sie schrecklich nervös machte. Die Stimmung hatte sich schlagartig vollkommen verändert, und sie spürte, wie Angst langsam in ihr hochkroch. Sie fragte sich, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatte, einen Mann, den sie gar nicht kannte, in ihr Apartment zu lassen.
„Ich kann dir schon jetzt sagen, dass Urban Chaos nicht als Agentur für mich arbeiten wird. Ich glaube, der Name ist Programm und beschreibt genau das, was Mike und Phil da tun. Sie wollen cool sein - Urban Enterprises ist cool. Und ich habe nicht die Absicht, einen nicht unerheblichen Werbeetat von eitlen Spinnern ausgeben zu lassen, die von Streetware nicht das Geringste verstehen, aber sicher nicht ihre kostbare Zeit damit verschwenden werden, ihre Zielgruppe kennenzulernen. Sie glauben, es reicht, wenn sie mich kennen - was sie im Übrigen nicht tun. Du wirst sicher alles tun, um das Beste draus zu machen, aber das wird nicht das Optimum sein. Nicht mit diesen Wichtigtuern im Nacken. Und ich bin glücklicherweise in der Position, meine Zeit nicht mit solchen Leuten verschwenden zu müssen.“
Sie schluckte und straffte die Schultern. Für die Agentur war das ein herber Schlag, Mike und Phil hatten mit dem Auftrag gerechnet. Und sie alle würden das ausbaden, in den nächsten Wochen würden die beiden eine Stimmung verbreiten, die jeden Tag in der Firma zur Hölle machen würde. Und in diesem Falle würde sie ganz sicher Spießruten laufen. Sie würden ihr bei jeder Gelegenheit das Gefühl vermitteln, ganz allein für diese Katastrophe verantwortlich zu sein.
Penny hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Es war kalt geworden, die Wärme, die er eben noch ausgestrahlt hatte, war einer eisigen Kälte gewichen. Zumindest kam ihr das so vor. Die Bedeutung seiner Worte hatte ihren Magen in einen steinharten Ball verwandelt, der sich ganz langsam in ihrem Inneren in Bewegung setzte und alles, was er berührte, zu Eis gefrieren ließ.
„Und du kommst extra hierher, um mir das zu sagen?“
„Nein. Ich bin hier, weil ich dir einen Job anbieten will.“
Sie drehte sich langsam um, vollkommen überrascht. „Warum?“
Seine Antwort kam ohne zu zögern. „Weil du mir gefällst. Weil ich dich, wie ich schon sagte, für gut halte. Und weil ich es mir leisten kann, Leuten, die sich offensichtlich unter Wert verkaufen, ein wenig unter die Arme zu greifen. Besonders wenn die Arme so hübsch sind.“
Plötzlich hatte er wieder diesen lockeren, ein wenig frivolen Ton, der sicher aufdringlich gewirkt hätte, wenn er das nicht scheinbar ohne jeden Hintergedanken sagen würde. Er sprach einfach aus, was er dachte. Vielleicht war es das, was sie so anzog. Sie hatte nicht das Gefühl, dass er versuchte, ihr etwas vorzumachen oder sie irgendwie bedrängte.
„Und ich habe den Vorteil, dass ich eine Menge guter Leute habe, die sich mir verpflichtet fühlen. Ich behandle sie fair, und dafür stehen sie loyal zu Urban Enterprises.“
„Das klingt... irgendwie logisch. Und wie hast du dir das vorgestellt? Habt ihr denn eine Werbeabteilung?“
Er grinste schon wieder und wandte sich zum Gehen. „Noch nicht. Überschlaf mein Angebot, die Details werden sich schon finden. Du weißt ja, um was es geht, und ich bin sicher, dass du genausogut wie ich eine Agentur finden kannst, die ihren Job versteht und den Etat von Urban Enterprises nicht zum Fenster rauswirft. Ich habe einfach keine Lust, mich mit inkompetenten Leuten abzugeben. Und dein Know-how kannst du doch auf beiden Seiten des Tisches einsetzen. Beim nächsten Agenturgespräch vertrittst du eben den Kunden.“
Er war schon zur Tür hinaus, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Hier ist meine Karte. Ruf mich Montag an und sag mir, wie du dich entschieden hast.“
„Montag schon? Warum...“ Penny konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Und vermutlich hatte sie viel erschrockener geklungen, als sie sich fühlte, sie war nur vollkommen verwirrt.
„Ja, Montag. Das ist keine Entscheidung, die du wochenlang abwägen musst. Es ist nur eine Frage, ob du mir vertrauen kannst, dass ich es ernst meine und dir ein seriöses Angebot gemacht habe. Darüber kannst du dir bis Montag im Klaren sein.“
Sie stand im Türrahmen und wusste nicht, was sie von alldem halten sollte.
„Und schlaf dich mal richtig aus. Du siehst verdammt müde aus.“
Sein letzter Satz raubte ihr endgültig die Fassung. Sie verschwand in ihrer Wohnung, ließ die Tür ins Schloss fallen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.
„Erec Warden“, flüsterte sie leise, an niemand Bestimmten gerichtet. „Was um alles in der Welt soll das werden?“
Nice weekend!